23 Dezember, 2022

Neue Töne

Filmmusik, die direkt von der Handlung motiviert ist – deren Quelle also im Bildraum zu verorten ist – nennt man (wie die Leser dieses Blogs sicherlich wissen) „diegetisch”. Wenn Peter Lorre in M die Peer-Gynt-Suite Nr. 1 von Edvard Grieg pfeift zum Beispiel oder das Autoradio in WILD AT HEART „Slaughterhouse” von Powermad spielt, sind das diegetische Musikeinsätze. In der Branche wird dafür meistens das englische Lehnwort „Source-Musik“ verwendet, denn der Klang hat eine Quelle, und auch wenn die Musik eher selten dem (am Set aufgenommenen) „Originalton“ entstammt, legt man es darauf an, dass sie im Zusammenhang glaubwürdig klingt. Die Mischung betont dann etwa den schlechten Standard der Lautsprecher oder den konkurrierenden Straßenlärm, um die „Wirklichkeit“ der Situation zu betonen.

Extra-diegetisch ist das, woran die meisten denken, wenn sie das Wort „Filmmusik“ hören und meint einen Musikeinsatz, der dramaturgisch motiviert, aber nicht direkt mit der Realitätsebene der Handlung verknüpft ist – im Bildraum also keine Quelle zu sehen oder anzunehmen ist. Unter Filmleuten ist das englische „Soundtrack“ oder – wenn speziell für den Film komponiert – „Score” gebräuchlich. Bernhard Hermanns Filmmusik für Hitchcocks PSYCHO kommt mir als überragendes Beispiel sofort in den Sinn („Score“). Oder auch Kubricks Einsatz von Nancy Sinatras „These boots are made for walking” in FULL METAL JACKET („Soundtrack“). So weit, so klar.

Es gibt allerdings auch Filmmusik, die zugleich in der Realität der Figuren hörbar ist oder sein könnte, als auch dramaturgisch-kommentierend funktioniert – vielleicht könnte man sie „ambi-diegetisch“ nennen. Genau genommen ist ein rein diegetischer Einsatz von Filmmusik sogar selten. Sehr häufig beginnt ein Musikeinsatz diegetisch, wandelt sich aber ins „ambi-diegetische”, ohne ganz extra-diegetisch zu werden. Die Musik klingt dann etwa nach einer Weile voller und dominanter als es akustisch glaubwürdig wäre oder macht kleinere Zeitsprünge des Bildschnitts nicht mehr mit. Die Mischung lenkt unsere Wahrnehmung dabei oft so, dass wir uns der Lenkung nicht bewusst sind. 

Dass der Wahl einer Tanz- oder Radiomusik, der die Figuren scheinbar zufällig ausgeliefert sind oder die sie aufsuchen, in aller Regel eine dramaturgische Entscheidung vorausgeht, wird niemanden überraschen. Wie sehr sich ein solcher Musikeinsatz als dokumentarisch oder kommentierend versteht, vermittelt uns die Mischung. In meinem neuen Film BIS ANS ENDE DER NACHT (den wir im November gemischt haben; Mischtonmeister war Hubertus Rath, assistiert von Rainer Heesch, Sound Design: Matz Müller & Rainer Heesch), verhält es sich so, dass die Musik zwar oft diegetisch sein könnte - die Situationen würden das zulassen - wir aber von vorne herein „ambi-diegetisch” damit umgehen. An einer Stelle spielen wir sogar gleichzeitig extra-diegetisch die eine Musik und diegetisch eine andere (die Idee kam Stefan Stabenow in der Montage); die diegetische Musik bleibt präsent, der „Mantel“ der extra-diegetischen Musik deckt sie bewusst nicht ganz zu. Die Gleichzeitigkeit verschiedener emotionaler Zustände kommt der Handlung entgegen. 

Aber es kommt in diesem Film noch ein weiterer Aspekt hinzu: immer wieder gibt es deutschsprachige (Populär-) Musik zu hören, mit Liedtexten, die sich unwillkürlich in die Deutung der Szene einmischen. Hätte man diese Musik in der Mischung als reine Quellenmusik behandelt, hätten die Texte keine so große Rolle spielen können – und wären im Kontext womöglich auch wenig glaubwürdig gewesen.

Ich schreibe das alles nicht, weil es in der Filmgeschichte „unerhört” wäre – sicher nicht – sondern um mir selbst klar zu machen, was wir gemacht haben. Ich hatte mit Musikauswahl und -einsatz (Musik Supervision: Martin Hossbach) jedenfalls großen Spaß, auch weil der „unzuverlässige” Abstand zwischen den großen Gefühlen der Musik und dem Ungenügen der Figuren in der Szene Räume öffnet, dem Film eine zusätzliche Dimension geben. Ich bin gespannt, wie sich das alles für fremde Ohren anhören wird. 

26 November, 2022

Entfachte Aufmerksamkeit

Flohmarkt. Mit mildem Desinteresse scanne ich den Krimskrams, während meine Tochter Modeschmuck kauft. Ich höre dem Gefeilsche am Nachbarstand zu, es geht um einen Stich, der die Akropolis im Zustand des späten 18. Jahrhunderts zeigt. Wie alt er ist, ob er echt ist, wo er herstammt – all das weiß die Verkäuferin nicht. Ich finde die billige Rahmung spricht gegen eine Entdeckung. Aber das Haben-wollen des möglichen Kunden entfacht auch mein Interesse. Einen Moment lang habe ich den Impuls, ihm zuvorzukommen. Ich kann mich letztlich zurückhalten, aber freue mich über die „Ansteckung”. Das ist vielleicht der Unterschied, den ein Publikum für eine Sache macht: Die Aufmerksamkeit vervielfacht sich.

