27 Dezember, 2006

Klassizismus


Die Sehnsucht nach dem Fehlerlosen führt immer wieder zur Gipsbüste, heilig und hohl. So wie wir uns die Antike weiss geträumt haben, haben wir auch die Klassik Hollywoods zu Nippes veredelt. Was wir aber lernen könnten vom Kino der 30er und 40er ist das Raue, Furchtlose.

So gesehen sind die Schlüsse, die Towne und Polanski aus der Serie Noir gezogen haben, zweifelhaft. „Chinatown” ist so etwas wie ein klassizistischer Film geworden. Makellos wie eine Büste von Canova, aber vielleicht zu sehr an einem Genreideal interessiert.

Wenn ich den Film sehe, kann ich nicht umhin, die Intelligenz seiner Konzeption und die Vollkommenheit seiner Ausführung zu bewundern, aber ich vermisse jenen „männlichen” Zugriff, der die billigen Vorbilder so elektrisierend macht.

26 Dezember, 2006

Definitionsversuche

Film: Eine Abfolge von visuellen und akkustischen Ausschnitten, die Körper und Objekte auf eine für den Zuschauer wirksame Weise in einen brauchbaren Zusammenhang bringt.

Auf eine für den Zuschauer wirksame Weise: die Organisation eines Materials nach Massgabe der Anschaulichkeit.

Ein brauchbarer Zusammenhang: eine glaubwürdige Erzählung, die sowohl nach Innen (im Verhältnis zu den eigenen Setzungen) als auch nach Aussen (im Verhältnis zur Fülle der Tatsachen) zuverlässig ist, und damit anwendbar.

Poesie ist praktisch, weil sie der Übersetzung bedarf. Jede Übersetzung ist Verwandlung. Was nicht übersetzt werden muss, kann nicht erfahren werden. Ein Film aber muss Erfahrung verursachen.

Erfahrung: Der Weg durch das Eigene.

24 Dezember, 2006

EMPIRE (2)


Endlich ein Bild aus dem neuen Lynch, das vielversprechend aussieht. Trotzdem: ich versuche jede Erwartung zu unterdrücken...

Parade

Ich nehme die Parade ab, vor dem Regal. Filme ziehen vorrüber. Das geistige Auge bewegt sich hin und her. Die Wahl ist heikel. Ich will etwas frisches sehen, aber nicht enttäuscht werden. Ich will etwas vom Menschen erfahren, fürchte aber Pädagogik. Und so lande ich wieder und wieder bei Geschichten. Überraschend vielleicht, denn ich habe das Kino der Moderne immer wieder als Befreiung erlebt. Und doch ... es ist so monolithisch, immer Ausnahme. Ich vermisse die soziale Verknüpfung. Mit mir zum Beispiel.

Müsste ich mich festlegen auf „definitive” Meisterwerke, wären zweifellos viele Ausnahmen darunter. Meine tiefsten Eindrücke stammen von einsamen Filmen. Aber ewige Listen werden von Fetischisten geschrieben. Im Leben interessiert mich auch die kleine Münze. Wie sonst könnte ich die Abweichung schätzen? Die Filmgeschichte muss ein Nebeneinander sein.

Ist der Cinephile nicht eigentlich moderner Pharisäer? „Danke Gott, dass ich nicht so bin wie die.” Die Kennerschaft jedenfalls ist ein süßes Gift. Sich im Verweis auf „heilige” Werke erhaben fühlen: wie klein. Es muss um alles gehen - in beliebiger Reihenfolge. Aber ohne Beliebigkeit.

20 Dezember, 2006

Bestimmung

„Bessern sollen uns alle Gattungen der Poesie; es ist kläglich, wenn man dieses erst beweisen muss; noch kläglicher ist es, wenn es Dichter gibt, die selbst daran zweifeln. Aber alle Gattungen können nicht alles bessern; wenigstens nicht jedes so vollkommen, wie das andere; was aber jede am vollkommensten bessern kann, worin es ihr keine andere Gattung gleichzutun vermag, das allein ist ihre eigentliche Bestimmung.”

Lessing, Hamburgische Dramaturgie, 1768.

Die Vorstellung, dass ein Medium, wenn es ganz bei sich ist, stärker wirken kann, leuchtet mir ein. Und auch, dass sich mit diesem Kern eine Art kategorischer Imperativ verbindet: „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist.” Aber was „gehört” dem Kino ganz allein? Wo kann es uns „am vollkommensten bessern”?

Sofort hat man „Montage” auf den Lippen; wenn vom „Wesen” des Kinos die Rede ist, wird sie zuverlässig zum Kronzeugen des Eigentümlichen gemacht. Und zweifellos spricht einiges dafür. Aber gibt es nicht auch Zusammenfügungen von Bewegtbildern, die mit der „eigentlichen Bestimmung” des Kinos nichts zu tun haben?

