22 Dezember, 2019

Ohne


Wenn ich, als Immer-Brillenträger, doch einmal ohne bin, vermisse ich sofort Gesichter, und wie sie mich betreffen; funktionale Nachteile hat es natürlich auch. Denn ja, so „blind” bin ich. Aber es bedeutet auch Freiheit. Eingetaucht in das Weichbild der Welt scheint der Blick plötzlich nahtlos in alle Richtungen zu fließen, statt durch den Rahmen nur nach Vorne. Und der Mangel an Unterscheidungsvermögen fühlt sich nach Komfort an. Unscharf sehen ist wie eine fremde Sprache hören, man setzt sich dem Klang aus, bekommt ein Gefühl für eine Unterhaltung, muss aber die Einzelheiten nicht verstehen. Die Brille, merke ich dann, ist auch ein Zuchtmeister, Kandare im Maul des Kleppers, der lieber dem Wind folgen möchte. Nach stundenlanger Augen-Treidlerei am Bildschirm jedenfalls ist die Erfrischung willkommen, und ich nehme mir vor, im neuen Jahr öfter randlos rauszugehen – und falls Sie es auch tun, und ich Sie nicht grüße, wissen Sie warum.

10 Dezember, 2019

Welcher Film?



Die hitzigsten Debatten bei uns zu Hause entstehen nicht nach, sondern vor einem Film. Manchmal ist die Frage, welcher Film gemeinsam geschaut werden soll, selbst abendfüllend. Bei meinen Kindern kommen dabei alle Mittel der Diplomatie zum Einsatz, vom Werben mit etablierten Vorzügen („Du magst doch Zeichentrick …”), der spekulativen Kritik („Das ist bestimmt total gruselig, da kannst du nicht einschlafen …”), über den klassischen Kuhhandel („Wenn wir heute ... schauen, darfst du das nächste Mal … sehen”  - siehe Bild), bis zu Bestechung („Du kriegst eine Tafel Schokolade.”) und Erpressung („… sonst verstecke ich dein Handy”).

Ich habe in dieser Meinungsschlacht keinen besonderen Status, im Gegenteil führt mein angebliches Expertentum oft zu Allianzen gegen mich („Heute keine traurigen Filme, Papa.”). Um Patt-Situationen zu entschärfen, haben wir vor einiger Zeit die sogenannte Fünf-Minuten-Regel eingeführt. Ein strittiger Titel bekommt fünf Minuten eingeräumt, um die Skeptiker zu überzeugen. Leider werden manche Filmabende so zu reinem Stückwerk. Aber wenn es dann doch gelingt, einen „Familienfilm” zu finden, der uns vereint, wissen wir wieder, wer wir sind.

25 September, 2019

(Wieder-) Gesehen [12]



AZ ÉN XX. SZÁZADOM (Ildilkó Enyedi, Ungarn 1989)

Geschichte, geträumt.





O PADRE E A MOÇA (Joaquim Pedro de Andrade, Brasilien 1966)

Unglaublich, wie hier die sinnliche Wahrnehmung alles außer Kraft setzt: Sprache, Moral, 'Zivilisation'.



A FUGITIVE FROM THE PAST (Tomu Uchida, Japan 1965). 

Fliehkräfte: Heist Movie, Police Procedural, Sozialdrama. Der Regie gelingt es mit roher Kraft, die komplementären Teile zu einem Ganzen zu zwingen. 



ÖRÖKBEFOGADÁS (Márta Mészáros, Ungarn 1975) 


Eine Frau mit Kinderwunsch verhilft einem Mädchen aus dem Heim zu der ersehnten Hochzeit – und testet so ihren „Mutterinstinkt”. Diese Frauenfreundschaft schildert der Film mit selten gesehener Zärtlichkeit.





RAW DEAL (Anthony Mann, USA 1948). 

Einer jener Noirs, die aus dem eigenen Unbewussten zu kommen scheinen. 

12 August, 2019

Cine-Vodoo


Hurd Hatfield in Albert Lewins Verfilmung von THE PICTURE OF DORIAN GRAY.

