22 Januar, 2025

Und oder oder?

Schizophrene Kontroverse. Ein Selbstgespräch.



C: Du hast gerade einen französischsprachigen Film gemacht. Warum?


H: Ich wollte einen Film in Brüssel machen. Und ich habe Anschluss gesucht an den film polar. Der Gangsterfilm hat keine Tradition im deutschen Kino, der Krimi ist nur im Fernsehen zuhause.


C: Brüssel fasziniert dich, aber gelebt hast du dort nie. Dein Französisch lässt zu wünschen übrig. Läge es nicht näher, von Dingen zu erzählen, die dir wirklich vertraut sind?


H: Ich hätte mir nicht ohne weiteres zugetraut, einen alltagsrealistischen Film in Brüssel zu machen. Aber dieser Film spielt gewissermaßen in „Movieland”. Dort fühle ich mich durchaus zuhause.


Delphine Bibet in LA MORT VIENDRA (D/LUX/B 2024).


C: Aber gibst du da nicht ohne Not ein Pfund aus der Hand?


H: Welches Pfund wäre das?


C: Das intime Wissen, das du hast, über die Art, wie wir sprechen und leben, über deine kulturelle Sphäre.


H: Das kann entscheidend sein, aber nicht für jedes Projekt auf die gleiche Weise. Im Übrigen hat es mich immer gereizt, in fremden Städten Filme zu machen. Es geht mir oft so, dass sich für mich Fiktionen müheloser verbinden mit Orten, die ich nicht so gut kenne. Ich habe auch nie in Mönchen-Gladbach oder Frankfurt gelebt. Spekulation ist die kleine Schwester der Fiktion. 


C: Ich sehe da schon Unterschiede. Die Spekulation ist ein Gerücht, das sich verselbständigt. Je weniger informiert die Spekulation ist, desto mehr. Die Fiktion dagegen versucht Erfahrungen zu verdichten, sucht also nach einer mindestens metaphorischen Wahrheit. 


H: Aber die Frage ist doch, auf welcher Ebene das geschieht. Das ist noch kein Plädoyer für einen realistischen Film oder einen Film in der eigenen Sprache.


C: Würdest du sagen, du hast einen deutschen Film gemacht?


H: Das ist keine Frage, die mich um den Schlaf bringt. Im juristischen Sinne ist es ein deutscher Film. Ich bin ein deutscher Regisseur. Mit anderen deutschen Filmen haben meine Filme womöglich ein paar Gemeinsamkeiten. Ich könnte sie aber nicht benennen. Du?


C: Was deine Filme mit anderen gemeinsam haben, ist vielleicht nicht die interessanteste Frage.


H: Sondern?


C: Wie du dich so herausfordern kannst, dass du deine Möglichkeiten ausschöpfst.


H: Ich bin ziemlich glücklich mit dem Ergebnis.


C: Das will ich dir nicht ausreden, aber ich finde, du solltest versuchen, ein spezifisch deutsches Kino zu machen, ein Kino als Spiegel, in dem sich dieses Land auf eine Weise erkennt, dass es den Wiederschein auch annehmen kann. 


H: Puh. Es stimmt auf jeden Fall, dass die guten deutschen Nachkriegsfilme selten wirklich angenommen wurden. Vielleicht ja, weil das deutsche Publikum sich nicht erkennen möchte.


C: Jedes Publikum möchte sich erkennen.


H: Womöglich hat die Katastrophe unserer Geschichte da etwas beschädigt? Die 100 erfolgreichsten deutschen Filme der Nachkriegszeit sind jedenfalls nicht nur nicht identisch mit den 100 besten – es scheint kaum eine Berührung zu geben, so subjektiv jedes Qualitätsurteil auch sein mag. Das ist in anderen nationalen Kinematografien deutlich anders, finde ich.


C: Dann waren es noch nicht die richtigen Filme. Vielleicht, weil sie nicht den mythischen Kern getroffen haben, so wie es dem französischen, italienischen oder amerikanischen Kino immer wieder gelungen ist. Für das amerikanische Kino könnte man John Ford oder Steven Spielberg nennen. Im französischen Kino gehen Jacques Becker, Jean-Pierre Melville und François Truffaut in diese Richtung zum Beispiel.


