24 November, 2023

20 November, 2023

Kino =


Garage Screen Summer Cinema, Moskau 2019 (Syndicate Architects)


… offenes Haus

Keine geschlossene Gesellschaft bitte! Darauf können wir uns wahrscheinlich einigen. Aber wie offen ist das Haus wirklich, mit Kinderwagen, mit dem Rollstuhl, für jemanden, der die Sprache des Films / der Untertitel nicht spricht, der nicht gut sieht oder hört, der arm ist oder „einfach”? (Als Jugendlicher habe ich mit einem blinden Gleichaltrigen manchmal Filme gesehen, seitdem weiß ich, wie wichtig Kino zum Beispiel für Blinde sein kann.)

 

… billiges Vergnügen

 

Billig ist Kino schon lange nicht mehr. Aber hoffentlich noch immer keine Oper für Arme! Was stört an der Oper? Die hohe Schwelle. Die Hierarchie. Das Prätentiöse. Aber auch das cinephile Distinktionsbedürfnis kann ausschließend sein.

 

… Sitzstreik gegen den Tod

 

Es hat etwas Trotziges, ins Kino zu gehen, finde ich. Wir sitzen und setzen die Zeit aus. Gemeinsam sagen wir wie Faust: „Verweile doch, du bist so schön.” Und wenn Cocteau sagt, der Film würde dem Tod bei der Arbeit zusehen, dann heißt das eben auch: dass wir in einem Außen wähnen, auf der anderen Seite des Spiegels. 

 

… Traum von Zusammenhang

 

Ist das nicht der schönste Traum? „Alle Menschen werden Brüder” (und Schwestern usw).

 

… Traum gemeinsam träumen

 

Klingt nach Sciencefiction, aber das Kino ist doch eigentlich ziemlich nahe dran: endlich Träume teilen können. Gemeinsam träumen, und nachher gemeinsame Traumdeutung!

 

… Gehäuse der Sehnsucht

 

Darin steckt auch ein Zwiespalt. Spalten wir die Leidenschaft, die Sehnsucht nicht vielleicht ab von unserem Alltag, lagern sie aus? Sie kennen den Spruch: der geht zum Lachen in den Keller. Wenn wir zum Fühlen ins Kino gehen, folgen wir dann einer ähnlichen Logik?

 

…  Lichttisch für Blaupausen des Lebens

 

Das ist für mich beinahe das Wichtigste am Kino: Gelegenheit haben, andere Lebensentwürfe zu betrachten, auszuprobieren, parallele Leben zu leben.

 

… Proberaum der Gedanken

 

Was wäre, wenn? Hätte hätte Fahrradkette. Wir probieren uns aus, und der Film probiert mit uns. Alles machen wir nicht mit. Aber oft lassen wir etwas mitgehen. Einen Satz, eine Geste. Im Proberaum gibt es die Chance, das Lebens so leicht zu nehmen, dass Alternativen plötzlich möglich scheinen. Kino trainiert den Möglichkeitssinn.

 

… Dunkelkammer der Gefühle

 

Die Gefühle werden belichtet und entwickelt, organisch-mechanisch. Wir haben eine Empfindlichkeit, die reagiert. Ist das nicht eine verblüffend vielsagende Metapher?

 

… Innen als Außen 

 

Der Berliner sagt: „Kommen se rinn, können se raus kieken”. Wir gehen ins Kino, und schauen durch das Fenster der Leinwand in die Welt. (Das bekommt nochmal eine besondere Note in dem vorhin gezeigten Saal des „Valencia Theatre”, das ja innen einen Außenraum vortäuscht, was es in der historischen Kinoarchitektur übrigens oft gab.)

 

… Außen als Innen

 

Auch das Kino selbst funktioniert invers. Wir sehen ein Außen, können eben nicht ins Innere der Spieler sehen und erzeugen selbst die passende Innerlichkeit. Ohne diese unsere Mitarbeit besteht Film nur als Licht und Nicht-Licht, bleibt also vollkommen abstrakt. Was natürlich auch interessant sein kann.