Das Kino ist ein Vodoo-Meister, der den Tod betrügt – aber zu welchem Preis? Im Gespräch über Zombie-Filme (einem Genre, in dem ich mich nicht auskenne) fällt mir ein, dass die Untoten in gewisser Weise dem Bildnis des Dorian Gray entsprechen, also vielleicht einfach die andere Seite des Wahns sind, der uns täglich dazu bringt, eine Armee untoter Körper tanzen zu lassen, Schauspieler, die auf unser Kommando, zu unserem Vergnügen jung und schön bleiben, während ihre Körper jenseits der Spiegelachse verfallen oder verwesen. Ob die Toten ihrer Objektivierung im Kino zustimmen würden? In Zeiten digitaler Verjüngung oder Wiederauferstehung stellt sich die Frage noch einmal neu.

31 Juli, 2019

Schreiben über Film



Die neue Ausgabe des Filmbulletins dreht sich ums Schreiben, und dank Lukas Foerster komme ich dort auch zu Wort. Ich bin schon gespannt auf die anderen Beiträge, u.a. von Gerhard Midding, Jean Perret, Vinzenz Hediger, Stefanie Diekmann und Lukas Foerster.

03 Mai, 2019

(Wieder-) Gesehen [11]


YOU WERE NEVER REALLY HERE (Lynne Ramsey, USA 2017)

Nicht zufällig finden sich im Kino so viele Exhibitionisten, die bei jeder Gelegenheit ihre Gefühle ventilieren: in den Kopf einer Figur zu gelangen, die kaum je etwas sagt, von dem, was sie fühlt und denkt ganz zu schweigen, ist nur schwer zu bewerkstelligen. Lynne Ramsey gelingt es, ohne großes Aufhebens darum zu machen. Sie addiert Momente, gibt der Figur (und das heißt hier immer auch dem Schauspieler Joaquin Phoenix) Raum, viele kleine „Ich bin's” zu senden, Gesten, Gangarten, Narben, Ticks. Phoenix ist dabei immer in Deckung, hinter seinem Bart, seinem aufgepumpten Körper, seinen Kleidern, „er hält sich bedeckt”, vorsichtig oder paranoid, das ist lange nicht ganz klar. Und wir lesen ihn, mit Vergnügen, mit Sorge, zunehmend ängstlich, den er hat sich die Falschen zum Feinde gemacht, wie es scheint. Wenn Phoenix einmal mit einem seiner Widersacher, den er gerade tödlich verwundet hat, ein brüchiges Lied anstimmt, ist er wie Frankensteins Monster auf der Blumenwiese: ein Beschädigter, mit der Seele eines Kindes.



ODDS AGAINST TOMORROW (Robert Wise, USA 1959)

Eine Wette gegen die Zukunft. Männer als tickende Zeitbomben. Hauptschauwert: Das Gift in Robert Ryans Adern. Sein Hass gegen sich und Andere, die Gier nach Gelegenheiten, das Gift zu verspritzen, ist eine Sensation. Das Scheitern-Wollen auch, weil er es sich im Selbstmitleid eingerichtet hat. Von seiner Freundin, einer Filialleiterin, lässt er sich aushalten. Den Bruch will er machen, weil diese Abhängigkeit gegen sein Bild von Männlichkeit geht. Und auch die Tatsache, dass er das „Ding” mit einem schwarzen Musiker, Harry Belafonte, durchziehen soll, kränkt ihn. Ryan ist der Skorpion, offen rassistisch, cholerisch, tödlich, Belafonte der Frosch, der ihn über den Fluss trägt, der glaubt, der andere werde zumindest klug genug sein, das eigene Leben nicht wegzuwerfen. Aber der Hass schmeckt süßer, der Skorpion sticht, alles muss untergehen. James Baldwin berühmter Satz – „I imagine one of the reasons people cling to their hates so stubbornly is because they sense, once hate is gone, they will be forced to deal with pain.” – ist das heimliche Motto für diesen Film, den der geniale, in der McCarthy-Zeit mit Berufsverbot belegte Abe Polonski (FORCE OF EVIL) geschrieben hat.



