Wenn man zum ersten Mal in Berührung kommt mit einer bestimmten Spielart des Kinos, kann es passieren, dass man fremdelt. Manchmal hat man erst nach drei oder vier Filmen eine Ahnung davon, wie der Hase läuft. Und fünf oder fünfzehn Filme später kann man die Hasen von den Karnickeln unterscheiden, um im Bild zu bleiben.
So war es, als die Welt in Cannes den iranischen, den rumänischen, den koreanischen Film kennengelernt hat, zum Beispiel. Die Filme dieser „neu entdeckten” Kinematographien – machen wir uns nichts vor: ein bisschen Kulturimperialismus war immer dabei – sind nach und nach global sichtbar geworden, wurden zunächst abwägend, später enthusiastisch rezipiert und haben als ästhetischer Zusammenhang andere Filmemacher*innen, andere Filmländer beeinflusst.
Auch das (west-) deutsche Kino hatte so einen Moment, als der sogenannte Junge Deutsche Film der 60er und 70er Jahre - Fassbinder, Herzog, Wenders, Schroeter & Co. - in Paris und Cannes „entdeckt” wurde. Seither ist viel Zeit vergangen, der deutsche Film hat sich mehrmals neu erfunden – aber wurde international nie mehr als satisfaktionsfähig wahrgenommen, jedenfalls nicht in Cannes.
Sicher, es gab hin- und wieder deutsche Filme dort. (Ich war mit zwei Filmen in „Un Certain Regard”). Aber um die Wertschätzung ins Verhältnis zu rücken: Wim Wenders - als Vertreter der „letzten Entdeckung“ – war insgesamt öfter im offiziellen Programm vertreten als alle jüngeren deutschen Filmemacher*innen in allen Sektionen seit 1999 zusammengenommen. 2023 gibt es zwei Filme von ihm zu sehen – als einzigem deutschen Regisseur, über alle Sektionen hinweg. Die Liste der Cannes-Auslassungen in Bezug auf das deutsche Kino ist entsprechend lang.
Filme sind keine Inseln, sondern entstehen im Austausch und im Zusammenhang anderer Filme und Filmemacher*innen. Das gilt wie gesagt auch fürs Filme-sehen und Verstehen. Ja, die deutsche Filmgeschichte der letzten 25 Jahre war nicht so reich und inspirierend, wie sie hätte sein sollen, ja müssen. Aber das, was den falschen filmpolitischen Weichenstellungen zum Trotz an aufregenden Filmen entstanden ist, war viel zu selten in Cannes zu sehen. Ich würde behaupten, dass es dort mindestens die letzten 25 Jahre keine Neugier, kein Interesse und keine Kennerschaft gab in Bezug auf das neuere deutsche Kino.
Das ist schade nicht nur für die Filme und Filmemacher*innen, die es verdient hätten, weltweit wahrgenommen zu werden und schade für das Festival, das viele Chancen verpasst hat. Es ist eben auch deshalb bedauerlich, weil die tonangebenden Multiplikatoren des Kinos (Kritiker, Verleiher, Produzenten usw.) – die auf der Berlinale zum Beispiel nicht annähernd so international und hochkarätig vertreten sind – mit den Jahren verlernt haben, deutsche Filme zu sehen und heute womöglich mit den Eigenarten unseres Kinos fremdeln.
Nun könnte man der heute sehr populären Logik der Repräsentation folgend sagen, dass noch viele andere Weltgegenden des Kinos auf ihren Moment im Rampenlicht warten und die Deutschen ja immerhin schon einmal dran waren. Das ist nicht ganz falsch. Allerdings hat sich der grundsätzliche Fokus von Cannes erstaunlich wenig verändert. Es ist immer noch ein eurozentrisches Festival mit einem romantischen Blick in Richtung USA. Asien hat an Bedeutung gewonnen, Frankreich ist über- und Deutschland (meiner Meinung nach) unterrepräsentiert.
Beim „letzten Mal” war die westdeutsche Präsenz übrigens breit verteilt. Mehrfach liefen Fassbinder, Herzog, Kluge, Schlöndorff, Schroeter, Syberberg, v. Trotta, Wenders, aber eben auch Adlon, Bustelin, Brasch, Dorst, Engel, Fleischmann, Hauff, Lilienthal, Mauch, Morse, Pohland, Reitz, Rödl, Sanders-Brahms, Schamoni, Schilling, Shahid Saless, Thome, v. Ackeren, Verhoeven, Wicki. Auch aus der DDR gab es gelegentlich Filme zu sehen (Konrad Wolf, Egon Günther u.a.). Dieses Interesse am deutschen Kino endet ziemlich genau mit der Wiedervereinigung, als der deutsche Nachbar plötzlich wieder beängstigend groß war. 1989 war bisher auch das letzte Jahr mit zwei deutschen Filmen im Wettbewerb (Bernhard Wicki und Percy Adlon).
