30 November, 2021

Neuer Atem

Weil es sich wie Verrat anfühlt, wenn einer eine Stadt verlässt, neigen die Übrigbleiber dazu, Gründe zu fordern, die sie entlasten. Als ich im Begriff war, von München nach Berlin zu ziehen, habe ich jedem der es hören wollte versichert, Berlin sei im Vergleich arm, hässlich und vulgär, aber gerade die Bedürftigkeit der Stadt würde mich anziehen. Paris, Rom, Wien und bis zu einem gewissen Grad eben auch München seien vollendete Städte, die schon alles verteilt und alles gesehen hätten und deshalb eine gewisse Gleichgültigkeit gegenüber ihren Bewohnern zeigten, während Berlin auf jeden Neuankömmling angewiesen sei, um endlich Gewissheit über sich selbst zu erlangen. „Berlin braucht mich“, das war die Formel, auf die ich die Anziehung (und meinen Größenwahn natürlich) brachte, und ich habe selbst gerne daran geglaubt.


Aber was einmal eine Stadt der Brachen war, in jedem denkbaren Sinne, ist heute doch weitgehend lückenlos und die Qualität dieser Füllungen lässt sehr zu wünschen übrig. Hans Stimmann, ein Senatsbaudirektor mit anhaltend schlechtem Einfluss, sprach einmal von dem „zahnlückigen” Grinsen, das er der Stadt austreiben wolle, und das scheint fast geschafft. Noch immer ist Berlin eine Stadt der Fragen, aber zu viele geistern schon zu lange durch die Straßen und das Vertrauen, dass es jemanden geben könnte, der sie nicht nur überzeugend politisch beantworten, sondern diese Antworten auch umsetzen könnte, ist in den vergangenen 30 Jahren nicht gewachsen, um es vorsichtig auszudrücken. (Leider macht auch das gerade neu gewählte politische Personal in dieser Hinsicht wenig Hoffnung.)


Natürlich, ich bin jetzt in einem Alter, in dem bestimmte Reserven der Begeisterung verraucht sind (ich werde 50 nächstes Jahr), die Toleranz für Dysfunktionales ist kleiner geworden und das alterstypische Gefühl einer Talfahrt lässt sich nicht mehr so leicht von vieldeutigeren Wahrnehmungen trennen. Aber auch abzüglich dieser subjektiven Eintrübung glaube ich, dass Berlin nicht auf der Höhe seiner Möglichkeiten ist und einen neuen Atem braucht, eine neue Vision, die nicht ständig von der Wiederholung oder Wiederherstellung alter Größe fantasiert, sondern anerkennt, dass 2025 etwas grundsätzlich anderes sein wird als 1890, 1925, 1990. Vielleicht ist „Vision“ auch das falsche Wort. Zu oft wurden menschenfeindliche Konzepte so etikettiert. Sagen wir besser: eine gemeinsame Vorstellung von einer besseren Zukunft.


Was könnte das konkret heißen? Dieser neue Sauerstoff, wie ich ihn mir vorstelle, folgt eher keiner ästhetischen Idee, jedenfalls nicht in einem herkömmlichem Sinne. Natürlich würde die Stadt damit auch anders aussehen, aber als Folge eines bestimmten Prozesses und bestimmter Weichenstellungen, und nicht, weil man sich „Gestaltungssatzungen“ oder dergleichen gibt. Stadt wird in Berlin heute viel zu stark von den „Gehäusen“ her gedacht, anstatt die weichen Faktoren, Menschen, ihre Bedürfnisse, Neigungen und vor allem Beziehungen in den Mittelpunkt zu stellen. Das hat auch mit der gewohnten Langsamkeit von „Stadtwerdung“ zu tun: jede traditionelle Planung muss eine einigermaßen entfernte Zukunft meinen, weil die Umsetzung in der Regel Jahre dauert. Vielleicht hat es auch mit der sehr deutschen Zuneigung zu den Dingen zu tun, die man ob ihrer Haltbarkeit mehr bewundert als die Flüchtigkeit menschlicher Beziehungen. Aber was wäre, wenn es gelänge, in und für die Gegenwart Politik zu machen?


Für ein solches Verständnis, für die Stadt als atmende, temporale Skulptur, das fragile soziale Mobile der Interaktionen ganz normaler Menschen, fehlen die Begriffe, die Instrumente und Ideen. Wir müssten die Politik dafür „verflüssigen“ (um hier einen Begriff zu variieren, den die Piratenpartei einmal geprägt hat), und das Wissen, die Erfahrung, das Leben der Bewohner als politische Ressourcen begreifen. Nicht um sie nach der Art von big data zu berauben, sondern um ihnen etwas zurückzugeben und Verknüpfungen zu begünstigen, und das lokaler, spezifischer und spontaner als je zuvor.