14 November, 2022

(Wieder-) Gesehen: [19]


 IL BUCO (Michelangelo Frammartino, Italien 2021)

Widersteht der Versuchung der Fiktion, das Loch zu füllen: Michelangelo Frammartinos dritter Film nach IL DONO (2003) und LE QUATTRO VOLTE (2010) folgt Höhlenforschern in die Tiefe, ohne zu interpretieren. Sein Thema ist weniger die Rekonstruktion einer historischen Mission (auch wenn der Film die historischen Details ernst nimmt) als die Konstruktion einer Zuschauererfahrung. So entsteht ein „Realismus” des Blicks, zugleich abgewandt und immersiv. Große Empfehlung.


WILD GOOSE LAKE (Diao Yinan, China 2019)

Diao entwirft ein panoramisches Bild in lebendigem Austausch mit Vorläufern und Wirklichkeit, ein China von unten, wie es Fritz Lang hätte interessieren können. Mehr als einmal musste ich an M denken, vor allem in der Art, wie sich hier ein soziologisches Interesse an Zusammenhängen mit genuin visuellen Ideen verbindet. Noch nie hatte ich im Kino so sehr das Gefühl, China erkennen zu können, auch wenn die Handlung in den 90er Jahren spielt und natürlich alles andere als realistisch ist. Großartig.



AFTERSUN (Charlotte Wells, GB 2022)

Wie soll ich es sagen: man wohnt in diesem Film der Präsenz der Figuren bei, atmet ihre Anwesenheit ein und atmet aus. Erstaunlich, was man alles weglassen kann, wenn man weiß, was man sucht. AFTERSUN besteht aus Momenten, Splittern, Augenblicken. Wells konzentriert sich in ihrem Debütfilm ganz minimalistisch auf den Zwischenraum ihrer Figuren, auf kleine und kleinste Marker ihrer Anwesenheit. Das ist sehr schön und sehr traurig; bei aller Leichtigkeit ist immer ein Schatten anwesend. Die Vaterfigur (Paul Mescal) tendiert ins Untröstliche, Verlorene, und auch oder gerade weil die Beweislage für dieses Gefühl brüchig ist, hat es bei mir für viele Tränen gesorgt. Dabei ist die Perspektive der Tochter (Frankie Corio), die den Film bestimmt – ganz klar Stellvertreterfigur der Regisseurin und zugleich mit einer wunderbaren Eigenständigkeit ausgestattet – nicht fokussiert auf Negatives oder einen unglücklichen Ausgang. Aber die Genauigkeit, mit der sie versucht, der verlorenen Zeit habhaft zu werden, impliziert Verlust – und erlaubt uns, dem Tod bei der Arbeit zuzusehen.

P.S.: Ich bin über diese wunderbare Kritik von Sheila O'Malley auf den Film aufmerksam geworden. 



DIE ROTE (Helmut Käutner, BRD 1962)

Die Zutaten sind vielversprechend: Helmut Käutner, ein Jahr nach seinem tollen SCHWARZER KIES. Eine erwachsene, sich verweigernde Heldin, gespielt mit schöner Diskretion von Ruth Leuwerik. Ein zugegeben oft fotografierter, aber gegen den Strich gekämmter Schauplatz: Venedig, außer Saison. Kamera: Otello Martelli (LA DOLCE VITA)! Aber was sehr überzeugend als Abbruch beginnt – gegen die Lügen, gegen das Arrangement mit der deutschen Gegenwart – verläuft sich bald im Poetisch-Allgemeinen. Weder der Film noch die Figur kommen über das „Nein” des Anfangs wirklich hinaus. Anders als, zum Beispiel, Joseph Losey mit EVA im gleichen Jahr in der gleichen Stadt (es gibt noch andere Parallelen), traut sich Käutner nicht, wirklich abzurechnen. Eher sagt er – wortreich, mit Leuweriks Erzählerstimme – man könnte, sollte, müsste. Um dann doch wieder einen Schritt zurück zu machen. Diese „Frauengeschichte” ist zögerlich, wo sie subtil sein möchte. Aus der Bahn gerät der Film aber mit einem grellen Plot-twist. Ich kann mir keinen seltsameren Umweg denken, von NS-Verbrechen zu erzählen: Franziska lernt Patrick (Giorgio Albertazzi) kennen, den homosexuellen Erben einer irischen Brauerei, der ihr erzählt, er sei in der Heimat zum Ausgestossenen geworden, weil er unter deutscher Folter einen Landsmann verraten habe. Nun will er an dem in Venedig weilenden (und von Gert Fröbe verkörperten) Gestapo-Mann Kramer Rache üben. Der hatte ihn nicht persönlich gefoltert, aber als good cop im schmutzigen Geheimdienstspiel zum Verrat überredet. Patrick lockt Franziska an Bord seiner Yacht, um damit wiederum den SS-Mann zu ködern. Auf dem Schiff vergiftet er dann Kramer. Franziska fühlt sich mißbraucht, und wir auch. So ergibt sich die perverse Sensation, dass wir mit Franziska den verlorenen Iren noch unanständiger finden, als den karikaturesk-vulgären deutschen Verbrecher Kramer (der, sehr originell, auch noch Albino ist). Die Emanzipationslinie der Geschichte erholt sich von dieser Verirrung nicht mehr. Am Ende hilft nur die Flucht aus Venedig, aus dem Film. Natürlich, die als Aufklärung getarnte Täter-Opfer-Umkehr hat sich Andersch ausgedacht, nicht Käutner. Aber Käutner hat sich andere Freiheiten genommen gegenüber dem Roman – warum er ihm hier folgt und die deutsche Schuld so umständlich verdreht, bleibt rätselhaft.