Ich habe mir gerade die Mühe gemacht, nachzusehen, welche deutschen Filme in den letzten 25 Jahren in Cannes gelaufen sind. Das Ergebnis ist dürftig, nicht nur, weil es so wenige waren, sondern auch, weil die wenigen nur selten zu jenen deutschen Filmen gehörten, die Resonanz im Weltkino gefunden haben. 7 Jahre (von 25) gab es in keiner Reihe deutsche Filme, 17 Jahre (von 25) keinen deutschen Film im Wettbewerb. All das wird niemanden in Cannes kümmern, aber vielleicht ist es ein Puzzleteil, das uns helfen kann zu verstehen, wie sich der Blick auf den deutschen Film international verändert hat.
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Hier meine Auswertung im Detail:
Filme deutscher Regisseur*innen in Cannes seit 1999:
- Wettbewerb (7/25)
- Un Certain Regard - UCR (13/25)
- Quinzaine des Réalisateurs - QR (7/25)
- Sémaine de la Critique - SC (2/25)
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1999
Wettbewerb: 0
UCR: 0
QR: 1 (Andreas Kleinert: Wege in die Nacht)
SC: 0
2000
Wettbewerb: 0
UCR: 1 (Jan Schütte: Abschied)
QR: 1 (Oskar Roehler: Die Unberührbare)
SC: 0
2001
Wettbewerb: 0
UCR: 0
QR: 0
SC: 0
2002
Wettbewerb: 0
UCR: 0
QR: 1 (Werner Schroeter: Deux)
SC: 0
2003
Wettbewerb: 0
UCR: 1 (Max Färberböck: September)
QR: 1 (Yüksel Yavuz: Kleine Freiheit)
SC: 0
2004
Wettbewerb: 1 (Hans Weingartner: Die fetten Jahre sind vorbei)
UCR: 1 (Angela Schanelec: Marseille)
QR: 0
SC: 0
2005
Wettbewerb: 1 (Wim Wenders: Don’t come knocking)
UCR: 2 (Benjamin Heisenberg: Schläfer, Christoph Hochhäusler: Falscher Bekenner)
QR: 0
SC: 0
2006
Wettbewerb: 0
UCR: 0
QR: 1 (Stefan Krohmer: Sommer ’04 an der Schlei)
SC: 1 (Matthias Luthardt: Pingpong)
2007
Wettbewerb: 1 (Fatih Akin: Auf der anderen Seite)
UCR: 1 (Robert Thalheim: Am Ende kommen Touristen)
QR: 1 (Jan Bonny: Gegenüber)
SC: 0
2008
Wettbewerb: 1 (Wim Wenders: Palermo Shooting)
UCR: 1 (Andreas Dresen: Wolke Neun)
QR: 0
SC: 1 (Emily Atef: Das Fremde in mir)
2009
Wettbewerb: 0
UCR: 0
QR: 0
SC: 0
2010
Wettbewerb: 0
UCR: 1 (Christoph Hochhäusler: Unter dir die Stadt)
QR: 1 (Philip Koch: Picco)
SC: 0
2011
Wettbewerb: 0
UCR: 1 (Andreas Dresen: Halt auf freier Strecke)
QR: 0
SC: 0
2012
Wettbewerb: 0
UCR: 0
QR: 0
SC: 0
2013
Wettbewerb: 0
UCR: 1 (Kathrin Gebbe: Tore tanzt)
QR: 0
SC: 0
2014
Wettbewerb: 0
UCR: 0
QR: 0
SC: 0
2015
Wettbewerb: 0
UCR: 0
QR: 0
SC: 0
2016
Wettbewerb: 1 (Maren Ade: Toni Erdmann)
UCR: 0
QR: 0
SC: 0
2017
Wettbewerb: 1 (Fatih Akin: Aus dem Nichts)
UCR: 1 (Valeska Grisebach: Western)
QR: 0
SC: 0
2018
Wettbewerb: 0
UCR: 1 (Ulrich Köhler: In my Room)
QR: 0
SC: 0
2019
Wettbewerb: 0
UCR: 0
QR: 0
SC: 0
2020 (Corona-bedingt entfallen)
Hypothetische Auswahl: 1 (Oskar Roehler: Enfant Terrible)
2021
Wettbewerb: 0
UCR: 0
QR: 0
SC: 0
2022
Wettbewerb: 0
UCR: 1 (Emily Atef: Plus que jamais)
QR: 0
SC: 0
2023
Wettbewerb: 1 (Wim Wenders: Perfect Days)
UCR: 0
QC: 0
SC: 0
(Nicht in diese Statistik eingegangen sind Filme, die außer Konkurrenz gelaufen sind, genauso wenig wie Midnight Movies, Cannes Classics, Cinéfondation, Kurzfilme, ACID u.ä. – aber die Tendenz in diesen Reihen ist ähnlich. Ebenfalls keine Berücksichtigung fanden minoritäre deutsche Koproduktionen. Gezählt habe ich Filme, die die französische Wikipedia-Cannes-Seite als deutsch klassifiziert. Falls ich einen Film übersehen habe, gerne einen Kommentar schreiben.)
Lesetip zur Ergänzung: Protestantische Probleme.