Ich glaube, nur eine Montage, die Materialien so kombiniert, dass der Zuschauer zu einer Synthetisierung gezwungen ist, kann dem „charakteristischen Vergnügen” des Kinos zugerechnet werden. „Perfektion ist Fantasie.”

Ich versuche kurz, die üblichen Montageprinzipien zu kategorisieren:

FLUSS
Additive (geschlossene) Montage.
Bildfolge, die offenkundige Zusammenhänge verbindet. Bewegungs- Bild- und / oder Inhaltssukzession (erwartet).

KETTE
Elliptische (lückenhafte) Montage
Bildfolge, die in der Sukzession auf Auslassungen setzt, die der Zuschauer mühelos ergänzen kann (sinngemäss erwartet)

SPRUNG
Dialektische (offene) Montage.
Bildfolge, die in ihren Widersprüchen im Zuschauer etwas drittes hervorruft / in der Synthese ihre Harmonie findet. Bewegungs- Bild- und / oder Inhaltskontraste (empathisch überbrückbar).

GEGENSATZ
Agitative (gegensätzliche) Montage.
Bildfolge, die so dissonant ist, dass sie nicht zu einem Zustand vereinigt werden kann und so eine Art ungerichtete Erregung erzeugt. Bewegungs- Bild- und/oder Inhaltsgegensätze (empathisch unüberbrückbar).

Natürlich ist kaum ein Film einer einzigen Montage-Grammatik verpflichtet - vielmehr vermischen sich alle Spielarten fortwährend. Aber nur die Kategorien SPRUNG und GEGENSATZ scheinen den Zuschauer - tiefer als in jeder anderen Kunstform - in die Herstellung der Erzählung zu involvieren. Der Zuschauer wird sozusagen zum „Erfüllungsgehilfen” des Filmemachers, der die Lücken ja konstruiert hat; im Bauen der Brücken aber kommt der Zuschauer zu sich - und mit ihm vielleicht auch das Medium.

Das betrifft natürlich nicht nur die visuelle Ebene; im Gegenteil ist eine bloss visuelle Aufrauung kontraproduktiv. Die Erzählung muss auf jeder Ebene in den Zuschauer getragen werden. Die aristotelischen Begriffe von „Verknüpfen und Lösen", „Jammern und Schaudern”, „Peripetie und Wiedererkennen” sowie „Katharsis” sind dafür nach wie vor brauchbare Stichworte, auch wenn der Weg dorthin ganz unklassisch sein kann.

Ich plädiere also für eine tiefere Verschränkung von filmischer Form und dramatischer Struktur, für eine „unauflösliche” Erzählung, die im Sehen lebendig wird. Zu viele Filme scheinen mir heute am Papier zu kleben oder aber „filmisch” gegen die auf Papier organisierte Erzählung anzuspielen. Beides ist unbefriedigend. Improvisatorische Mittel mögen stimmige Momente hervorbringen, dramatisch führen sie oft zu blosser Addition - den großen dramaturgischen Rahmen zu bedenken überfordert die Intuition und mitunter führt die Spontanität gerade in jenes Klischee, das man zu vermeiden suchte.

Ich breche hier große Fragen übers Knie, keine Frage. Es geht mir aber durchaus nicht ums Rechthaben, sondern um die Skizzierung eines Gedankens. Mehr dazu bei Gelegenheit.

08 Dezember, 2006

Revolver Filmbuch



Die besten Texte und Interviews aus den ersten neun Jahren Revolver - in einem Buch versammelt. Ausserdem: Unveröffentlichte Zugaben, ein Nachwort von Hanns Zischler, ein Stichwort-Register sowie ein aktualisiertes Glossar.

Beiträge von/mit: Maren Ade, Barbara Albert, Jens Börner, Jean-Claude Carrière, Katrin Cartlidge, Patrice Chéreau, Jacques Doillon, Jean Douchet, Christopher Doyle, Bruno Dumont, Harun Farocki, Helmut Färber, Dominik Graf, Michael Haneke, Jessica Hausner, Benjamin Heisenberg, Werner Herzog, Christoph Hochhäusler, Romuald Karmakar, Wong Kar-Wai, Abbas Kiarostami, Roland Klick, Alexander Kluge, Harmony Korine, Peter Kubelka, Noémie Lvovsky, Jonas Mekas, Christian Petzold, Jacques Rivette, Eric Rohmer, Ulrich Seidl, Angela Schanelec, Georg Seeßlen, Hans-Jürgen Syberberg, Lars von Trier, Reinhold Vorschneider, Jeff Wall, Nicolas Wackerbarth, Henner Winckler u.a.

Revolver. Kino muss gefährlich sein. Herausgegeben von Marcus Seibert. 468 Seiten. 22 Euro. Erschienen im Verlag der Autoren. Seit heute erhältlich.