27 Dezember, 2013

La Faute à Kechiche

Abdellatif Kechiches fünfter Spielfilm LA VIE D'ADÈLE ist ein Aufmerksamkeitsmagnet: Preise, begeisterte Kritiken, dazu eine über die Medien ausgetragene Schlammschlacht. Gut möglich, dass mir falsche Erwartungen den Blick auf den Film verstellt haben. Meine Enttäuschung erklärt das nur zum Teil.

Der Film beginnt auf eine für das jüngere französische Kino vertraute Weise: additiv, ausführlich, alltäglich etabliert Kechiche seine Protagonistin. Über „die Brücke der Fiktion” (von der Douchet einmal gesprochen hat) traut er sich lange nicht. Die Hoffnung, das redundante Erzählen wäre ein im Gesamtzusammenhang notwendiges Insistieren, erfüllt sich nicht. Kechiche folgt hier – ohne den Widerstand jugendlicher Laiendarsteller und dem doppelten Boden des „Spiel im Spiel” wie in L'ESQUIVE – einem naiven Verismus, der statt komplexer Charaktere nur ein endloses treppauf treppab klischierter Charakterisierungen zu bieten hat.

Bald aber erweist sich, dass Kechiche unter der Tünche seines realistischen Stils pädagogische Absichten verfolgt. „Das ist lesbische Liebe” scheint er zu sagen, „das ist Literatur”, „das ist Kunst”. Mehr und mehr degradiert er seine Darsteller zu Lautsprechern ziemlich beschränkter Ansichten, die offenbar dem Regisseur selbst gehören (falls sie auf die Vorlage zurückgehen, entschuldigt das nichts). Das ganze wird im schmalen Vokabular einer Fernsehdokumentation gefilmt: eine aktionszentrierte Handkamera, die an den Protagonisten klebt, immer nah oder halbnah, ohne weitere Modulation des filmischen Raumes. Die Sexszenen, von denen so viel zu lesen war, finden im banalen Licht des Sexualkundeunterrichts statt. Auch der Musikeinsatz – als Source-Musik markiert, aber im Klang extradiegetisch – ist überdeutlich. Kechiche hat ein Problem mit der Imagination des Zuschauers: alles will ER ausmalen.

Das zeigt sich passender Weise auch an seiner Vorstellung von bildender Kunst: die Bilder, die Léa Seydoux vorgeblich malt (einmal sehen wir, wie ihre bescheidene Skizze in der Großaufnahme durch die eines Routiniers ersetzt wird), haben mit dem aktuellen Kunstgeschehen nicht nur nichts zu tun, sie sind auch für Reaktionäre, die eine Wiederkehr der akademischen Malerei des 19. Jahrhunderts ersehnen, nicht satisfaktionsfähig. Es ist naive Gebrauchsgrafik der Sorte, die Straßenhändler gerne anbieten.

Nun ist Kunst im Film ein Kapitel für sich, auch Gene Kelly als Amerikaner in Paris z. B. malt herzlich schlecht, aber in Kechiches Realismuskonzept ist eben kein Platz für Übertragungen. Er will, dass wir ihn beim Wort nehmen. Bei dem Unsinn, den er der Kunststudentin und ihren Freunden in den Mund legt, fällt das zunehmend schwer. Und die „Wörtlichkeit” macht auch seine Beschreibung der lesbischen Liebe so traurig. Wie um Missverständnisse zu vermeiden, küssen sich gleichgeschlechtlich Liebende fortwährend. Sie tragen bunte Kleider und Frisuren und sind vorlaut. Waren wir da nicht schon einmal weiter?

Kurz, die ganze Mühe, die Lebendigkeit des Spiels, die 700 Stunden Material bleiben äusserlich. Für ein beobachtendes Kino, für die „Fliege an der Wand” ist Kechiche zu unbescheiden, aber die Charaktere und ihre Konflikte ins Allegorische zu überführen will er auch nicht. Kechiche wirkt wie ein Lehrer, der pausenlos redet, ohne seinen Gegenstand wirklich zu kennen.

Die letzte halbe Stunde habe ich mir dann geschenkt. Ich hatte das Gefühl ich muss gehen, bevor jede Hoffnung auf einen guten Abend verloren ist – und um mir durch das Nicht-wissen einen Ausweg offen zu halten.