Hanna Schygulla in RW Fassbinders DIE EHE DER MARIA BRAUN (BRD 1979).


H: Es gab aber doch auch sehr gute deutsche Filme nach 1945. Nehmen wir Fassbinders DIE EHE DER MARIA BRAUN (BRD 1979). Einer seiner erfolgreichsten Filme, er hatte 1,8 Millionen Zuschauer in Deutschland, heute völlig undenkbar für einen anspruchsvollen deutschen Film. Im Ausland, insbesondere in Frankreich, ist der Film ein Klassiker, der das Bild mitprägt, das sich die Franzosen von uns machen. Aber hierzulande ist er eher nicht Teil der kollektiven Erinnerung geworden. Man hat sich in diesem Spiegel, um in deinem Bild zu bleiben, nicht erkennen wollen.


C: Das ist ein toller Film, finde ich auch. Und dass er erfolgreich war, ist doch ein gutes Zeichen. Aber mythisch ist er ja gerade nicht. Eher: anti-mythisch. Ein gebrochener Spiegel.


H: Definiere „mythisch”.


C: Ein Kino, das auf Archetypen setzt und dabei lebensbejahend ist. Ein Kino, das Geschichte als Heldengeschichte denkt. Ein Kino, das als positive Selbstvergewisserung funktioniert. 


H: Klingt reaktionär.


C: „Heldengeschichten” heißt nicht Siegfried. 


H: Aber ich möchte doch über die nationale Perspektive hinaus!


C: Nach Hollywood?


H: Nein, aber hin zu einer europäischen Form, in der Art, wie das im Hollywood der späten 20er und bis in 50er Jahre möglich war. Da haben Exilanten – Deutsche, Österreicher, Ungarn usw., eine Form gefunden, globales Kino zu machen, in dem ihre kontinentale und individuelle Erfahrung aufgehoben war. Jenseits der Realismen. Also FW Murnau, Ernst Lubitsch, Josef von Sternberg, Otto Preminger, Fritz Lang, Billy Wilder, Douglas Sirk und all die anderen.


C: Und wie kommen wir in dieses Paradies?


H: Nicht über Nacht, das ist klar. Aber ich glaube wir brauchen dafür endlich einen integrierten europäischen Markt, eine europäische Filmindustrie.


C: „Europudding” nannte man das früher.


Danielle Darrieux in Max Ophüls' MADAME DE... (F 1953).

H: Ein böses Wort, das den Filmen nicht gerecht wird. Viele der besten Filme aller Zeiten waren „transnational” europäisch, ich denke jetzt an Max Ophüls’ französische Filme zum Beispiel, auch wenn mit „Europudding” meistens Filme aus späteren Jahren gemeint sind. 


C: Ich würde die Tatsache, dass Ophüls und andere ins Exil gezwungen wurden, nicht vermischen wollen mit der Frage nach der kulturellen Identität. 


H: Aber ganz sicher hat das Exil die betroffenen Regisseure gezwungen, über eine Form jenseits nationaler Kategorien nachzudenken. Und es ist ja nicht so, dass es keine guten Beispiele für transnationale Projekte jenseits des Exils gibt. Bernardo Bertoluccis ULTIMO TANGO A PARIGI (I, F 1972) oder Istvan Szabós OBERST REDL (Ungarn, Ö, D, 1985) fallen mir ein.


C: Sind das nicht eher die rühmlichen Ausnahmen? Wikipedia definiert „Europudding” so: „international produzierte europäische Filme (...), die alle kulturellen Eigenheiten eingebüßt haben, um eine möglichst große Anpassung an unterschiedlichste Märkte zu gewährleisten”. Aber du plädierst trotzdem für einen weniger individuellen, paneuropäischen Film?


H: Wieso weniger indiviuell? Nur weil ich nicht die nationale Karte spiele?


C: Ich fühle mich mißverstanden. Ich halte den Nationalstaat nicht für das relevante „kulturelle Gefäß”. Es geht mir um eine spezifische Kultur, die sich in Sprache, Mentalität, sozialer Praxis niederschlägt. Das macht doch den Reichtum von Film aus. 


H: Ich glaube, du musst konkreter werden.


Manfred Krug in Frank Beyers SPUR DER STEINE (DDR 1966).


