24 August, 2022

Klassizismus (2)

Ein bayerisches Double für's Brandenburger Tor, gebaut für Billy Wilders ONE, TWO, THREE.

Klassizismus heißt letztlich nichts Anderes, als das Werben um Vertrauen, das jeder Formgebung wesentlich ist, abzukürzen. 

Der Trick besteht darin, würdiges Alter vorzutäuschen, in der Hoffnung, das Publikum möge es mit Respektabilität verwechseln.


Die Gefahr ist natürlich, dass die Sache hohl tönt und die „klassische“ Form als gedankliche Trägheit entlarvt wird.


Trotzdem kann es produktiv sein, die Patenschaft der Tradition anzurufen – und womöglich besonders dann, wenn der „Inhalt“ neu und unerhört ist.


Jedenfalls wird jemand, der dringende Botschaften hat, breite Brücken zum Zuschauer willkommen heißen. 


Sozialistischer Realismus? Die Debatte hat die gleichen Wurzeln. 


*


Das Thema treibt mich um. Nicht nur gibt es (wie ich gerade feststelle) einen weiteren Post unter dieser Überschrift (Klassizismus2006), auch dieser Redesplitter (Digital Gotham, 2017) berührt die Frage und über Martin Ritts NORMA RAE habe ich hier im Blog geschrieben: „vielleicht ist die formale „Stabilität“ dem reaktionären Gegenwind geschuldet, mit dem Ritt (der in den 50ern ein Opfer der Blacklist war) immer rechnen musste”. In Revolver Heft 30 stelle ich folgende Frage an Ula Stöckl: „Welche Form oder Sprache muss man verwenden, um gehört zu werden?” Ula Stöckls Antwort: „Das ist auch wieder ein Kluge-Satz: „Man kann nicht zwei Dinge gleichzeitig tun“. Man kann nicht Form und Inhalt verändern. Und das ist natürlich eine Todsünde, die wir begangen haben. Wir haben Form und Inhalt erneuert.”

18 August, 2022

Schau | Werte


Judith Ellenbürger von der Universität Hamburg hat ein Buch über die „Bild- und Mediendiskurse des Geldes“ geschrieben.
Das Umschlagsbild von Schau | Werte stammt aus meinem Film UNTER DIR DIE STADT (D 2010), der auch ein Untersuchungsgegenstand ist.

14 August, 2022

(AT)

Polnisches Plakat von Teresa Byszewska für 
FILM OHNE TITEL (Rudolf Jugert, D 1948).

Ein guter Titel funktioniert wie eine Startrampe, ein Portal, eine Abkürzung, verschafft mühelos Zugang zu einer verwickelten Sache, macht neugierig, ohne das Geheimnis zu verraten. Mehr noch: er lädt die kommende Begegnung auf, polt die Erwartung, kapert unsere Fantasie. Man erkennt ihn, wenn man ihn hört oder sieht – aber Kriterien zu definieren ist unmöglich, auch weil der Titel sich (im Idealfall: untrennbar) mit dem betreffenden Werk verbindet, und der kulturelle Kontext eine wichtige Rolle spielt.


Hier ist meine spontane Titel-Top 10, chronologisch sortiert:


TROUBLE IN PARADISE (Ernst Lubitsch, USA 1932)

LA RÈGLE DU JEU (Jean Renoir, F 1939)

REBELS WITHOUT A CAUSE (Nicholas Ray, USA 1955)

IMITATION OF LIFE (Douglas Sirk, USA 1959 - aber der Titel ist älter)

ICH BIN ZWANZIG (Marlen Khutsiev, UdSSR 1965) – noch besser als ICH WAR NEUNZEHN (Konrad Wolf, DDR 1968), finde ich

ABSCHIED VON GESTERN (Alexander Kluge, BRD 1966) 

L’ARMÉE DES OMBRES (Jean-Pierre Melville, F 1969) 

TODO SOBRE MI MADRE (Pedro Almodóvar, Spanien 1999)

HAT WOLF VON AMERONGEN KONKURSDELIKTE BEGANGEN? (Gerhard Friedl, D 2004)

LA MUJER SIN CABEZA (Lucrecia Martel, Argentinien 2008)




Siehe auch meine Posts zum Thema Trailer & Plakat.