12 Dezember, 2013

Ernst Haffner:

Pritzkows Lichtspiele in der Münzstraße 16.

„Das Tageskino Pritzkow in der Münzstraße ist nicht nur Kino, wo Wildwestdramen und Kriminalschmöker gezeigt werden. Es ist auch Wärmehalle und Schlafstelle für solche Begüterten, die die vier Groschen Eintritt erlegen können. Für vier Groschen kann jeder von morgens zehn Uhr bis abends elf Uhr sitzenbleiben, sich das Programm zum sechsten Male vorführen lassen oder auch schlafen. Wie es ihm beliebt. Man zahlt, im Jargon der Stammgäste, auch nicht simples Eintrittsgeld, um nach zwei Stunden wieder zu gehen. Bei Pritzkow zahlt man Schlafgeld und bleibt entsprechend lange sitzen. Knüppeldickevoll ist das handtuchschmale Theater zu jeder Tageszeit. Dicht an dicht sitzen die Jungen und Burschen, starren teils interessiert, teils bereits gelangweilt auf die mißtönende Leinwand oder sitzen schon ihr Schlafgeld ab. Sanft an den Nachbarn, auf des Vordermannes Stuhlrücken gelehnt oder gesenkten Kopfes die Westenknöpfe zählend.

Offenen Mundes sieht Willi Kludas auf die Leinwand. Für ihn ist diese bescheidene Vorführung ein Wunder. Von Tonfilmen hat er überhaupt noch nichts gehört, und diese Mädels da auf der Leinwand ... wie die gebaut sind ... wie alles hüpft an ihnen, wenn sie gehen ... Wie sie sich auf die schicken Kavaliere werfen und sie abknutschen ... verdammt! Und die süßen Stimmen, wenn sie singen ... wie sie die kurzen Röcke werfen beim Tanzen! Wili Kludas rutscht unruhig auf seinem Stuhl hin und her, sein Gesicht glüht, und seine schweißnassen Finger zerren aufgeregt aneinander. Mit so einem Mädel zusammen sein ... so ein Mädel mal zu sehen, wenn ...”


Aus Ernst Haffners schönem Reportageroman „Blutsbrüder”, wiederentdeckt und neu veröffentlicht im Metrolit Verlag.

11 Dezember, 2013

Counter-Cinema


Sehe eben, dass man auf Amazon einen Blick ins Buch von Marco Abel werfen kann. Die Einleitung ist so zwar nicht komplett zu lesen, aber man bekommt einen Eindruck von Abels zentraler These, für die er einigermassen waghalsig meinen Kurzfilm SÉANCE als Denkmodell gebraucht. Abel schreibt für ein akademisches Publikum, aber die Auseinandersetzung mit seiner Sicht auf das deutsche Kino lohnt sich, finde ich, gerade weil es eine Aussenperspektive ist.

Hans Helmut Prinzler bespricht das Buch übrigens hier.

01 Dezember, 2013

Mitbringsel



Wie erwähnt findet noch bis 6. Dezember im New Yorker Museum of Modern Art (MoMA) eine Reihe zur Berliner Schule statt. In den nächsten Tagen werden auch FALSCHER BEKENNER (6.12.2013) und UNTER DIR DIE STADT (1.12.2013) noch einmal zu sehen sein. 

Begleitend zur Werkschau ist ein Buch erschienen (herausgegeben von Rajendra Roy und Anke Leweke), das als schönes Mitbringsel aus New York mein Handgepäck beschwert hat. Ich weiss nicht, ob ich als Beteiligter – ich habe den Text „On Whose Shoulders” beigesteuert – glaubwürdig klinge, aber ich finde, die Sache ist rund geworden. 

Die Beiträge von Thomas Arslan, Valeska Grisebach, Benjamin Heisenberg, Nina Hoss, Dennis Lim, Katja Nicodemus, Christian Petzold und Rainer Rother nehmen jeweils sehr verschiedene, sich ergänzende aber durchaus nicht passgenau abgestimmte Perspektiven ein. Kurz: Ich finde, man kann den Band getrost kaufen oder verschenken, zumal es keine vergleichbare deutschsprachige Publikation gibt.

P.S.:
Die freie Leseprobe erlaubt die Lektüre meines Artikels.