C: Nehmen wir einen Film wie SPUR DER STEINE von Frank Beyer (DDR 1966). Dem Film gelingt es, Geschichte und Mythos zu versöhnen und ein glaubwürdiges „Wir” zu konstruieren, finde ich.


H: Wurde er deshalb verboten?


C: Vielleicht. Mythos war ja das letzte, was die DDR produzieren wollte.


H: Okay, SPUR DER STEINE ist super, und bestimmt auch, weil er so spezifisch ist in Bezug auf das Leben in der DDR damals. Aber was leiten wir daraus ab? Dass alle Filme so sein sollten?


C: Nein, nicht alle Filme. Aber ich glaube, das amerikanische und auch das französische Kino ist so stark, weil es auf dem breiten Rücken mythischer Filme eine Tradition des Erfolges begründen konnte. Daneben ist natürlich auch Platz für Häresien, für Außenseiter und Subversive.


H: Würdest du Max Ophüls zu den Häretikern zählen?


C: Eher ja. Seine Filme sind ja so etwas wie geträumte Psychoanalyse – und das Analytische in seinem Kino ist womöglich stärker als der Traum.


H: Dann wäre das geklärt. Wenn ich dich richtig verstehe, möchtest du mich auf die „mythische” Seite ziehen. Meine bisherigen Filme sind aber eher keine Bewerbungen für so ein Kino, oder?


C: Das nicht, aber ich glaube, dass deine eigentlichen Talente im mythischen Spektrum liegen. Du weißt es nur noch nicht.


H: Interessant. Aber mal im Ernst. Für ein mythisches Kino, wie du es beschreibst, fehlen in unserer „Zufallsgärtnerei” die Voraussetzungen. Das Publikum meidet den deutschen Film, die Förderstrukturen sind passiv, die Branche – von einer Industrie müssen wir nicht reden – hat nicht die Ressourcen und die Professionalität, zu fordern und zu fördern, und so bleibt den Filmemacher*innen nur, Ansprüche an sich selbst zu formulieren, was regelmäßig zu wenig ist.


C: Um die Beschreibung der Talsohle zu vervollständigen, zitiere ich dich: „Wir haben eine Filmkultur, die in ihren besten Momenten bescheiden ist, während das Unbescheidene fast immer ohne Ambition bleibt.” Daher meine Forderung, den deutschen Film auf eine neue Basis zu stellen und endlich den albernen Gegensatz von U und E zu überwinden. 


H: Jetzt bin ich gespannt auf deinen Plan.


C: Es gibt noch keinen Plan. Solange du nicht überzeugt bist, wäre das auch schwierig.


H: Ich schlaf mal drüber, würde ich sagen.


C: Mehr wollte ich nicht erreichen.



Das Selbstgespräch fand virtuell am 22.01.2025 statt. Protokoll: C & H.

09 Januar, 2025

„Bis ans Ende der Nacht” @ ARTE


Sendehinweis: Mein Film BIS ANS ENDE DER NACHT (D 2023) wird am Mittwoch, den 05.02.2025 um 20.15 h auf ARTE ausgestrahlt und parallel auch in der ARTE Mediathek verfügbar sein.

Darsteller: Timocin Ziegler, Thea Ehre (die für ihre Darstellung den Silbernen Bären gewonnen hat), Michael Sideris, Rosa Enskat, Aenne Schwarz, Ioana Iacob, Gottfried Breitfuss, Ronald Kukulies, Sahin Eryilmaz, Andreas Grusinski, Kasem Hoxha u.a.

Produktion: Bettina Brokemper, Regie: Christoph Hochhäusler, Drehbuch: Florian Plumeyer, Besetzung: Ulrike Müller, Kamera: Reinhold Vorschneider, Ton: Jörg Kidrowski, Szenenbild: Renate Schmaderer, Kostümbild: Ulrike Scharfschwerdt, Maskenbild: Elisabeth Dietrich, Montage: Stefan Stabenow, Sounddesign: Matz Müller & Rainer Heesch, Mischung: Hubertus Rath, Musik Supervision: Martin Hossbach, Colorist: Dirk Meier.