Wir brauchen deshalb ein neues Gleichgewicht zwischen den zu gestaltenden Aufgaben, dem spezifischen Ort und den zur Verfügung stehenden Mitteln in der Zeit. Alles muss ausgerichtet werden am light touch eines klimagerechten, nachhaltigen und gemeinnützigen Wirtschaftens, ja, aber wir brauchen auch ein Politikmodell, das flexibler ist als alle bisherigen. Leitbild muss die spontane, ephemere, nicht-in-Besitz-zu-überführende Stadt sein, im Kontrast zu der schweren, teuren und langsamen Pharaonenpolitik der letzten 777 Jahre, in denen das dynamischste Element die Spekulation war. Wir müssen die Angst verlieren vor dem Provisorischen, dem Wechselhaften und Unsteten, und ich meine Berlin eignet sich für diesen Spurwechsel besser als jede andere deutsche Stadt.


Das soll nicht heißen, dass alles künftig nur noch in Zelten stattfindet. Aber es würde ganz sicher bedeuten, dass Neubau die Ausnahme und Umbau, Zwischen- und Umnutzung die Regel werden müsste, zum Beispiel. Und auch, dass die Stadtverwaltung viel stärker als bisher als „Veranstalter“, aber eben nicht als das eigentliche Ereignis auftreten sollte. Das könnte zum Beispiel heissen, dass das, was heute temporäre Ausnahmen sind (wie zuletzt im ICC) Teil eines permanenten Programmierens oder meinetwegen „Kuratierens” ist, in dem sich die Stadt als Ressource, Koordinator und Veranstalter einbringt, um dem, was gerade „Stadt findet” zu seinem Recht zu verhelfen.


Wie wäre so etwas zu bewerkstelligen? Ich glaube, die skizzierte Idee von Stadt würde nicht zuletzt einen Quantensprung in der digitalen Vernetzung voraussetzen. Nicht ein Internet der Dinge, nicht das kommerzielle Metaverse, das alle Lebensbereiche durchdringt (und vergiftet), sondern ein ziviles, öffentliches „Para-Berlin”, das wie Borges' berühmte Landkarte größer ist als die Wirklichkeit, und auf sie zurückwirkt. Offen, open source, work in progress. Aber auch im realen Raum bräuchten wir andere Werkzeuge der Beteiligung. Ich könnte mir zum Beispiel Laienpolitiker vorstellen, eine Art Schöffenamt, das aleatorisch bestimmt wird...


(wird fortgesetzt)

24 November, 2021

Silberblick

Revolverkino #9 im Gropius Bau

Wir haben es alle als Wahrheit akzeptieren gelernt, dass UdSSR und USA Antipoden waren und in gewisser Weise bis heute sind. Natürlich ahnten wir immer, dass diese im öffentlichen Bewusstsein verankerten Gegensätze in erheblichem Umfang Produkt propagandistischer Anstrengungen sind. Aber wenn nicht alles täuscht, hat sich bis heute, im vierten Jahrzehnt nach Ende des „Kalten Krieges“, keine wesentlich differenziertere Erzählung etablieren können. Dabei haben die beiden Mächte einige Verwandtschaften aufzuweisen, was den kulturellen „Silberblick”, das Schielen auf den Anderen, mindestens zum Teil erklärt. Inspiriert von der Ausstellung „The Cool and the Cold”, in der Spiegelungen und Parallelen in der Bildenden Kunst beider Länder eine große Rolle spielen, möchte Silberblick das Bild mit drei überraschenden Filmpaaren komplizieren und ergänzen.


15.12.2022
















19 h


WILD RIVER (Elia Kazan, USA 1960, 110 Min.) OV


Ein Flussufer wird enteignet, um Flutschäden vorzubeugen. Montgomery Clift spielt den Funktionär einer staatlichen Agentur, der die letzten, störrischen Individualisten zum Umzug bewegen soll. Die staatliche Fürsorge, so zeigt sich, bringt Fortschritt, aber vertieft auch den Zwiespalt, der sich ergibt, wenn man Menschen zum Glück zwingen will. 


&


















21.30 h


DIE ABENTEUER EINES ZAHNARZTES (Похождения зубного врача, Elem Klimov, UdSSR 1965, 82 Min.) OmeU


Ein satirisches Märchen: Der junge Zahnarzt Česnokov (Andrey Vasilyevich Myagkov) hat die Gabe, schmerzfrei Zähne zu ziehen. Seine Kollegen fürchten um ihre Existenz und schmieden eine Intrige. Wo kämen wir hin, wenn zufälliges Talent all das Fachwissen ruinierte? Die Zensur konnte über den Film nicht lachen und verbot ihn.



