25 Mai, 2023

Im Fahrstuhl nach oben

Maurice Ronet in Louis Malles ASCENSEUR POUR L'ECHAFAUD (F 1958)

In meiner Studienzeit war viel vom „Elevator-Pitch” die Rede; wir sollten uns bereit machen, ins Ohr der Macht zu flüstern, falls sich die Gelegenheit einmal bot. Kurios eigentlich, angesichts einer Branche, in der kaum jemand einer persönlich vorgetragenen Idee vertraut. Aber meine Skepsis damals war grundsätzlicher: Zu viele der Filme, die mir gefielen, hätten sich in den drei Minuten bis zur 40. Etage nicht erzählen lassen, dachte ich, oder jedenfalls nicht so, dass das Wesentliche berührt worden wäre.

Seinerzeit war ich davon überzeugt, dass das Kino gerade dort zu sich findet, wo es nicht einer Geschichte dient, sondern sich ganz den Essenzen überlässt: Bilder, Töne, Blicke, Gesten – ohne „außerfilmische“ Absichten, frei. Inzwischen bin ich aufgeschlossener für’s storytelling, aber dass sich nicht alles, was im Kino Sinn ergibt, beschreiben (oder „pitchen”) lässt, ist ein Übersetzungsproblem, das sich als „Bremsspur” in der Kinogeschichte deutlich ablesen lässt – Projekte, die sich gut lesen lassen, haben in den Bürokratien des Films seit jeher die besseren Chancen.

Aber zurück zum Aufzug: inzwischen habe ich verstanden, dass der einzige „Elevator-Pitch“, auf den es wirklich ankommt, nicht Produzent und Regisseur, sondern potentielle Zuschauer verbindet. Auf dem Weg zur Schule, in die Uni oder zur Arbeit kann man originelle Plots, verrückte Besetzungscoups, unter Umständen auch radikale ästhetische Konzepte als Gesprächsstoff gut gebrauchen, die sich dann auf der Heimfahrt, am Spielfeldrand oder während der Zoom-Konferenz zu einem Sehen-wollen ausdehnen.

Schon gehört? Es gibt jetzt einen Film, der ... besteht nur aus einer Einstellung / da spielt ein Schauspieler alle Hauptrollen / da begeht jemand einen Diebstahl im Traum eines anderen ... Auch wenn ich diese Originalismen manchmal nervtötend finde: nur solche Ideen lassen den Funken überspringen, die sich mit etwas Unerhörtem, Neuem, in der eigenen Fantasie fortsetzen. 

Regisseure wie Hitchcock, Kubrick, Spielberg usw sind Meister nicht nur der filmischen Form, sondern auch im Pflanzen solcher Ideen. Stell dir vor, die Vögel würden sich gegen die Menschen verschwören … stell dir ein Raumschiff vor, gesteuert von einem Computer, der die Mission der Reise geheim hält … stell dir ein Kind vor, das einen Alien findet und im Kinderzimmer versteckt 

High Concept Filme, mit Plot-Ideen, die auf den berühmten Bierdeckel passen, sind die eine Möglichkeit. Aber auch mit einer bestimmten Art von Idiosynchratismus kann man im Publikum Fäden ziehen - Wes Anderson, Quentin Tarantino oder Pedro Almodovar sind aktuelle Beispiele dafür. Der Wettbewerb in Cannes besteht beinahe nur noch aus solchen „Marken”. 

Das kann man beklagen – der ästhetische Autopilot von Wes Anderson zum Beispiel interessiert mich immer weniger – aber zugleich muss ich anerkennen, dass Filme ohne diese ins Fell gebrannten Besitzanzeigen Schwierigkeiten haben, sich in unserer übervollen Bilderwelt durchzusetzen.


Siehe auch: Play it again!

11 Mai, 2023

Hasen und Karnickel

Wenn man zum ersten Mal in Berührung kommt mit einer bestimmten Spielart des Kinos, kann es passieren, dass man fremdelt. Manchmal hat man erst nach drei oder vier Filmen eine Ahnung davon, wie der Hase läuft. Und fünf oder fünfzehn Filme später kann man die Hasen von den Karnickeln unterscheiden, um im Bild zu bleiben. 

So war es, als die Welt in Cannes den iranischen, den rumänischen, den koreanischen Film kennengelernt hat, zum Beispiel. Die Filme dieser „neu entdeckten” Kinematographien – machen wir uns nichts vor: ein bisschen Kulturimperialismus war immer dabei – sind nach und nach global sichtbar geworden, wurden zunächst abwägend, später enthusiastisch rezipiert und haben als ästhetischer Zusammenhang andere Filmemacher*innen, andere Filmländer beeinflusst. 

Auch das (west-) deutsche Kino hatte so einen Moment, als der sogenannte Junge Deutsche Film der 60er und 70er Jahre - Fassbinder, Herzog, Wenders, Schroeter & Co. - in Paris und Cannes „entdeckt” wurde. Seither ist viel Zeit vergangen, der deutsche Film hat sich mehrmals neu erfunden – aber wurde international nie mehr als satisfaktionsfähig wahrgenommen, jedenfalls nicht in Cannes. 