ROMANZE IN MOLL (Helmut Käutner, D 1943)

Eine raumgreifende Fahrt stellt die ganze Dekoration vor, ein (in Berlin) gebautes Paris, um 1880: der Platz, die Straße, Laternen, ein Zaun, kärgliche Bäume. Keine sehr schmucke Gegend, und „ohne besondere Merkmale” ist auch der, der da nachhause kommt. Aber noch bevor der Mann seine Wohnung erreicht hat, zeigt uns Käutner im verklärenden Licht, hinter wehenden Vorhängen, eine Frau: Marianne Hoppe. Sie liegt Schneewittchen-haft, tot und doch nicht tot, im Bett. Für den „Zwerg”, ihren Mann, der jetzt die Tür öffnet, macht das wenig Unterschied, er sieht den ganzen Film über von ihr ab, ist immer schon auf ein Tauschverhältnis aus, meint sie nicht, will allenfalls, dass sie für ihn glänzt, wedelt ihr mit den kleinen Scheinen fast ins Gesicht: „Was bekomm ich denn dafür, Schätzchen?” Ein Kleinbürger, dem Paul Dahlke von vorne herein etwas Engstirniges gibt, schon wie er die Kleidung ablegt, und erst recht, wie er nicht bemerkt, was wir schon zu Beginn ahnen: dass sie Gift genommen hat. Ein blinder Mann, der auch später, als man ihn sehend macht, zu keinem Erkennen fähig ist. Ihr Selbstmord ist Auslöser einer Recherche, aber auch wenn uns ihr Mann zum Pfandleiher und von dort zum Juwelier bringt, denn die Perlenkette ist echt!, reicht seine Neugier nicht so weit, um die Handlung zu bestimmen, einmal angestossen übernimmt der Erzähler die Recherche … immer sind es Männer, die den Weg der Frau abzweigen lassen. Der Film hat durchaus Bewusstsein dafür, dass die Wegelagerei der Männer Gewalt ist, der Regisseur bringt das in einem Gastauftritt auf den Punkt, wenn er sich selbst Zeilen in den Mund legt, die Frauen jedes tiefere Empfinden absprechen… und doch bringt Käutner es fertig, die Männerwillkür immer wieder zu beschönigen. Er inszeniert den wohlhabenden Künstler (Ferdinand Marian) als Jäger, und die Jagd nach der schönen Frau als einen Sport, an dem wir Zuschauer Vergnügen finden sollen. (...)

23 Oktober, 2022

Die Nummern der Toten


Dass wir sterben müssen, wissen wir, aber für die meisten von uns bleibt die Gewissheit so lange theoretisch, bis die Einschläge näher kommen und es Angehörige, Freunde oder Gleichaltrige trifft. Vielleicht ist die schleichende Verwandlung des Gartens in einen Friedhof das eigentlich Erschreckende am Älterwerden. Das Adressbuch in meinem Telefon fühlt sich schon jetzt an wie eine Friedhofs-App (gerade sitze ich am Père Lachaise, da gibt es so etwas). Ich übertreibe, aber wenn ich beim Suchen nach einer Nummer auf Tankred, Heike, Michael oder Arved stoße, durchzuckt es mich. Natürlich, ich könnte die Nummern der Toten löschen, aber das wäre Kosmetik. Eines Tages wird einer dieser Namen auf dem Display erscheinen. Belsazar. Entweder, weil die Nummer neu vergeben wurde, oder weil ich auf der anderen Seite bin – und die Einträge wieder gültig sind. Beinahe tröstlich.

10 Oktober, 2022

Blickstrukturen

Im Sommer letzten Jahres hat mich Hannes Wesselkämper besucht, um mit mir über „Blickstrukturen hierarchischer Welten” am Beispiel meines Filmes UNTER DIR DIE STADT (D 2010) sowie Akira Kurosawas ZWISCHEN HIMMEL UND HÖLLE (Japan 1963) zu sprechen. Hier kann man das Gespräch nachhören:

Hannes Wesselkämper - Blickstrukturen hierarchischer Welten (umkehren): ein filmanalytisches Gespräch mit Christoph Hochhäusler from Cinepoetics on Vimeo.

01 Oktober, 2022

Ernst nehmen


„Du kannst nichts ernst nehmen.“ - den Satz meiner Mutter hab ich noch im Ohr. Stimmt das? Fehlt es mir – without trust, everything is fiction  an Vertrauen? Und was ist mit dem Vertrauen in die (eigene) Fiktion? Ich komme darauf, weil ich im Schneideraum zuletzt wieder feststellen musste, dass ein Film von mir nicht die Gravitas *) hat, die ich dem Stoff ursprünglich zugesprochen hatte. 

