Filmmusik, die direkt von der Handlung motiviert ist – deren Quelle also im Bildraum zu verorten ist – nennt man (wie die Leser dieses Blogs sicherlich wissen) „diegetisch”. Wenn Peter Lorre in M die Peer-Gynt-Suite Nr. 1 von Edvard Grieg pfeift zum Beispiel oder das Autoradio in WILD AT HEART „Slaughterhouse” von Powermad spielt, sind das diegetische Musikeinsätze. In der Branche wird dafür meistens das englische Lehnwort „Source-Musik“ verwendet, denn der Klang hat eine Quelle, und auch wenn die Musik eher selten dem (am Set aufgenommenen) „Originalton“ entstammt, legt man es darauf an, dass sie im Zusammenhang glaubwürdig klingt. Die Mischung betont dann etwa den schlechten Standard der Lautsprecher oder den konkurrierenden Straßenlärm, um die „Wirklichkeit“ der Situation zu betonen.
Extra-diegetisch ist das, woran die meisten denken, wenn sie das Wort „Filmmusik“ hören und meint einen Musikeinsatz, der dramaturgisch motiviert, aber nicht direkt mit der Realitätsebene der Handlung verknüpft ist – im Bildraum also keine Quelle zu sehen oder anzunehmen ist. Unter Filmleuten ist das englische „Soundtrack“ oder – wenn speziell für den Film komponiert – „Score” gebräuchlich. Bernhard Hermanns Filmmusik für Hitchcocks PSYCHO kommt mir als überragendes Beispiel sofort in den Sinn („Score“). Oder auch Kubricks Einsatz von Nancy Sinatras „These boots are made for walking” in FULL METAL JACKET („Soundtrack“). So weit, so klar.
Es gibt allerdings auch Filmmusik, die zugleich in der Realität der Figuren hörbar ist oder sein könnte, als auch dramaturgisch-kommentierend funktioniert – vielleicht könnte man sie „ambi-diegetisch“ nennen. Genau genommen ist ein rein diegetischer Einsatz von Filmmusik sogar selten. Sehr häufig beginnt ein Musikeinsatz diegetisch, wandelt sich aber ins „ambi-diegetische”, ohne ganz extra-diegetisch zu werden. Die Musik klingt dann etwa nach einer Weile voller und dominanter als es akustisch glaubwürdig wäre oder macht kleinere Zeitsprünge des Bildschnitts nicht mehr mit. Die Mischung lenkt unsere Wahrnehmung dabei oft so, dass wir uns der Lenkung nicht bewusst sind.
Dass der Wahl einer Tanz- oder Radiomusik, der die Figuren scheinbar zufällig ausgeliefert sind oder die sie aufsuchen, in aller Regel eine dramaturgische Entscheidung vorausgeht, wird niemanden überraschen. Wie sehr sich ein solcher Musikeinsatz als dokumentarisch oder kommentierend versteht, vermittelt uns die Mischung. In meinem neuen Film BIS ANS ENDE DER NACHT (den wir im November gemischt haben; Mischtonmeister war Hubertus Rath, assistiert von Rainer Heesch, Sound Design: Matz Müller & Rainer Heesch), verhält es sich so, dass die Musik zwar oft diegetisch sein könnte - die Situationen würden das zulassen - wir aber von vorne herein „ambi-diegetisch” damit umgehen. An einer Stelle spielen wir sogar gleichzeitig extra-diegetisch die eine Musik und diegetisch eine andere (die Idee kam Stefan Stabenow in der Montage); die diegetische Musik bleibt präsent, der „Mantel“ der extra-diegetischen Musik deckt sie bewusst nicht ganz zu. Die Gleichzeitigkeit verschiedener emotionaler Zustände kommt der Handlung entgegen.
Aber es kommt in diesem Film noch ein weiterer Aspekt hinzu: immer wieder gibt es deutschsprachige (Populär-) Musik zu hören, mit Liedtexten, die sich unwillkürlich in die Deutung der Szene einmischen. Hätte man diese Musik in der Mischung als reine Quellenmusik behandelt, hätten die Texte keine so große Rolle spielen können – und wären im Kontext womöglich auch wenig glaubwürdig gewesen.
Ich schreibe das alles nicht, weil es in der Filmgeschichte „unerhört” wäre – sicher nicht – sondern um mir selbst klar zu machen, was wir gemacht haben. Ich hatte mit Musikauswahl und -einsatz (Musik Supervision: Martin Hossbach) jedenfalls großen Spaß, auch weil der „unzuverlässige” Abstand zwischen den großen Gefühlen der Musik und dem Ungenügen der Figuren in der Szene Räume öffnet, dem Film eine zusätzliche Dimension geben. Ich bin gespannt, wie sich das alles für fremde Ohren anhören wird.