16.12.2021



















19 h


COMING HOME (Hal Ashby, USA 1978, 127 Min.) OV


Weil ihr Mann in Vietnam ist, macht sich Sally (Jane Fonda) als Freiwillige im Krankenhaus für Veteranen nützlich. Dort trifft sie auf ihre Highschool-Liebe, den eine Verwundung an den Rollstuhl gefesselt hat. Die alten Gefühle erwachen wieder – aber was passiert, wenn ihr Mann zurückkehrt? Zwei Arten von Geschichten gibt es nach Tolstoi: Weggehen und Wiederkommen. Coming home ist einer jener raren Kriegsfilme, die das Wiederkommen in den Mittelpunkt stellen und war die erste Auseinandersetzung mit dem Vietnamkrieg im US-Kino.


&


















21.30 h


FLÜGEL (Крылья, Larisa Shepitko, UdSSR 1966, 85 Min.) OmeU


„Der große Krieg” ist in der kleinen Stadt schon Legende geworden, und die ehemalige Pilotin Nadezhda Petrukhina (Maya Grigoryevna Bulgakova) zu seiner Heldin. Aber auch wenn die neue Generation, zu der auch ihre Tochter gehört, sie am Liebsten in „Überlebensgröße” ins Museum bannen würde – sie ist noch am Leben und kann sich mit der Rolle eines wandelnden Denkmals nicht abfinden. Larisa Shepitkos introspektiver Debütfilm ist große Porträtkunst; er kündigt ein Werk an, das durch den frühen Unfalltod der Regisseurin jäh unterbrochen wurde.



17.12.2021

















19 h


NORMA RAE (Martin Ritt, USA 1979, 114 Min.) OV


Mit Norma Rae macht Ritt den Versuch, amerikanisches Erzählen („You can make it, if you really want.”) mit einem gewerkschaftlichen, vielleicht sogar: sozialistischen Plädoyer zu verbinden. Und das gelingt, auch weil Sally Field als „Norma“ den exemplarischen Charakter des Drehbuchs sprengt: eigensinnig, lebenshungrig, solidarisch, eckt sie an in der Südstaaten-Kleinstadt, in der alle in der Textilfabrik arbeiten, geknechtet von der Wiege bis zur Bahre. Als mit einem New Yorker Gewerkschaftsaktivisten plötzlich ein Weg sichtbar wird, die feudalen Fesseln zu sprengen, erwacht Norma als politisches Wesen. Und kämpft.


&




21.30 h

KLEINE VERA (Маленькая Вера, Wassili Pitschul, UdSSR 1988, 128 Min.) DF

– wir zeigen die deutsche Synchronfassung (!)


Der Ärger beginnt mit einer Dollarnote. Die Eltern finden sie unter Veras Sachen – und machen sich Sorgen. Vera (Natalja Igorewna Negoda) will anders leben und lieben als ihre Eltern oder ihr „vorbildlicher” Bruder. Sie will nicht warten, nicht brav sein, kleidet sich wie westliche Popstars und handelt auch so. Die alten Werte gelten nicht mehr in der späten Sowjetunion, aber ist deshalb schon alles möglich? Vera jedenfalls will es wissen – mit tragischen Konsequenzen. Der Film war Skandal und rasender Erfolg 1988, über 45 Millionen haben ihn damals in Russland im Kino gesehen.


---


Revolverkino im Gropiusbau, Niederkirchnerstraße 7, 10963 Berlin.


Es gilt 2G-Plus (Geimpft/Genesen PLUS tagesaktuelles Test-Zertifikat). Der Eintritt ist frei. Tickets via https://tickets.kbb.eu/kbb.webshop/webticket/




10 November, 2021

Weiße Splitter

In steinerner Schönheit lag sie, ausgestreckt auf dem billigen Gartenstuhl, den der Vormieter auf dem Balkon zurückgelassen hatte. Die Plastikbespannung würde auf ihren Schenkeln das bekannte Muster hinterlassen, Druckstellen eines empfindsamen Steines. Sie ist so seltsam, dachte er. Mühelos fähig, die Zeit anzuhalten. Mit sanftem Klingelzeichen unterbrach die Mikrowelle den Strom seiner Betrachtungen. Er wandte sich langsam ab und verzog das Gesicht: Muskelkater war die hinreißend triviale Erklärung des Arztes gewesen. Er hatte sich nie für sportlich gehalten und dass ein defekter Fahrstuhl so reale Auswirkungen auf sein Leben würde haben können - amüsierte ihn. 