Alle meine Filme scheinen mir an entscheidender Stelle körperlos flüchtig – eher Gedankenspielen als Erfahrungen verwandt. Man könnte sagen, dass sie nie das Ideengespinst verleugnen, das sie hervorgebracht hat **). Ich will das nicht werten, frage mich aber, worin diese „Tendenz zur Schwebe” eigentlich wurzelt. 


Einerseits ist sie natürlich Folge bestimmter filmischer Mittel und ästhetischer Effekte, die meiner Fantasie entgegenkommen. Die Fülle an parallelen Fahrten und Spiegelungen zum Beispiel, die Vorliebe, Ereignisse im Nebenbei zu zeigen, das Publikum weniger in einen Blick zu zwingen als es in die Lage zu versetzen, ein Geschehen zu rekonstruieren, haben daran Anteil. Auch meine Lust auf „filmische Reime” spielt eine Rolle.


Ich habe in meiner filmischen Praxis immer wieder Schwierigkeiten gehabt mit dem „Raubtierblick” des klassischen Auflösungsmodells. Ich will mein handwerkliches Ungenügen nicht verklären, aber es ist mir ein Bedürfnis, als Beobachter diskret zu sein, oder genauer: ich will mich verbergen. Und ich habe andererseits festgestellt, dass der Blick, der eine (erfundene) Sache nur streift, sie für mich paradoxerweise durch die Bei- oder Gegenläufigkeit beglaubigt, während die ganz für das Bild zubereitete Handlung meinen Verdacht erregt.


Wenn ich vor der Wahl stehe, die Reaktion eines Schauspielers nahe an der Achse, im Profil oder als Spiegelung zu zeigen, entscheide ich mich häufig für das Profil oder die Spiegelung, auch wenn der Umweg die Wirkung auf den Zuschauer dämpft. Das Eindringen ins Blickfeld einer Person kostet mich Überwindung. 


Gelegentlich habe ich das „verbindende Thema meiner Filme” – eine bei deutschen Filmjournalisten beliebte Frage – als Preis (oder Schmerz) der Fiktion umschrieben. Und wirklich fasziniert mich die Tatsache, dass so viele von uns ihre Vorstellungen ernster nehmen als das, was auch ohne diesen Glauben existiert. Allüberall sehe ich Märtyrer der fixen Ideen, radikal unbescheiden gegenüber der Wirklichkeit. 


Filmemachen ist für mich eine Reflexion, ein Spiel darüber, wie man leben könnte, das Basteln an einem Modell von Welt, ohne das Modellhafte zu verdecken. Im Gegenteil interessieren mich die Frankenstein-Nähte manchmal mehr als das, was sie zusammenhalten. Vielleicht neige ich zu „hypothetischen“ Filmen, weil ich mir nicht sicher bin, was mich selbst antreibt, von der Motivation Anderer ganz zu schweigen. Ich mag Theorien darüber haben, warum Menschen tun was sie tun, aber in der Deutung selbst der einfachsten Handlungen bleibt ein Rest Unsicherheit, und diesen Rest kann ich nicht unterschlagen.


Genau genommen will ich deshalb auch keine Geschichten liefern, sondern „Vorprodukte“, die dann vom Zuschauer getreu seiner Erfahrung zusammengesetzt  oder „verarbeitet“ werden. Ich mißtraue den geschlossenen Erzählungen. Nicht zufällig begeistern mich Szenen im Kino, die meinen „Möglichkeitssinn” herausfordern: Die Sequenz, in der Yves Montand über das Aussehen seiner Retterin spekuliert und wir verschiedene Varianten des Möglichen gezeigt bekommen, in Alain Resnais’ LA GUERRE EST FINIE. Oder natürlich das Ende in Michelangelo Antonionis L’ECLISSE, das sich auf den Ort einer Verabredung konzentriert, dem beide Hauptfiguren fernbleiben.


Zurück zur Ausgangsfrage: Filme sind Schatten, und erlangen Schwere nur in der Bereitschaft des Zuschauers, die Schranken des Unglaubens abzusenken. Wenn ich als Filmemacher dieser Bereitschaft nicht immer entsprechen kann, dann vielleicht, weil ich gelegentlich selbst an den Schranken des Glaubens scheitere. Meine Mutter hatte also einen Punkt.



*)

Das deutsche Wiktionary erklärt „Gravitas“ übrigens mit folgendem Beispielsatz: „Die scheinbare Gravitas in den Filmen von Christopher Nolan bildet sich auf der Handlungsebene leider selten ab.“


**)

Auch wenn ich dieses Mal ein „fremdes” Drehbuch, von Florian Plumeyer, verfilmt habe.

15 September, 2022

Texthinweis:



Für Picturing Austrian Cinema, herausgegeben von Katharina Müller und Claus Philipp, habe ich einen Beitrag verfasst unter der Überschrift: „König Midas' deutsche Verwandte. Zu Gerhard Friedls Hat Wolf von Amerongen Konkursdelikte begangen?” Das Buch, in dem 100 Standbilder aus 100 Werken der österreichischen Filmproduktion seit 1945 von hundert sehr unterschiedlichen Autoren beleuchtet werden – darunter Gertrud Koch, Elfriede Jelinek und Apichatpong Weerasethakul – erscheint im Herbst 2022 im Spector Verlag.