08 August, 2022

Ehrgeiz

Der bayerische König Ludwig I. hat seinen Geltungsanspruch einmal so formuliert: „Ich will aus München eine Stadt machen, die Teutschland so zu Ehren gereicht, dass niemand sagen kann, er kenne Teutschland, wenn er München nicht gesehen hat!“ 

Könnten wir uns diesen Ehrgeiz nicht zu eigen machen und aus dem deutschen Gegenwartskino „ein Ereignis machen, das dem Weltkino so zu Ehren gereicht, dass niemand sagen kann, er kenne das Weltkino, wenn er die deutschen Filme nicht gesehen hat!“? 


Wie schon damals ist der Weg weit, aber immer im Kreis zu laufen ist keine Alternative.

06 August, 2022

(Wieder-) Gesehen: [18]

Die Frage, ob wir wissen, was wir brauchen, wenn es um das Lebensmittel Film geht, schwebt weiter. Fest steht, dass viele der Filme, die ich in den letzten Wochen sehen wollte, eine Tendenz hatten. Trotz düsterer Weltlage habe ich mir fast ebenso düstere Filme angesehen, dunkle Märchen über (oft lächerlich) ernste Männer. Damit sie nicht zu einem Metafilm verklumpen, hier ein paar Erinnerungsstützen:

FEUERWERK AM HELLICHTEN TAGE (Diao Yinan, China 2014)

Irgendwo im chinesischen Heilongjiang wird der Ermittler Zhang Zili (Fan Liao) bei einem Einsatz verwundet und traumatisiert. Aus dem Dienst entlassen taumelt er alkoholisiert durch die schmutzige, kalte Stadt – bis ihm der alte Fall gewissermassen vor die Füße fällt. In der Schnittmenge der ungeklärten Morde ist man auf eine Frau (Gwei Lun-Mei) aufmerksam geworden, die sich mit allen Toten in Verbindung bringen lässt. Zhang beginnt sie zu verfolgen, ohne Auftrag und ohne Plan. Seine Obsession bringt ihn immer tiefer ins Geheimnis... und in Gefahr. Auch wenn die Frau glücklicherweise nicht im altmodischen Sinne „fatale” ist, verbinden sich in Diaos Berlinale-Gewinner amerikanischer Noir und chinesische Gegenwartstristesse zu einer Erotik der Erschöpfung, die man gesehen haben muss.


MR 73 (Olivier Marchal, Frankreich 2008)

Noch ein traumatisierter Ermittler, noch ein Säufer, allerdings in einem Film, der weit weniger an Glaubwürdigkeit als am Charisma des Leidens interessiert ist. Die melodramatischen Klischees türmen sich mitunter schwindelerregend, ohne den Film aus der Balance zu bringen. Vielleicht könnte man von einer Operette der Verzweiflung sprechen, die Daniel Auteuil mit vollem Körpereinsatz zur Aufführung bringt. Am Ende kommt der Film dem Schauer- und Ammenmärchen für meinen Geschmack vielleicht doch zu nahe, aber nach so viel schwarz auf schwarz ist es eben schwierig zu differenzieren.



THE BATMAN (Matt Reeves, USA 2022)

Geliehene Augen in einem Konzert für eine Note, in Moll: auch Batman ist nahe der Erschöpfung, alles fließt in dunklen Tönen zu einer atmosphärischen Pfütze auf Teer zusammen. Höhepunkt ist die Sequenz, in der Batman (Robert Pattison) sich die Augen von Selina Kyle (Zoë Kravitz) „leiht”, um ins korrupte Herz der Finsternis zu sehen. Von dieser Aufregung erholt sich der Film dann zwei Stunden lang auf eine sehr redundante, aber sehenswerte Art der Schwarzmalerei. Ich hatte meinen Spaß, auch und gerade an der Bildgestaltung übrigens (Kamera: Greig Fraser).