06 Januar, 2025

(Wieder-) Gesehen [24]


THE PIRATE (Vincente Minnelli, USA 1948)

Er (Gene Kelly als „Serafin”) ist Schauspieler und kann alles sein, was sein Publikum begehrt. Solange er die Traumbilder identifizieren kann, ist er unwiderstehlich, glaubt er. Sie (Judy Garland als „Manuela”) träumt vom legendären Piraten Macoco und verrät Serafin davon unter Hypnose – gerade, als sie im Begriff ist, einen Langweiler zu heiraten. Doch dieser Langweiler, (Walter Slezak als „Don Vargas”), ist niemand anderes als der berühmte Pirat, inzwischen alt und „respektabel” geworden. In einer Reihe von Verhandlungen treten in dem Film Fantasie und Wirklichkeit in Konkurrenz. Minnelli, könnte man sagen, sieht beide Kräfte ebenbürtig, verurteilt aber die Politisierung der Sehnsucht. Zwar ist der wahre Pirat, der sich als Besitzbürger tarnt, ganz klar die erbärmlichere Figur als der Schauspieler, der den Piraten gibt, um dessen Verlobte zu erobern. Aber als Korrektur der romantischen Vorstellung eines Piraten ist er andererseits unverzichtbar. Ein dialektisches Musical, das auch über die Bedingungen der Publikumsgunst reflektiert – und übrigens ein großer Misserfolg war. Zu Unrecht!


WESTWARD THE WOMEN (William Wellman, USA 1951)

Ein großer, figurenreicher Western, der die Strapaze, die es bedeutet, einen Planwagen über unwegsames Gelände zu bringen, zu einem (immer auch dokumentarischen) Spektakel macht, in dem sich die Charaktere zeigen. Und weil es sich mehrheitlich um Frauen handelt, die hier ihre Rollenbilder sprengen müssen, wenn sie überleben wollen (vielleicht, weil sie einen Mann zum Lehrmeister und Regisseur haben), ist es auch ein Film über die Frage, was eine Frau eigentlich ausmacht. Dass Wellman die Antwort weitgehend offen hält, macht den Film so wirksam – und so vergnüglich. Große Empfehlung!


LISSY (Konrad Wolf, DDR 1957)

Sich Illusionen leisten zu können: das ist der Komfort des Bürgertums. Lissy (Sonja Sutter) ist eine weitgehend passive Figur in dem Film, man könnte vielleicht sagen: wenn sie für etwas kämpft, dann dafür, passiv bleiben zu können. Doch der Preis dafür ist hoch. Erst gegen Ende des Films – die Nazis sind längst an der Macht, der Bruder ist tot – begreift sie ihre falschen Prioritäten. Trotz der in einem DEFA-Film erwartbaren Parteinahme für die Kommunisten (deren Anteil am Ende der Weimarer Republik unterschlagen wird) macht der Film den Erfolg der Nazis aus einer kleinbürgerlichen Perspektive plausibel.


AMERICA, AMERICA (Elia Kazan, USA 1963)

Extrem ambivalente, so episch wie langatmige Geschichte einer Obsession mit „America“. Anhand der Emigrationsgeschichte seines Onkels versucht sich Kazan, so habe ich es verstanden, an der Diagnose einer charakterlichen „Familienkrankheit“ zwischen Fügsamkeit und Verschlagenheit – und grundiert von einer tiefen Scham. Dass Kazan dabei mitunter problematisch stereotypisiert – vor allem das antitürkische Zerrbild eines Diebes ist schwer erträgliche Propaganda – passt ins Bild. Auch habe ich selten eine so unangenehme, weil mit sich im Unreinen befindliche Hauptfigur erlebt. Wenn Stavros (Stathis Giallelis), ein griechischstämmiger, schweigsamer junger Mann aus Anatolien, seiner Verlobten (deren bzw. ihrer Eltern Gunst er sich erschlichen hat) einschärft, sie dürfe ihm niemals vertrauen, scheint der Regisseur von sich selbst zu sprechen. Diese Erzählhaltung nötigt mir, bei allem Unbehagen, Respekt ab; der „amerikanische Traum” ist hier zuallererst ein Traum gegen die Wirklichkeit, eine Verkehrung alter Werte. Stavros, angewidert von der übergroßen Nachgiebigkeit seines Vaters, leidet in der Türkei unter der Verleugnung seiner (griechischen) Identität. Und doch ist er auf dem Weg ins gelobte Land und später in New York zu einer viel radikaleren Verleugnung bereit. Von einer Maske der Unterwerfung – in der, so rechtfertigt es der Vater einmal, die Würde im Innern (womöglich) unangetastet bleibt – gelangt er zu einer Maske, hinter der sich nichts mehr verbirgt, grenzenlos opportunistisch.