 

… synchrones Atmen

 

Im Dunklen, wenn das Wesen Publikum erwacht, atmet man gemeinsam. Gänsehaut.

 

… Chor des Mitgefühls 

 

Wir bilden einen Chor des Mitgefühls, seufzen und jauchzen auch gemeinsam. Vielleicht knüpfen wir so an das Theater der Antike an. Wir sind Vor- und Nachhall der Ereignisse, die sich vor unseren Augen vollziehen (um hier Michael Baute zu zitieren).

 

… Rendezvous 

 

Das Kino ist eine erotische Angelegenheit, hat Alexander Kluge einmal gesagt, nicht nur wenn wir in Begleitung kommen, sondern eben auch, weil wir ein Stelldichein mit einem Film haben, mit den Schauspielern usw.

 

… Blind Date

 

Blind Date mit einem Film: Alles kann passieren. 

 

… reine Gegenwart

 

Das Kino ist eine „Erfindung ohne Zukunft”, meinten die Brüder Lumière, und vielleicht hatten sie recht: denn es ist immer Gegenwart.

 

… verflüssigte Vergangenheit 

 

Das Kino ist in jedem Fall eine Zeitmaschine, erlaubt, was uns das Leben verweigert: die Wiederholung. Oder anders herum: Das Leben ist ein Remake von anderen Leben. Im und mit dem Kino können wir plötzlich über diesen Wiederholungszwang nachdenken.

 

… Gesprächspause

 

Einfach mal nichts sagen (müssen).

 

… Gesprächsstoff 

 

um diese Pause danach sozial zu verstoffwechseln. Wo? Die sprichwörtliche „Kneipe gegenüber” vermisse ich schmerzlich an vielen Berliner Kinoorten.

 

… Aufladung

 

Mit leerem Akku kommen, mit vollem gehen. Oder laden wir das Geschehen auf der Leinwand auf? Ist unsere Erfahrung nicht Ressource und „Akku” des Films?

 

… Entladung 

 

Wir stillen aber auch unseren Appetit nach Chaos, Gewalt, Zerstörung im Kino. Macht das die Welt friedlicher oder kriegerischer? Make my day, Punk!

 

… Séance

 

Wir rufen Geister in unsere Mitte. Kino ist Erbe okkulter Bräuche.

 

… Werwolfshöhle

 

Wir verwandeln uns, unheimlich durchaus auch für uns selbst: worauf wir in der Hitze der Identifikation zum Beispiel hoffen, kann sich krass unterscheiden von dem, was wir öffentlich gutheißen. Wir lauern im Kino auf Gelegenheiten, die eigenen Ansprüche zu unterlaufen. Die sogenannten niedrigen Instinkte kommen zu ihrem Recht. Und wenn das Licht dann angeht, der Werwolfspelz gerade abgestreift ist, kann das beschämend sein. Man sieht dem Nachbarn dann erstmal nicht ins Auge.

 

… automatische Gemeinschaft

 

Gesellschaft wird erzeugt. Wir kennen das aus der Schule. Wenn der Banknachbar das Popcorn so laut kaut, kann das auf die Nerven gehen. Andererseits: was gibt es Schöneres als zu merken: wir sind am Leben, zusammen.

 

… soziale Praxis

 

Vor allem anderen ist Kino eine soziale Praxis. Aber wir sollten nicht vergessen: Gewohnheiten können sich ändern. Manchmal über Nacht.

 

… soziale Plastik

 

„Ist ein lebendiges, sich stetig veränderndes Ganzes. Lebt unsichtbar im Jetzt und strebt fortwährend hin zu ihrer Freiheitsform, die sie erst zum Kunstwerk macht.” Beuys-Esoterik, ja, aber die Vorstellung, Kino als Kunstform weiter zu fassen – also nicht nur Film-Kunst, sondern Kunst im gesellschaftlichen Zusammenhang, den u.a. eben auch Film und Kino stiften, befragen, erweitern können, Kino als Katalysator gesellschaftlicher Prozesse – das finde ich bedenkenswert.