THE BIG RED ONE (Samuel Fuller, USA 1980)

Samuel Fuller ist unverschämt – und diese Haltung ist für einen Kriegsfilm besonders angemessen, scheint mir. Angesichts der Obszönität des Krieges ist der hohe Ton vieler war epics (in Spielbergs SAVING PRIVATE RYAN zum Beispiel, der sich bei diesem Film vielfach bedient hat) selbst geschmacklos. Der Film sammelt rhapsodisch die Abenteuer und Missionen einer Truppe, die, mit der roten Eins gekennzeichnet, immer dort hingeschickt wird, wo es brennt. Dass die Hauptfiguren dabei (größtenteils) am Leben bleiben, verdanken sie keinem Heldentum, keiner besonderen Begabung, und schon gar nicht der Gnade eines Gottes. Eher ist es so, dass ihr Überleben ein schlechter Witz ist, über den man trotzdem lacht. So zeigt sich auch Fuller selbst als viriler Angeber, betont die jüdische Identität im Selbstportrait, um Adolf den Mittelfinger zu zeigen. Der Beruf des Soldaten bleibt dabei immer ambivalent. Man kann ihn nur anständig machen, scheint Fuller zu sagen, wenn man sich von der Illusion befreit, „gut” zu sein. Lee Marvin, in einer seiner besten Rollen, zeigt hier unter der ledrigen Haut immer wieder Zweifel und Staunen, etwa wenn er in einem Panzer den Geburtshelfer spielt (siehe Bild) oder am D-Day junge Rekruten in den sicheren Tod schickt.



SCHWARZER KIES (Helmut Käutner, D 1961)

Der seltene Fall eines deutschen Filmes, der keine Angst vor der Hässlichkeit der Verhältnisse hat. Sein Tonfall ist so umromantisch wie möglich, was die tragische Romantik des Endes vielleicht erst möglich macht. Dreh- und Angelpunkt des Films ist der Verkauf, ein Dorf wird zum Babel, weil die Präsenz der amerikanischen Besatzer den Handel mit bestimmten Waren florieren lässt. Prostitution, Bier und Juke Box prägen das Bild. (Anti-) Held des Films ist der Gewinnler Robert Neidhardt (Helmut Wildt), der den titelgebenden schwarzen Kies verschiebt, und erst in der Wiederbegegnung mit seiner großen Liebe die Defizite des eigenen Arrangements begreift. Nein heißt bei ihm nicht nein, mit allen Mitteln versucht er sie aus dem bequemen Kompromiss ihrer Ehe mit einem amerikanischen Militärfunktionär zu locken. Aber als das lang vereiste, wunde Herz auftaut, sind die Schmerzen unerträglich. Man muss es Käutner hoch anrechnen, dass es in diesem BRD-noir keinen Ausweg gibt, und geben kann.



COVEK NIJE TICA (Dusan Makavejev, Jugoslavien 1965)

Der Mensch ist kein Vogel, weiß schon der Titel. Er kann nicht einfach davonfliegen, die Verhältnisse lassen sich für eine Nacht oder zwei vergessen, aber die Wirklichkeit bleibt bleiern, der Artistik auf der Leiter zum Trotz. Zumindest in der schmutzigen jugoslawischen Provinz, im Schatten des großen Kombinats, in dem der Ingenieur eine neue Turbine installieren soll. So lange diese Aufgabe währt, so lange währt sein Versprechen auf ein anderes Leben. „Ich nehm dich mit”, sagt der Weitgereiste, und vielleicht meint er es wirklich ernst. Aber die junge Friseurin ist klug, sie hält ihre Hoffnung in Schach, kontert sie mit einer realistischeren, lokalen Liebesgeschichte zu einem viel jüngeren Mann, während wir in burlesken Vignetten die Kämpfe einer anderen Frau erleben, deren Mann es sich als mehrfach prämierter „Held der Arbeit” leisten kann, rückständig zu sein.