SOMETHING WILD (Jonathan Demme, USA 1986)

Die Wildnis beginnt einen Schritt neben dem Weg: Ohne Zweifel der reichste und reifste Film in dieser Auswahl, mit einer unglaublichen Melanie Griffith alias Lulu alias Audrey, die den Everyman Charles (Jeff Daniels) dazu verführt, sich dem Dschungel des Lebens zu stellen, indem sie seine „Normalität” als hysterische Konstruktion entlarvt. Ray Liotta als ihr Ex-Mann und Ex-Con ist ein Vulkan im Ausbruch; unmöglich, wegzuschauen, wenn sich die Lava seiner kriminellen Energie zerstörerisch den Weg bahnt. In meinen Augen Demmes bester Film, so detailreich und erfinderisch wie tief in seiner Menschenkenntnis. Große Empfehlung!



I BASTARDI (Duccio Tessari, Italien 1968)

Das Leidensbild als Selbstzweck: generischer Rache-Thriller um ein kriminelles Brüderpaar, das sich entzweit. „Adam” (Klaus Kinski) kann nicht teilen und bringt „Jason” (Giuliano Gemma) um – beinahe – alles: die Beute, die Freundin, die Schusshand. Fortan sinnt er auf Rache. Einer jener Filme, die im Fahrwasser des Erwartbaren immer wieder zu tollen Bildideen kommen. Gemma wiederum ist so schön, dass er ohne die (etwas mechanisch zubereiteten) Grausamkeiten / Leidensstationen wahrscheinlich ungenießbar wäre. Sehenswert.

05 August, 2022

Family of Shots


Einerseits habe ich mich als Zuschauer oft von allzu offensichtlichen ästhetischen Konzepten frustrieren lassen - alles in einer Einstellung, alles als POV erzählt, alle Farben gefangen in einem Schema usw - und immer für eine Differenzierung plädiert, die der Stoff und seine Besonderheiten diktieren oder die der Zufall oder die Eingebungen aller Beteiligten dem Filmemacher bescheren. 


Andererseits erscheint mir beim Machen ein Leitbild wünschenswert, auch weil die heiße Küche unserer Drehbedingungen ein Abwägen und Ausprobieren oft nicht erlaubt. Deshalb schreibe ich für meine Filme meistens eine Art Leitfaden oder Vis Guide, in dem steht, welche Mittel wie zum Einsatz kommen sollen. Ich habe die (paradoxe) Erfahrung gemacht, dass man umso freier arbeiten kann, je klarer die Setzungen sind.


Nicht zufällig sind mit Ozu und Hitchcock zwei Regisseure weit oben auch in meinem Pantheon, deren shot design so wiedererkennbar und systematisiert erscheint, dass sich das hochbeinige Wort von der „Filmsprache“ vielleicht rechtfertigen ließe. 


Es muss kurz gesagt darum gehen, eine eigene Konvention hervorzubringen, die offen ist für Überraschungen und zugleich zusammenhängend, eine moderne „family of shots“ in fragiler Balance zwischen den eigenen Setzungen und dem, was sich in der Konstellation der Spieler in Raum und Zeit konkretisiert.



Die Seiten 10 und 12 aus Harold Michelsons Storyboard für Hitchcocks MARNIE.



So habe ich es im ABC beschrieben:

„Die einzelnen Einstellungen müssen nicht gleichberechtigt, aber miteinander verwandt sein. Eine Familienähnlichkeit ist erwünscht. Eine Einstellung folgt aus der Anderen, die Totale ist Mutter kleinerer Größen oder umgekehrt.”