Sicher, es gab hin- und wieder deutsche Filme dort. (Ich war mit zwei Filmen in „Un Certain Regard”). Aber um die Wertschätzung ins Verhältnis zu rücken: Wim Wenders - als Vertreter der „letzten Entdeckung“ – war insgesamt öfter im offiziellen Programm vertreten als alle jüngeren deutschen Filmemacher*innen in allen Sektionen seit 1999 zusammengenommen. 2023 gibt es zwei Filme von ihm zu sehen – als einzigem deutschen Regisseur, über alle Sektionen hinweg. Die Liste der Cannes-Auslassungen in Bezug auf das deutsche Kino ist entsprechend lang. 

Filme sind keine Inseln, sondern entstehen im Austausch und im Zusammenhang anderer Filme und Filmemacher*innen. Das gilt wie gesagt auch fürs Filme-sehen und Verstehen. Ja, die deutsche Filmgeschichte der letzten 25 Jahre war nicht so reich und inspirierend, wie sie hätte sein sollen, ja müssen. Aber das, was den falschen filmpolitischen Weichenstellungen zum Trotz an aufregenden Filmen entstanden ist, war viel zu selten in Cannes zu sehen. Ich würde behaupten, dass es dort mindestens die letzten 25 Jahre keine Neugier, kein Interesse und keine Kennerschaft gab in Bezug auf das neuere deutsche Kino.

Das ist schade nicht nur für die Filme und Filmemacher*innen, die es verdient hätten, weltweit wahrgenommen zu werden und schade für das Festival, das viele Chancen verpasst hat. Es ist eben auch deshalb bedauerlich, weil die tonangebenden Multiplikatoren des Kinos (Kritiker, Verleiher, Produzenten usw.) – die auf der Berlinale zum Beispiel nicht annähernd so international und hochkarätig vertreten sind – mit den Jahren verlernt haben, deutsche Filme zu sehen und heute womöglich mit den Eigenarten unseres Kinos fremdeln.

Nun könnte man der heute sehr populären Logik der Repräsentation folgend sagen, dass noch viele andere Weltgegenden des Kinos auf ihren Moment im Rampenlicht warten und die Deutschen ja immerhin schon einmal dran waren. Das ist nicht ganz falsch. Allerdings hat sich der grundsätzliche Fokus von Cannes erstaunlich wenig verändert. Es ist immer noch ein eurozentrisches Festival mit einem romantischen Blick in Richtung USA. Asien hat an Bedeutung gewonnen, Frankreich ist über- und Deutschland (meiner Meinung nach) unterrepräsentiert. 

Beim „letzten Mal” war die westdeutsche Präsenz übrigens breit verteilt. Mehrfach liefen Fassbinder, Herzog, Kluge, Schlöndorff, Schroeter, Syberberg, v. Trotta, Wenders, aber eben auch Adlon, Bustelin, Brasch, Dorst, Engel, Fleischmann, Hauff, Lilienthal, Mauch, Morse, Pohland, Reitz, Rödl, Sanders-Brahms, Schamoni, Schilling, Shahid Saless, Thome, v. Ackeren, Verhoeven, Wicki. Auch aus der DDR gab es gelegentlich Filme zu sehen (Konrad Wolf, Egon Günther u.a.). Dieses Interesse am deutschen Kino endet ziemlich genau mit der Wiedervereinigung, als der deutsche Nachbar plötzlich wieder beängstigend groß war. 1989 war bisher auch das letzte Jahr mit zwei deutschen Filmen im Wettbewerb (Bernhard Wicki und Percy Adlon).

Ich habe mir gerade die Mühe gemacht, nachzusehen, welche deutschen Filme in den letzten 25 Jahren in Cannes gelaufen sind. Das Ergebnis ist dürftig, nicht nur, weil es so wenige waren, sondern auch, weil die wenigen nur selten zu jenen deutschen Filmen gehörten, die Resonanz im Weltkino gefunden haben. 7 Jahre (von 25) gab es in keiner Reihe deutsche Filme, 17 Jahre (von 25) keinen deutschen Film im Wettbewerb. All das wird niemanden in Cannes kümmern, aber vielleicht ist es ein Puzzleteil, das uns helfen kann zu verstehen, wie sich der Blick auf den deutschen Film international verändert hat. 