24 August, 2022

Klassizismus (2)

Ein bayerisches Double für's Brandenburger Tor, gebaut für Billy Wilders ONE, TWO, THREE.

Klassizismus heißt letztlich nichts Anderes, als das Werben um Vertrauen, das jeder Formgebung wesentlich ist, abzukürzen. 

Der Trick besteht darin, würdiges Alter vorzutäuschen, in der Hoffnung, das Publikum möge es mit Respektabilität verwechseln.


Die Gefahr ist natürlich, dass die Sache hohl tönt und die „klassische“ Form als gedankliche Trägheit entlarvt wird.


Trotzdem kann es produktiv sein, die Patenschaft der Tradition anzurufen – und womöglich besonders dann, wenn der „Inhalt“ neu und unerhört ist.


Jedenfalls wird jemand, der dringende Botschaften hat, breite Brücken zum Zuschauer willkommen heißen. 


Sozialistischer Realismus? Die Debatte hat die gleichen Wurzeln. 


*


Das Thema treibt mich um. Nicht nur gibt es (wie ich gerade feststelle) einen weiteren Post unter dieser Überschrift (Klassizismus2006), auch dieser Redesplitter (Digital Gotham, 2017) berührt die Frage und über Martin Ritts NORMA RAE habe ich hier im Blog geschrieben: „vielleicht ist die formale „Stabilität“ dem reaktionären Gegenwind geschuldet, mit dem Ritt (der in den 50ern ein Opfer der Blacklist war) immer rechnen musste”. In Revolver Heft 30 stelle ich folgende Frage an Ula Stöckl: „Welche Form oder Sprache muss man verwenden, um gehört zu werden?” Ula Stöckls Antwort: „Das ist auch wieder ein Kluge-Satz: „Man kann nicht zwei Dinge gleichzeitig tun“. Man kann nicht Form und Inhalt verändern. Und das ist natürlich eine Todsünde, die wir begangen haben. Wir haben Form und Inhalt erneuert.”

18 August, 2022

Schau | Werte


Judith Ellenbürger von der Universität Hamburg hat ein Buch über die „Bild- und Mediendiskurse des Geldes“ geschrieben.
Das Umschlagsbild von Schau | Werte stammt aus meinem Film UNTER DIR DIE STADT (D 2010), der auch ein Untersuchungsgegenstand ist.

14 August, 2022

(AT)

Polnisches Plakat von Teresa Byszewska für 
FILM OHNE TITEL (Rudolf Jugert, D 1948).

Ein guter Titel funktioniert wie eine Startrampe, ein Portal, eine Abkürzung, verschafft mühelos Zugang zu einer verwickelten Sache, macht neugierig, ohne das Geheimnis zu verraten. Mehr noch: er lädt die kommende Begegnung auf, polt die Erwartung, kapert unsere Fantasie. Man erkennt ihn, wenn man ihn hört oder sieht – aber Kriterien zu definieren ist unmöglich, auch weil der Titel sich (im Idealfall: untrennbar) mit dem betreffenden Werk verbindet, und der kulturelle Kontext eine wichtige Rolle spielt.


Hier ist meine spontane Titel-Top 10, chronologisch sortiert:


TROUBLE IN PARADISE (Ernst Lubitsch, USA 1932)

LA RÈGLE DU JEU (Jean Renoir, F 1939)

REBELS WITHOUT A CAUSE (Nicholas Ray, USA 1955)

IMITATION OF LIFE (Douglas Sirk, USA 1959 - aber der Titel ist älter)

ICH BIN ZWANZIG (Marlen Khutsiev, UdSSR 1965) – noch besser als ICH WAR NEUNZEHN (Konrad Wolf, DDR 1968), finde ich

ABSCHIED VON GESTERN (Alexander Kluge, BRD 1966) 

L’ARMÉE DES OMBRES (Jean-Pierre Melville, F 1969) 

TODO SOBRE MI MADRE (Pedro Almodóvar, Spanien 1999)

HAT WOLF VON AMERONGEN KONKURSDELIKTE BEGANGEN? (Gerhard Friedl, D 2004)

LA MUJER SIN CABEZA (Lucrecia Martel, Argentinien 2008)




Siehe auch meine Posts zum Thema Trailer & Plakat.

08 August, 2022

Ehrgeiz

Der bayerische König Ludwig I. hat seinen Geltungsanspruch einmal so formuliert: „Ich will aus München eine Stadt machen, die Teutschland so zu Ehren gereicht, dass niemand sagen kann, er kenne Teutschland, wenn er München nicht gesehen hat!“ 

Könnten wir uns diesen Ehrgeiz nicht zu eigen machen und aus dem deutschen Gegenwartskino „ein Ereignis machen, das dem Weltkino so zu Ehren gereicht, dass niemand sagen kann, er kenne das Weltkino, wenn er die deutschen Filme nicht gesehen hat!“? 


Wie schon damals ist der Weg weit, aber immer im Kreis zu laufen ist keine Alternative.