Stichwortkatalog zu Kino als Raum und Vorstellung, als „Impuls” vorgetragen am 17.11.2023 in der Akademie der Künste, anlässlich der Veranstaltung „Berlin, welches Kino willst du?” (die man hier nachhören kann). Danke: Frédéric Jaeger, Hannah Pilarczyk.

09 November, 2023

Nächstes Jahr in Frankfurt:

Ich freue mich sehr, dass mein Film UNTER DIR DIE STADT (D 2010) nächstes Jahr im Rahmen von „Frankfurt schaut einen Film” zu sehen sein wird, genauer gesagt am 17. März 2024. Termin bitte vormerken!

07 November, 2023

Hallo Zürich!

Am Dienstag, den 28.11.2023 um 18 h stelle ich BIS ANS ENDE DER NACHT im Filmpodium Zürich vor. Nach der Vorführung sprechen Hannes Brühwiler und ich über den Film. Weitere Spieldaten: Sonntag, 3.12.2023, 20:45 h, Mittwoch, 13.12.2023, 15:00 h, Freitag, 29.12.2023, 18:15 h.

21 Oktober, 2023

Welches Kino willst du, Berlin?

Der Verband der deutschen Filmkritik und die Akademie der Künste kooperieren für eine Gesprächsveranstaltung zur Lage der Kinokultur in Berlin. Ich bin gebeten worden, einen – eher ins Utopische gerichteten – Impulsvortrag zu halten.

Zur Zeit ist die grundsätzlich sehr gute Versorgung mit anspruchsvollem Kinoprogramm in Berlin sehr unter Druck. Das Arsenal muss umziehen, es wird nur einen und kleineren neuen Saal geben, der noch dazu nicht rechtzeitig fertig wird. Das Zeughauskino ist für die nächsten Jahre in einem unbefriedigenden Provisorium untergebracht. Das Sinema Transtopia ist, kaum eröffnet, von Schließung bedroht (was vorerst abgewendet scheint). Das Filmmuseum schließt wahrscheinlich für lange Zeit; ob das Ausweichquartier der Kinemathek alle aktuellen Aktivitäten abdecken können wird, bleibt abzuwarten. Und das Kino Babylon Mitte – daran haben wir uns schon gewöhnt – macht trotz öffentlicher Förderung Programm ohne jede Ambition. Auch DFFB und Berlinale haben – aus ganz unterschiedlichen Gründen – erheblich Schlagseite bekommen. Die Liste ließe sich fortsetzen. Diese Systemkrise Berliner Filminstitutionen macht nicht nur mir Sorgen – deshalb freue ich mich über diese Veranstaltung.

Edward Hopper - New York Movie, 1939

Hier der Einladungstext von VDFK und ADK:


Podiumsgespräch „Welches Kino willst du, Berlin?“

Nirgends in Deutschland gibt es eine so reichhaltige Kinokultur wie in Berlin. Doch ihre Zukunft ist ungewiss. Der Potsdamer Platz fällt als Zentrum weg: Das Arsenal zieht in den Wedding, der Kinemathek droht die Heimatlosigkeit. Wie sind die Pläne für ein neues Filmhaus? Und wie steht es um die Zukunft des ŠİNEMA TRANSTOPIA als Initiative jenseits der Institutionen? Wohin will die Politik? Wovon träumt das Publikum?

Mit Malve Lippmann (SİNEMA TRANSTOPIA), Rainer Rother (Deutsche Kinemathek), Stefanie Schulte Strathaus (Arsenal), u. a.

Impuls: Christoph Hochhäusler (Regisseur)

Moderation: Hannah Pilarczyk

Begrüßung: Jutta Brückner

Freitag, 17.11.2023, 19 Uhr | Akademie der Künste, Hanseatenweg 10, 10557 Berlin (Foyer)

In deutscher Sprache | Eintritt: 6 Euro / 4 Euro (ermäßigt)

Eine Veranstaltung der Akademie der Künste und des Verbands der deutschen Filmkritik

14 Oktober, 2023

Für Gisela Zick

Sophie Charlotte Conrad in MILCHWALD, 2003.