JOE HILL (Bo Widerberg, USA 1971)

Etwas Schweres leicht nehmen, ohne selbst fahrlässig oder leichtsinnig zu werden, das gelingt Joe Hill – und es gelingt auch Bo Widerberg in diesem schönen Film. Konzentriert auf sein Alter Ego, den Schauspieler Thommy Berggren, der hier eine historische Figur verkörpert, erzählt der Film von einem schwedischen Einwanderer im frühen 20. Jahrhundert, der sich in den USA als Landfahrer und Gelegenheitsarbeiter politisiert, zum Agitator wird und schliesslich für einen Raubmord, den er nicht begangen hat, zum Tode verurteilt wird. Aber der Film hat keinen Plot im klassischen Sinn oder jedenfalls funktioniert er nicht zentralperspektivisch; die Momente, die ihn bestimmen, sind ganz Gegenwart, das Private und das Politische liegen nebeneinander, ohne Hierarchie. Ein Meisterwerk, das keine Ausrufezeichen nötig hat.

23 April, 2019

Suspense


Suspense ist ein Antizipations-Spiel, in dem zwei konträre Ausgänge parallel entwickelt werden. Dabei ist es durchaus nicht immer so, dass uns nur einer wünschenswert erscheint. So will ich zum Beispiel, dass Marion Crane überlebt und will auch, dass Norman Bates den Mord begehtDie Lustangst hofft auf beide vorgedachte Ausgänge, und vielleicht liegt die Spannung in der Unschärfe unserer Wünsche und nicht in der Ungewissheit des Ausgangs. (So ließe sich auch das Paradox auflösen, dass Suspense auch in der Wiederholung funktioniert.) Die Sehnsucht nach Vollendung erkläre ich mir als Ursache-Wirkungs-Romanze: Da wir permanent aus Ausschnitten der Wahrnehmung Zusammenhänge (re-) konstruieren, befriedigt es uns besonders, wenn unserer Antizipation recht gegeben wird, Ursache und Wirkung also eine Liaison eingehen. Ich sehe eine Tür fallen und will sie schlagen hören. Ich sehe einen Revolver, und will dass er feuert. Die Hoffnung gilt der Entladung, jenseits der Moral. 

27 Februar, 2019

Mächtiger als die Zeit



Ich musste beim Wiedersehen von Hitchcocks wunderbaren NOTORIOUS an McLuhan the medium is the message denken und an dessen Bild vom Zug *), dessen Potenz als Medium jenseits der Inhalte liegt - laut McLuhan fällt die „Qualität” der transportierten Passagiere angesichts der tranformativen Logik des Verkehrsmittels selbst nicht ins Gewicht. Auch in Hitchcocks Filmen ist der „Zug” in diesem Sinne fast immer wichtiger als es die Passagiere sind, ja es gehört zum Witz des operativen Kinos dieser Bauart, die Unwichtigkeit der Passagiere = Schauspieler zu betonen. Was nicht heißen soll, dass ihm die Schauspieler egal wären oder dass sie in seinen Filmen nicht gut spielten. Im Gegenteil: sie sind oft überragend, aber darauf kommt es eben nur sehr bedingt an. Von Bressons Modellen zu Hitchcocks 'Cattle' ist es letztlich nicht weit; je entleerter das Spiel, desto wirksamer die dialektischen Mittel. In NOTORIOUS aber ist das komplizierter - der Augenblick ist hier mitunter mächtiger als die Zeit, und natürlich ist es vor allem Bergman, die den Rahmen sprengt. Interessanterweise scheint sie sich weniger auf den Film und ihre Spielpartner als auf das Publikum selbst zu beziehen. Während Grant in guter Hitchcock-Tradition unser neutraler / leerer Repräsentant ist, spielt Bergman nie den Platzhalter unserer Gefühle als vielmehr unser bewusstes Gegenüber. 

*)
„... the “message” of any medium or technology is the change of scale or pace or pattern that it introduces into human affairs. The railway did not introduce movement or transportation or wheel or road into human society, but it accelerated and enlarged the scale of previous human functions, creating totally new kinds of cities and new kinds of work and leisure. This happened whether the railway functioned in a tropical or a northern environment, and is quite independent of the freight or content of the railway medium.”