06 August, 2022

(Wieder-) Gesehen: [18]

Die Frage, ob wir wissen, was wir brauchen, wenn es um das Lebensmittel Film geht, schwebt weiter. Fest steht, dass viele der Filme, die ich in den letzten Wochen sehen wollte, eine Tendenz hatten. Trotz düsterer Weltlage habe ich mir fast ebenso düstere Filme angesehen, dunkle Märchen über (oft lächerlich) ernste Männer. Damit sie nicht zu einem Metafilm verklumpen, hier ein paar Erinnerungsstützen:

FEUERWERK AM HELLICHTEN TAGE (Diao Yinan, China 2014)

Irgendwo im chinesischen Heilongjiang wird der Ermittler Zhang Zili (Fan Liao) bei einem Einsatz verwundet und traumatisiert. Aus dem Dienst entlassen taumelt er alkoholisiert durch die schmutzige, kalte Stadt – bis ihm der alte Fall gewissermassen vor die Füße fällt. In der Schnittmenge der ungeklärten Morde ist man auf eine Frau (Gwei Lun-Mei) aufmerksam geworden, die sich mit allen Toten in Verbindung bringen lässt. Zhang beginnt sie zu verfolgen, ohne Auftrag und ohne Plan. Seine Obsession bringt ihn immer tiefer ins Geheimnis... und in Gefahr. Auch wenn die Frau glücklicherweise nicht im altmodischen Sinne „fatale” ist, verbinden sich in Diaos Berlinale-Gewinner amerikanischer Noir und chinesische Gegenwartstristesse zu einer Erotik der Erschöpfung, die man gesehen haben muss.


MR 73 (Olivier Marchal, Frankreich 2008)

Noch ein traumatisierter Ermittler, noch ein Säufer, allerdings in einem Film, der weit weniger an Glaubwürdigkeit als am Charisma des Leidens interessiert ist. Die melodramatischen Klischees türmen sich mitunter schwindelerregend, ohne den Film aus der Balance zu bringen. Vielleicht könnte man von einer Operette der Verzweiflung sprechen, die Daniel Auteuil mit vollem Körpereinsatz zur Aufführung bringt. Am Ende kommt der Film dem Schauer- und Ammenmärchen für meinen Geschmack vielleicht doch zu nahe, aber nach so viel schwarz auf schwarz ist es eben schwierig zu differenzieren.



THE BATMAN (Matt Reeves, USA 2022)

Geliehene Augen in einem Konzert für eine Note, in Moll: auch Batman ist nahe der Erschöpfung, alles fließt in dunklen Tönen zu einer atmosphärischen Pfütze auf Teer zusammen. Höhepunkt ist die Sequenz, in der Batman (Robert Pattison) sich die Augen von Selina Kyle (Zoë Kravitz) „leiht”, um ins korrupte Herz der Finsternis zu sehen. Von dieser Aufregung erholt sich der Film dann zwei Stunden lang auf eine sehr redundante, aber sehenswerte Art der Schwarzmalerei. Ich hatte meinen Spaß, auch und gerade an der Bildgestaltung übrigens (Kamera: Greig Fraser).



SOMETHING WILD (Jonathan Demme, USA 1986)

Die Wildnis beginnt einen Schritt neben dem Weg: Ohne Zweifel der reichste und reifste Film in dieser Auswahl, mit einer unglaublichen Melanie Griffith alias Lulu alias Audrey, die den Everyman Charles (Jeff Daniels) dazu verführt, sich dem Dschungel des Lebens zu stellen, indem sie seine „Normalität” als hysterische Konstruktion entlarvt. Ray Liotta als ihr Ex-Mann und Ex-Con ist ein Vulkan im Ausbruch; unmöglich, wegzuschauen, wenn sich die Lava seiner kriminellen Energie zerstörerisch den Weg bahnt. In meinen Augen Demmes bester Film, so detailreich und erfinderisch wie tief in seiner Menschenkenntnis. Große Empfehlung!



I BASTARDI (Duccio Tessari, Italien 1968)

Das Leidensbild als Selbstzweck: generischer Rache-Thriller um ein kriminelles Brüderpaar, das sich entzweit. „Adam” (Klaus Kinski) kann nicht teilen und bringt „Jason” (Giuliano Gemma) um – beinahe – alles: die Beute, die Freundin, die Schusshand. Fortan sinnt er auf Rache. Einer jener Filme, die im Fahrwasser des Erwartbaren immer wieder zu tollen Bildideen kommen. Gemma wiederum ist so schön, dass er ohne die (etwas mechanisch zubereiteten) Grausamkeiten / Leidensstationen wahrscheinlich ungenießbar wäre. Sehenswert.

05 August, 2022

Family of Shots


Einerseits habe ich mich als Zuschauer oft von allzu offensichtlichen ästhetischen Konzepten frustrieren lassen - alles in einer Einstellung, alles als POV erzählt, alle Farben gefangen in einem Schema usw - und immer für eine Differenzierung plädiert, die der Stoff und seine Besonderheiten diktieren oder die der Zufall oder die Eingebungen aller Beteiligten dem Filmemacher bescheren. 