Liebe Anwesende, liebe Editorinnen-Gemeinde, liebe Gisela,

Das Wort „Laudatio” bringt Erwartungen mit sich, die ich womöglich nicht alle erfüllen kann - das macht dann Andreas Kleinert… Ich will nur zwei oder drei Dinge sagen, die ich von ihr weiß… keinen ganzen Kranz flechten, den würde Gisela, so wie ich sie kenne, sowieso vom Kopf rutschen lassen. Lorbeer und Weihrauch – das passt für Cäsaren und Hohepriester. Aber Gisela ist nicht feierlich, verklärt, respektheischend, sie ist eher: respektlos. Und diese Respektlosigkeit gehört zu ihren besten Eigenschaften. Lassen Sie mich erklären.

 

Sie ist respektlos, in dem Sinne, dass sie sich von hochtrabenden Absichten nicht beeindrucken lässt. Sie ist das Kind, das sagt: der Kaiser ist nackt. Und wenn die Höflinge dann lachen, und im Hohn der nächsten Täuschung aufsitzen, sieht sie den Menschen im „Kaiser”. Und ist bereit, ihm eine Chance zu geben. Ohne Vorurteil. So hab ich das erlebt mit ihr, bei meinem ersten langen Film, und das war prägend.

 

Regisseure (und Regisseurinnen vielleicht auch) täuschen sich ja oft darüber, was sie gemacht haben, was sie können, und natürlich auch darüber, was sie wollen. Deshalb ist die Montage ja auch so eine blutige Angelegenheit. Man leidet als Regisseur weniger an den Defiziten der Schauspieler oder Mitarbeiter als am eigenen Unvermögen, an den zerstörten Illusionen. Und ich kann von mir sagen: ich muss mir bei der Arbeit Illusionen machen. Verblendung ist ein Werkzeug. Nur ist es im Schneideraum dann nicht mehr brauchbar.

 

Gisela arbeitet gegen die Täuschung. Dass das etwas Gutes ist, das war ein durchaus schmerzhafter Erkenntnisprozess für mich. Wenn eine Editorin, ein Editor etwas taugt, kommt alles ans Licht…. Die Montage ist Abrechnung, Tod und Wiedergeburt eines Films.

 

Im Schneideraum braucht man einen ehrlichen Spiegel – der weder sagt: du bist der Schönste hier, aber auch nichts von Zwergen erzählt, hinter den sieben Bergen usw. Dem Gisela-Spieglein geht es auch nicht so sehr um Schönheit, jedenfalls nicht im landläufigen Sinne. Es geht um die Wahrheit des Materials, jenseits der Absichten.

 

Respektlosigkeit also, ein klares, realistisches Auge: das ist das eine. Aber das Gesehene muss auch gegriffen, ergriffen und also be-griffen werden – toll, wie die deutsche Sprache da auch die analogen Zeiten des Filmschnitts aufbewahrt – indem man den richtigen Ein- und Ausstiegspunkt findet.

 

Ich sehe Gisela vor mir, wie sie im Begriff ist, einen Schnitt zu setzen. Da ist jede Faser unter Spannung. Wie eine Skispringerin auf der Schanze vielleicht. Die große Ekstase der Bildschnitzerin Gisela.

 

Da spielt Erfahrung eine Rolle, klar, ihre Filmografie ist lang, aber so richtig lernen kann man es vielleicht gar nicht, man muss es haben. Die Intuition des richtigen Absprungs. Dieser energische Zugriff ist etwas, was mir bei Gisela immer sehr imponiert hat. Dieses großgeschriebene JETZT. Ohne Zögern. Und dabei – nur scheinbar ein Widerspruch – stets so zu „springen”, dass der Zuschauer mitkommt. 