-


Hier meine Auswertung im Detail:


Filme deutscher Regisseur*innen in Cannes seit 1999: 

  • Wettbewerb (7/25)
  • Un Certain Regard - UCR (13/25)
  • Quinzaine des Réalisateurs - QR (7/25)
  • Sémaine de la Critique - SC (2/25)

-


1999

Wettbewerb: 0

UCR: 0

QR: 1 (Andreas Kleinert: Wege in die Nacht)

SC: 0


2000

Wettbewerb: 0

UCR: 1 (Jan Schütte: Abschied) 

QR: 1 (Oskar Roehler: Die Unberührbare)

SC: 0


2001

Wettbewerb: 0

UCR: 0

QR: 0

SC: 0


2002

Wettbewerb: 0

UCR: 0

QR: 1 (Werner Schroeter: Deux)

SC: 0


2003

Wettbewerb: 0

UCR: 1 (Max Färberböck: September)

QR: 1 (Yüksel Yavuz: Kleine Freiheit)

SC: 0


2004

Wettbewerb: 1 (Hans Weingartner: Die fetten Jahre sind vorbei)

UCR: 1 (Angela Schanelec: Marseille)

QR: 0

SC: 0


2005

Wettbewerb: 1 (Wim Wenders: Don’t come knocking)

UCR: 2 (Benjamin Heisenberg: Schläfer, Christoph Hochhäusler: Falscher Bekenner)

QR: 0

SC: 0


2006

Wettbewerb: 0

UCR: 0

QR: 1 (Stefan Krohmer: Sommer ’04 an der Schlei)

SC: 1 (Matthias Luthardt: Pingpong)


2007

Wettbewerb: 1 (Fatih Akin: Auf der anderen Seite)

UCR: 1 (Robert Thalheim: Am Ende kommen Touristen) 

QR: 1 (Jan Bonny: Gegenüber)

SC: 0


2008

Wettbewerb: 1 (Wim Wenders: Palermo Shooting)

UCR: 1 (Andreas Dresen: Wolke Neun)

QR: 0

SC: 1 (Emily Atef: Das Fremde in mir)


2009

Wettbewerb: 0

UCR: 0

QR: 0

SC: 0


2010

Wettbewerb: 0

UCR: 1 (Christoph Hochhäusler: Unter dir die Stadt)

QR: 1 (Philip Koch: Picco)

SC: 0


2011

Wettbewerb: 0

UCR: 1 (Andreas Dresen: Halt auf freier Strecke)

QR: 0

SC: 0


2012

Wettbewerb: 0

UCR: 0

QR: 0

SC: 0


2013

Wettbewerb: 0

UCR: 1 (Kathrin Gebbe: Tore tanzt)

QR: 0

SC: 0


2014

Wettbewerb: 0

UCR: 0

QR: 0

SC: 0


2015

Wettbewerb: 0

UCR: 0

QR: 0

SC: 0


2016

Wettbewerb: 1 (Maren Ade: Toni Erdmann)

UCR: 0

QR: 0

SC: 0


2017

Wettbewerb: 1 (Fatih Akin: Aus dem Nichts)

UCR: 1 (Valeska Grisebach: Western)

QR: 0

SC: 0


2018

Wettbewerb: 0

UCR: 1 (Ulrich Köhler: In my Room)

QR: 0

SC: 0


2019

Wettbewerb: 0

UCR: 0

QR: 0

SC: 0


2020 (Corona-bedingt entfallen)

Hypothetische Auswahl: 1 (Oskar Roehler: Enfant Terrible)


2021

Wettbewerb: 0

UCR: 0

QR: 0

SC: 0


2022

Wettbewerb: 0

UCR: 1 (Emily Atef: Plus que jamais)

QR: 0

SC: 0


2023

Wettbewerb: 1 (Wim Wenders: Perfect Days)

UCR: 0

QC: 0

SC: 0


(Nicht in diese Statistik eingegangen sind Filme, die außer Konkurrenz gelaufen sind, genauso wenig wie Midnight Movies, Cannes Classics, Cinéfondation, Kurzfilme, ACID u.ä. – aber die Tendenz in diesen Reihen ist ähnlich. Ebenfalls keine Berücksichtigung fanden minoritäre deutsche Koproduktionen. Gezählt habe ich Filme, die die französische Wikipedia-Cannes-Seite als deutsch klassifiziert. Falls ich einen Film übersehen habe, gerne einen Kommentar schreiben.)


Lesetip zur Ergänzung: Protestantische Probleme.

02 Mai, 2023

Nebenblicke

Die Linienstraße in Berlin Mitte, in DAS KANINCHEN BIN ICH (Kurt Maetzig, DDR 1965).

Jedes Ereignis vollzieht sich bis zu einem gewissen Grad in der Unschärfe seiner Umstände, die das „Bett” einer Handlung bilden. Dem Erzähler muss daran gelegen sein, nicht nur handelnde Personen und ihre Beziehungen räumlich und zeitlich zu situieren, sondern auch Unbeteiligte, Passanten, Passive zu skizzieren. 

Mehr noch: der Himmel, die Tiere, die Häuser und Maschinen müssen auf Wirkungsmöglichkeiten in Bezug auf das noch nicht entfaltete, aber erwartete Ereignis befragt werden. Die Möglichkeit eines anderen Ausgangs durch geringfügige Verschiebungen der Umstände steigert die Notwendigkeit des Kommenden. 


Kurz: Reife in der Art, eine Handlung zu filmen, liegt mitunter darin, nicht sofort zum Punkt zu kommen. Ich will beim nächsten Mal mehr Abschweifungen und Nebenblicke zulassen.