Andererseits erscheint mir beim Machen ein Leitbild wünschenswert, auch weil die heiße Küche unserer Drehbedingungen ein Abwägen und Ausprobieren oft nicht erlaubt. Deshalb schreibe ich für meine Filme meistens eine Art Leitfaden oder Vis Guide, in dem steht, welche Mittel wie zum Einsatz kommen sollen. Ich habe die (paradoxe) Erfahrung gemacht, dass man umso freier arbeiten kann, je klarer die Setzungen sind.


Nicht zufällig sind mit Ozu und Hitchcock zwei Regisseure weit oben auch in meinem Pantheon, deren shot design so wiedererkennbar und systematisiert erscheint, dass sich das hochbeinige Wort von der „Filmsprache“ vielleicht rechtfertigen ließe. 


Es muss kurz gesagt darum gehen, eine eigene Konvention hervorzubringen, die offen ist für Überraschungen und zugleich zusammenhängend, eine moderne „family of shots“ in fragiler Balance zwischen den eigenen Setzungen und dem, was sich in der Konstellation der Spieler in Raum und Zeit konkretisiert.



Die Seiten 10 und 12 aus Harold Michelsons Storyboard für Hitchcocks MARNIE.



So habe ich es im ABC beschrieben:

„Die einzelnen Einstellungen müssen nicht gleichberechtigt, aber miteinander verwandt sein. Eine Familienähnlichkeit ist erwünscht. Eine Einstellung folgt aus der Anderen, die Totale ist Mutter kleinerer Größen oder umgekehrt.”

31 Juli, 2022

Strandnotiz



Vielleicht liegt die Sensation der rollenden Wasserberge ja im Nebeneinander der Geschwindigkeiten? Während sich die ferne liegenden Gipfel in Zeitlupe türmen, stürzen die naheliegenden mit rasender Geschwindigkeit in sich zusammen. Und zwischen diesen Zeitzonen, das ist das Seltsame, scheint es keine Verbindung zu geben. Und so überrascht mich jede neue Welle wieder.


(Am Strand von Zambujeira do Mar / Portugal. Die Fahne warnt je nach Wellenstärke.)

16 Juli, 2022

Feuerwerk

Trailer sind Anmache, Schaufenster, Mogelpackung, können große Kunst sein oder nur Reklame … Manche nisten sich so hartnäckig in die Fantasie ein, dass sie die beworbenen Filme überdauern. Vielleicht bin ich ja besonders empfänglich für die Glut der Vorfreude, die sie entfachen, jedenfalls bereue ich später oft, sie gesehen zu haben, weil mich das Wiedererkennen der „Höhepunkte“ im Kino aus der Trance reißt. Während der Groschen fällt, lösen sich die Momente aus der Erzählung. Eigentlich erstaunlich, dass dieser Dopplungseffekt nicht kontroverser ist - in einer Welt, in der von Kritikern erwartet wird, dass sie vor Spoilern warnen. So oder so, ich wünschte, Trailer könnten wieder häufiger auf Umwegen von den Filmen erzählen, und der Versuchung widerstehen, vorab das (vermeintlich) Beste als Feuerwerk abzubrennen.

11 Juli, 2022

Revolver 46



Heft 46 ist da – mit Beiträgen von/mit Julia Niemann & Leonie Seibold, Milo Rau & Arne Birkenstock, Helena Wittmann, Marina Vlady, Patrick Holzapfel, Melanie Waelde, Leo Geisler, Helke Sander, Dennis Todorovic. Das Cover gibt es übrigens in drei Farben:


29 Juni, 2022

Die Lebenden reparieren

In der ersten Juli-Woche: Die 10. Ausgabe von Revolverkino im Gropius Bau, zusammengestellt von Hannes Brühwiler und mir. Wie immer ist der Eintritt frei.

Revolverkino #10
DIE LEBENDEN REPARIEREN

Schon immer ist das Kino die Notaufnahme der Einsamen. Das synchrone Atmen im dunklen Saal hat therapeutische Wirkung, und nicht zufällig ist Wunde und Heilung, das Wunder sich regenerierender Körper und Seelen eines der zentralen Themen der Filmgeschichte. Diese kleine Auswahl, die sich ihren Titel von dem französischen Film „Réparer les vivants” leiht (den wir natürlich auch zeigen), bewegt sich spielerisch zwischen Trost und Trauma… 

Mittwoch, 6.07.2022


19:00
SECONDS (John Frankenheimer, USA 1966), englische Originalfassung

21:00
RÉPARER LES VIVANTS (Katell Quillévéré, Frankreich 2016), Französisch mit dt. Untertiteln

Donnerstag, 7.07.2022


19:00
COLUMBUS (Kogonada, USA 2017), englische Originalfassung

21:00
O MOVIMENTO DAS COISAS (Die Bewegung der Dinge, Manuela Serra, Portugal 1985), Portugiesisch mit englischen Untertiteln

Freitag, 8.07.2022


19:00
STRANGER AT MY DOOR (William Witney, USA 1956), englische Originalfassung

20:30
PERSONA (Ingmar Bergman, Schweden 1966), Originalfassung mit dt. Untertiteln

18 März, 2022

(Wieder-) Gesehen: [17]


EASY LIVING (Mitchell Leisen, USA 1937)

Ein Film voller Ideen und Ereignisse, die zum Plot nichts beitragen, Running Gags, Slapstick-Einsprengsel, Ausstattungsverrücktheiten – aber dieser Überfluss kümmert den Film nicht weiter, weil Jean Arthur durch den Film traumwandelt und wir mit ihr. Sie ist der Magnet, dem sich Leisen ganz überlässt, und was nicht von ihr angezogen wird, lässt er einfach fallen. 