 

Wie lang trägt eine Einstellung? Wie lange bleibt der Zuschauer in der Luft? Wann schaut er nach unten und bekommt Angst (um im Bild zu bleiben?) Das weiß diese Skispringerin! 


Wir hatten beim Dreh von MILCHWALD ja die Losung ausgegeben: je weniger Einstellungen, desto besser. Und Gisela hat mir gesagt: du willst nicht schneiden, das finde ich prima, aber was, wenn die Energie der Einstellung nicht so lange hält? Dem Zuschauer sind Konzepte egal, er hält sich an das, was er sieht. Sie hatte natürlich recht. 

 

Und dann die vielleicht schwierigste Sache: die Landung, im neuen Bild. Hier entstehen noch mal ganz neue Dinge. Das Kino und ganz besonders die Montage ist ja eine Kunst der Auslassung, funktioniert dialektisch. Es geht darum, dass sich im Zuschauer unwillkürlich und überraschend eine Synthese formt. 

 

Ich habe von Giselas Realismus’ gesprochen, dem unbestechlichen Auge, und von ihrem instinktsicheren Zugriff, wenn es um den Absprung geht, aber in diesem dritten Punkt kommt noch einmal eine ganz andere Gisela zum Vorschein: die Spielerin. Ich meine damit nicht unbedingt, dass sie im Schneideraum furchtbar viel ausprobiert – aber im Kopf, da rumort es, man hört die Zahnräder rattern – und dann kommt plötzlich und unverhofft ein Vögelchen raus.

 

Liebe Gisela, 1980 hast du deinen ersten Spielfilm geschnitten, 80 Filme später kriegst du mit 79(!) den Preis fürs Lebenswerk, das klingt für mich nach einer runden Sache. 


Ich freue mich sehr für dich, ich freue mich, dass wir uns begegnet sind, damals 2002, du hast mir ungeheuer viel mitgegeben, großzügig, leidenschaftlich, genau, und ich gratuliere dir auch zu der großen Arbeitsromanze mit Andreas Kleinert, ein kostbarer Schatz, so ein kongeniales Verhältnis, das hoffentlich noch viele Kapitel haben wird.




Diese kleine Rede für Gisela Zick habe ich am 13.10.2023 im Rahmen von Edi Motion in Köln gehalten. Danke für die Einladung, Sven Ilger & Co!

11 Oktober, 2023

Welchen Beitrag kann das Kino leisten?

Das Ludovico-Experiment in Kubricks A CLOCKWORK ORANGE.

Wie aufhaltsam der Aufstieg der extremen Rechten ist und was wir tun können, „die Demokratie zu verteidigen”, dieser Frage entkommt man nicht in diesen Tagen. Eine mögliche Antwort lautet, dass jeder dort, wo er eine besondere Expertise hat, tätig werden soll. Ich bin Filmemacher. Wie könnte ein Film „für die Demokratie“ oder „gegen rechts außen“ aussehen? Welchen Beitrag kann das Kino leisten? 

Ich zögere mit einer Antwort. Einen erzieherisch wirksamen Film machen zu wollen, heißt das nicht im Umkehrschluss, ein gehorsames Publikum zu wünschen? Ist „demokratische Propaganda“ nicht ein Selbstwiderspruch? Die Vorstellung jedenfalls, ein Film könnte Rechtsradikale „bekehren“ oder hadernde Demokraten „auf Kurs” halten, erscheint mir zweifelhaft. Die Gefahr ist groß, dass man nur die erreicht, die bereits überzeugt sind. 

Vielleicht muss man die Eintrübung des politischen Klimas, die Verschiebung des Meinungskorridors nach rechts, zuerst als Imperativ verstehen, die Freiheit der Kunst auszureizen. Als Aufforderung, Filme zu machen, die so unbequem und unverschämt sind, dass eine Auseinandersetzung unausweichlich ist. Filme vielleicht auch, die politisches Bewusstsein provozieren, indem sie Macht- und Gewaltverhältnisse sichtbar machen. SZEGÉNYLEGÉNYEK (Miklos Jancso, Ungarn 1966) könnte man so einsortieren, den unerbittlichen SALÒ (Pier Paolo Pasolini, I 1976), KLASSENVERHÄLTNISSE (Straub & Huillet, BRD 1984), WUNDKANAL (Thomas Harlan, BRD 1984), LA COMMUNE (Peter Watkins, 2000), unbedingt auch UNITED RED ARMY (Koji Wakamatsu, J 2007).