DIE ERMITTLUNG (Lothar Bellag, Konrad Wolf u.a., DDR 1965/66)

Am 19.10.1965 wurde Peter Weiss' „Die Ermittlung” in einer Art Ring-Premiere an fünfzehn west- und ostdeutschen Theatern (sowie an der Royal Shakespeare Company in London) gleichzeitig uraufgeführt, darunter auch in der DDR-Volkskammer, auf einer improvisierten Bühne, wo im Stile des Live-TV mitgeschnitten wurde. Ganz verschiedene Sprecher und Sprechweisen, die verschiedensten Lebenswege repräsentierend, wirken mit an der Aufführung des schwer erträglichen Stücks (das Protokolle des Frankfurter Auschwitz-Prozesses verdichtet), es lesen Schriftsteller, Bildhauer, Schauspieler, alt und jung. Von einem „Film” im engeren Sinne muss man nicht sprechen, aber es ist ein ergreifendes Dokument, auch weil die Auseinandersetzung mit der Katastrophe unserer Geschichte hier wirklich ein gesamtgesellschaftliches Anliegen zu sein scheint.  


BARIERA (Jerzy Skolomowski, Polen 1966)

Ein entgrenztes Spiel mit Bildern, die zunächst nichts zu bedeuten scheinen, aber dieses „Nichts“ ist wie oft bei Skolomowski ein vertrackter, kippeliger Zustand. Gewalt, Wettbewerb und Umkehrung sind die größten Konstanten, werden wieder und wieder dekliniert. Beinahe alle Sprechakte bleiben hypothetisch, tendieren in die Abstraktion, oft kontrapunktisch zum Bild. Der Film, immer Ernst und Spaß zugleich, weigert sich, zu erzählen und erzählt gegen diese Weigerung an, ruft Symbole auf und widerruft sie. Wohl auch, weil die unsichtbare Barriere, der Säbel über dem Film, die Zensur war. Aber ist nicht gerade die Aufhebung aller Festlegungen „blasphemisch”?


VAN GOGH (Maurice Pialat, F 1991)

Realismus als ein Auf-nichts-Hinauswollen: gerade weil der Film die letzten Tage erzählt, durchkreuzt er alle Fluchtlinien. Über 2 1/2 Stunden sehen wir keine dramatischen Ereignisse, keine entscheidenden Augenblicke, nichts läuft auf den bekannten Suizid zu, stattdessen sehen wir Szenen aus einem Leben, das erschöpft scheint. Dutronc spielt den berühmten Maler als defizitäre Figur, als hätte er keine Kraft und keinen Ehrgeiz, überzeugen zu wollen; oft im Bild, aber die Erwartungen, auch unsere, verneinend. Und Pialat betont diese Reserve, indem er sie scheinbar mit einem Schulterzucken hinnimmt. Andere Figuren gewinnen mehr Präsenz im Vergleich – eine Offenbarung war für mich „Jo” (Corinne Bourdon), van Goghs Schwägerin – so dass Van Gogh selbst eher als Schatten oder in der Ausweichbewegung kenntlich wird denn mit eigenen Zielen oder Handlungen. In der Summe entsteht ein „lebensechtes” Porträt, skizzenhaft, andeutungsweise, widersprüchlich. Ob er „wirklich” so war ist nicht entscheidend, aber ja, so könnte er gelebt haben.


THE EXPLANATION FOR EVERYTHING (Gábor Reisz, Ungarn 2023)

Ich habe diese im Detail schön erzählte und gut besetzte, multiperspektivische Schilderung eines kleinen Schulskandals als politischen Relativismus empfunden. Als wäre Orbans Ungarn mit der Erkenntnis zu helfen, dass auch der politische Gegner menschlich und mitunter allzu menschlich ist. In diesem Vorschlag zur Güte – Überraschung: jeder hat seine Gründe – verbirgt sich ein falscher Kompromiss. Denn warum von dieser Petitesse erzählen, wenn „im Zimmer nebenan”, im Off des Films, wesentliche demokratische Errungenschaften gezielt zersetzt werden?