MIDNIGHT (Mitchell Leisen, USA 1939)

Es gibt grob gesagt zwei Theorien über die Komödie. Der ersten zufolge ist sie eine beschleunigte Tragödie, ein hysterischer Tanz am Abgrund, weil das Leben und seine Ungereimtheiten nur als Witz erträglich seien. Die andere Theorie geht im Gegenteil davon aus, dass uns angesichts der Schwere nur Leichtigkeit retten kann. Dieser Film folgt eindeutig der zweiten Maxime. Leisen richtet nach dem Drehbuch von Wilder und Brackett ein Soufflee an, die Reste an Wirklichkeit, die sich im Drehbuch wohl finden, löst er mit seinen bestens aufgelegten Schauspielern nach und nach in Wohlgefallen auf. Alle Komplikationen des Plots könnte man lustspielerisch Verwicklungen nennen. Die Spindel dreht sich, und der Schwindel ist wunderbar. Eine der besten romantischen Komödien die ich kenne, ohne den bittren Magensaft, den Wilder als Regisseur beispielsweise beigefügt hätte (wie Lukas Foerster richtig angemerkt hat). Große Empfehlung!



HOLD BACK THE DAWN (Mitchell Leisen, USA 1941)

In vielerlei Hinsicht der beste Wilder-Film, den Wilder nie gemacht hat. Was Leisens Regieleistung nicht schmälern soll, im Gegenteil. Aber das Drehbuch von Brackett und Wilder über die Gewalt der Verführung und die Korruption der Gefühle ist nicht nur stilistisch voller Wilderisms, die ganze Geschichte ist mehr oder weniger autobiografisch, was wohl auch ein Grund für Wilder war, so empfindlich und ungerecht auf Regieeinfälle und Änderungen gegenüber dem Drehbuch zu reagieren (Joseph McBride macht diese Lesart in seinem neuen Wilder-Buch plausibel). Die Inszenierung ist vor dem Hintergrund von Wilders Mäkeleien jedenfalls überraschend scharfkantig und bitter und die späte „süße Wendung” der Geschichte hebt diese Erfahrung nicht auf. Der beste Beweis für „the genius of the system”, in allen Departments.  



KISS ME STUPID (Billy Wilder, USA 1964)


Hätte hätte Fahrradkette: Jack Lemmon war verhindert, die Hauptrolle zu übernehmen. (Und Peter Sellers erlitt während der Dreharbeiten einen Herzinfarkt.) Das ist sehr zu bedauern, obwohl Ray Walston seine Sache sehr gut macht. Aber jenes heikle Gleichgewicht zwischen Galle und Vergnügen, das Wilders beste Filme bitter und süß macht, trifft Walston nicht. Und so wird der „kritische Unterton” eine Spur zu offensichtlich, und alles gerät aus dem fein tariertem Gleichgewicht, um das sich die artifizielle Form des Films so bemüht. Trotzdem ein exquisit erzählter Film mit wunderbar entwickelten Details.

24 Januar, 2022

Notizen zu 'M'


Ein Tonfilm, eine Kette von Geräuschen und Dialogen, ein akustischer Faden, der nicht (oder kaum je) abreißt und eine sehr diverse Bildebene auffädelt, eigentlich eine Abfolge von Montagesequenzen... ein „im Studio gefilmter Dokumentarfilm”, wie Lang es genannt hat.

Nur gelegentlich wird der Film szenisch, und bleibt auch dann darauf bedacht, keiner Figur zu viel Gewicht zu geben, der Geist der neuen Sachlichkeit regiert (Anti-Expressionismus?). Die Erzählung selbst ist der Held ... und was sie verspricht ist Zusammenhang.


Das dramaturgische Prinzip könnte man lexikalisch nennen. Ein Alphabet der Stadt. Auffällig jedenfalls das Element des Seriellen, das Motiv der Sammlung, der Recherche:


Die (gefunden) Brote werden "börsennotiert", die Zigarettenstummel sortiert, die Polizei systematisiert Fingerabdrücke, Elsies Mutter liest Serienromane, die Gangster arbeiten arbeitsteilig-seriell, Lorre ist Serienmörder. 


Eine Massengesellschaft versucht sich zu zählen, Lohmann referiert die Zahlen, betreibt eine Vorform der Rasterfahndung (was ebenfalls auf Recherche beruht - Lohmann ist ein fiktionalisierter Kriminalpolizeirat Ernst Gennat).


Geräusche kehren wieder: das Pfeiffen Lorres (Griegs Peer Gynt), der Abzählreim („Warte, warte nur ein Weilchen...”), die Rufe der Mutter, die Trillerpfeife des Schutzmannes. Alles Beschwörungen, Anrufungen, auf ein Echo aus. 


Wie überraschend dann, dass der Finger beim Buchstaben 'M' stehen bleibt, und Peter Lorre in einer eigentlich unmöglichen Aufholjagd - gegen die Gefühle der Zuschauer und gegen die 'demokratische' Struktur des Films - den Film ganz zum Schluss erobern darf.


(Aus meinem Notizbuch, 2018)