Aber kann man hoffen zu wirken, ohne ein breites Publikum zu erreichen? Ein „engagiertes“ Kino zu machen, das sich in einem konkreten Sinne als politisch versteht, aber in seinen Mitteln populär ist, wäre eine andere Möglichkeit. Filme wie THE GRAPES OF WRATH (John Ford, USA 1940), THE INTRUDER (Roger Norman, USA 1962),  LE MANI SULLA CITTÀ (Francesco Rosi, I 1963), SPUR DER STEINE (Frank Beyer, DDR 1966), JOE HILL (Bo Widerberg, USA 1971), NORMA RAE (Martin Ritt, USA 1979), MADE IN BRITAIN (Alan Clarke, UK 1983) – überhaupt die Filme von Alan Clarke! – , BUONGIORNO NOTTE (Marco Bellocchio, I 2003) könnten in dieser Hinsicht vielleicht Vorbild sein. 

Oder sollte man besser Camouflage betreiben, sich scheinbar mit den Wünschen des (rechten) Publikums gemein machen, bevor man sich dialektisch in die Kurve legt? A CLOCKWORK ORANGE (Stanley Kubrick, UK 1971) wurde oft so interpretiert, TAXI DRIVER (Martin Scorsese, USA 1976 – in gewisser Weise eine DEATH WISH Paraphrase) oder auch der hyperaffirmative STARSHIP TROOPERS (Paul Verhoeven, USA 1997). Michael Haneke hat (erklärtermassen) einen Vorstoß in diese Richtung unternommen mit FUNNY GAMES (1997 & 2007). Auch wenn schwer zu ermessen ist, wie erfolgreich diese Filme darin sind oder waren, ihr Publikum auf dem affektiven Glatteis zur Prüfung ihrer Gefühle und Überzeugungen zu zwingen, haben sie zumindest von sich Reden gemacht und für Streit gesorgt, was nicht der schlechteste Weg ist, ein Publikum zu politisieren. 

Welchen Weg man auch immer einschlägt: ich glaube, wir sind gefordert, uns einzumischen. Mit allem, was wir haben. Ich weiß nicht, ob es mir gegeben ist, einen Film zu machen, der politisch wirksam wird, aber – ich will es versuchen. Wer ist dabei?

29 August, 2023

Can You Prefigure Reality?

Der amerikanische Filmwissenschaftler Marco Abel („The Counter-Cinema of the Berlin School”) hat mit mir über BIS ANS ENDE DER NACHT, Identitätsfragen und die ästhetische Linke gesprochen. Zu finden in der aktuellen Senses of Cinema, in englischer Sprache.

05 August, 2023

Ear in landscape

Bill Brandt: "Ear in landscape", 1957

Die Tonmischung ist wahrscheinlich die letzte große Unbekannte in der öffentlichen Wahrnehmung filmischer Arbeitsprozesse. Kein Wunder: jenseits von lauter und leiser ist schwer zu beschreiben, was in der Mischung passiert, auch weil das Hören unserer Ratio viel weniger Untertan ist als der Sehsinn. Dabei ist die Mischung von zentraler Bedeutung. Warum?

Weil sie, zum Beispiel, beeinflusst, wie nahe wir einem Charakter kommen, ob wir mit ihm atmen, seine Präsenz spüren oder nicht; zum Beispiel, weil sie uns räumlich orientiert oder desorientiert, uns spüren lässt, ob der Raum groß oder klein, naß oder trocken, und ob der Hubschrauber „von hinten” kommt; zum Beispiel, weil wir viel intimer im Dialog sind, als das realistisch wäre, und so an den Lippen der (Leinwand-) Mutter hängen, die ein letztes Mal sagt (oder auch nur denkt): „Pass gut auf deine Schwester auf”; zum Beispiel, weil wir sofort den sozialen Status einer Figur justieren, wenn das Radio einen schlechten Klang hat, das Fahrrad quietscht, die Tür nicht satt ins Schloss fällt.