Er öffnete die Mikrowelle und sog den zuverlässigen Geruch der Fertiglasagne ein. Wenn Erinnerung eine Landkarte war, die über die Nase erschlossen wird, dann hatte er das menschenmögliche getan, den Kontinent zu verlassen. Zwei Gabeln, zwei Servietten. Sein Schritt knirschte auf dem lückenhaften Fliesenboden. Helena hatte unmerklich aus ihrem Ruhezustand in eine Haltung gefunden, die ihr die Nahrungsaufnahme gestattete. Sie verzog keine Miene. Das Essen verlief pragmatisch: Auf das Abtrennen eines mundgerechten Stückes folgte gründliches Kauen. Es war sein geheimes Vergnügen, das mimische Vokabular ihres stoischen Gesichts zu deklinieren. 

Der Abendhimmel hüllte sich in Pelz, bevor aus feinziselierten Wolkentieren verwechselbares Dunkel wurde. Das leise Vibrato eines Nebelhornes erzählte vom Meer. Er genoss den leisen Schmerz, den seine Schenkel aussandten. Sechs Stockwerke dachte er, vielleicht drei Meter das Stockwerk, eine Stufenhöhe von 15 Zentimetern, also etwa 20 Stufen das Stockwerk, macht 120 Stufen. Morgenzeitung: 240 Stufen, Frühstückseinkauf, die Besprechung mit Nyva, Zweiter Einkauf, Spaziergang: allein gestern war er 720 Stufen älter geworden, mindestens. Die Treppen zum Büro nicht mitgerechnet. Ein Stück Pizza = 15 Minuten Cardiostep drohte das Fitnessstudio um die Ecke - diese Lasagne konnte er sich wirklich leisten. 

 

Dann geschah etwas Unerwartetes. Helena würgte, rang gespenstisch heiser nach Luft, um wenig später in ein hysterisches Lachen auszubrechen. Er erhob sich, würdigte sie keines Blickes und schwang sich mit einer Jugendlichkeit, die nichts als Behauptung war, auf ihr Fitnessfahrrad. Für eine kurze Weile bearbeitete er das verstaubte Tretgerät mit lächerlicher Vehemenz. „Du weißt es schon die ganze Zeit”, schrie er plötzlich. „Von Anfang an hast du es gewusst.”

 

Sie lagen sich jetzt keuchend in den Armen. Fliesensplitter in seiner Armbeuge, dachte sie. Kleine weiße Splitter. Er redete von der elektrisierenden Spannung ungeteilter Geheimnisse und davon, dass sie, trotz allem, ein offenes Buch für ihn wäre. Sie stellte sich vor, wie er, stockend zwar, aber erfüllt von unerbittlichem Wissensdurst, in ihrem Buch läse und die langweiligen Stellen einfach übersprang. Wahrscheinlich würde er nicht zögern, mit seinem Bleistift blöde Zusammenhänge herzustellen, „sein Buch” daraus zu machen, wie er das noch mit den größten Heroen ihrer Bücherkiste machte. „Einfach gehen” sagte er jetzt. „Einmal das Melodram ungedacht und unbenutzt lassen.” Aber sie wusste keinen Weg aus dem Mikrokosmos ihres Denkens und wollte keinen wissen.

 

Er neigte zu Experimenten. Auf dem Küchentisch hatte er eine Batterie leerer Orangensaftkartons aufgestellt, die er mit einer Schere geköpft hatte, so dass man Zeuge blühender Schimmelkulturen wurde. Garten nannte er dieses Unterfangen, das den Tisch unbenutzbar machte und darüber hinaus für einen männlichen Geruch sorgte, den nur er „apart” fand. Heute, nach genau 26 Tagen, sollte es sein neuestes Experiment ein exaktes Ende finden. „Wenn eine Ameise ein Schneckenhaus erforscht,” sagte er, „sieht sie sich mit der kontinuierlichen Verengung ihrer Perspektive konfrontiert. Das macht den Rückweg zur Offenbarung”. Im Nutzlosen war er Meister. „Aber wir bemerken das Schneckenhaus gar nicht.” „Schneckenhaus” sagte sie sanft und biß tief in seine Unterlippe. Es tat weh. Aber war es wirklich? „Der Wind durchquert mich”, dachte er, „nichts hält mich auf.”

 

Am Morgen des 27. Tages erwachte er im Netz ihrer Blicke, gefangen. Es musste Liebe sein.


---


Fundstück aus der Studienzeit, geschrieben ca. 1998 für den Erzählband „Liebe”, herausgegeben von der Abteilung Dramaturgie an der HFF München.