Die Mischung ist so mächtig, gerade weil wir sie in der Regel nicht bewusst beurteilen. Und vielleicht kritisiert sie den Schnitt oder den Dreh oder das Leben weniger als dass sie eine Summe zieht, Perspektive gibt.

03 Juli, 2023

Revolver Live! (59): Radu Jude – Dialektischer Witz + Sommerfest 25. Geburtstag Revolver

Der rumänische Regisseur Radu Jude gehört zu den aufregendsten Stimmen des Gegenwartskinos – und seine Filmografie ist voller Überraschungen. Es finden sich darin minimalistisch-realistische und dialektisch-politisierte Filme, Dramen, Dokumentarfilme, Komödien, Experimente, oft alles zugleich. Seine Ästhetik ist enzyklopädisch und kaleidoskopisch, verbunden und perforiert von beißendem Witz und bohrender Neugierde. 

Als wir hörten, dass ihn das DAAD-Stipendium nach Berlin bringt, haben wir sofort auf ein Revolver Live! gehofft, denn Radu Jude hat noch ein weiteres großes Talent: er kann mitreißend, spöttisch und zärtlich über das Kino und die Welt sprechen.  

Kommt vorbei ins Sinema Transtopia und bleibt danach zur Party – Revolver feiert 25. Geburtstag und das Erscheinen der neuesten Ausgabe, Heft 48. Wir freuen uns!

Das Revolver Kollektiv

Der Filmemacher Radu Jude im Gespräch mit Nicolas Wackerbarth und Christoph Hochhäusler (Revolver). In Englischer Sprache.  Eintritt: 7 Euro.

Am DONNERSTAG, den 13.07.2023 um 20.00 h. Die Party beginnt um 21.30 h. Musik: DJ Bastian Trost & Friends.

Sinema Transtopia, Lindower Str. 20/22, Haus C, 13347 Berlin. Nähe S-/U-Bahnhof Wedding.

Radu Jude
Geb. 1977 in Bukarest, Rumänien. Regisseur, Drehbuchautor. Studium: Abteilung für Filmregie an der Medienuniversität Bukarest. Regieassistent u.a. für Costa-Gavras und Cristi Puiu. Regie bei über 100 Werbespots. 2016 gab er sein Debüt als Theaterregisseur mit seiner Bühnenadaption von Ingmar Bergmans Szenen einer Ehe. Er hat zahllose Auszeichnungen und Preise gewonnen, darunter einen silbernen und einen goldenen Bären. Filmografie (Auswahl): În familie (TV Serie, 2002), Lampa cu căciulă (Kurzfilm, 2006), Alexandra (Kurzfilm, 2006), Dimineața (Kurzfilm, 2007), The Happiest Girl in the World (2009), Film pentru prieteni (2011), Everybody in Our Family (2012), O umbră de nor (Kurzfilm, 2013), Trece și prin perete (Kurzfilm, 2014), Aferim! (2015), Scarred Hearts (2016), Țara moartă (The Dead Nation) (Dok., 2017), I Do Not Care If We Go Down in History as Barbarians (2018), Ieșirea trenurilor din gară (Dok., 2020), Uppercase Print (2020), Bad Luck Banging or Loony Porn (2021), Potemkinistii (Kurzfilm, 2022).

Ioana Iacob in Radu Judes wunderbarem I Do Not Care If We Go Down in History as Barbarians (2018)


P.S.: Sehr schön war's. Danke fürs Kommen, Feiern, Abonnieren! Wer noch kein Abonnent ist: für nur 15 Euro kann man die Zeitschrift abonnieren https://www.revolver-film.com/bestellung/