23 Juni, 2016

Verschwinden

Vielleicht ist das Verschwinden notwendige Konsequenz der Moderne. Und vielleicht liegt in diesem Verschwinden eine Qualität.
Wenn ich (wie kürzlich in Luzern) Picasso, Bracque, Klee heute wiedersehe, wirken die Bilder wie längst vergangene Errungenschaften, ohne Gegenwart, von ihrem Erfolg unsichtbar gemacht. 
Nur Modligiani und Cézanne widerstehen noch, vielleicht weil sie so sehr um ihren Gegenstand gerungen haben - die Form scheint Ergebnis eines Kampfes, während etwa Picasso eher um die Form selbst zu kämpfen scheint.

21 Juni, 2016

(Wieder-) Gesehen [8]


EXHIBITION (Joanna Hogg, GB 2013)


Ein Film über ein Haus als einen Körper, in dem die Innereien rumoren. Zwei Künstler, professionell, selbstbezogen, post-solidarisch, geben die „Organe”, die sozusagen nervlich verbunden sind, aber nicht wirklich miteinander leben. Das Haus gängelt, beschützt, beschneidet, ist Festung und Gefängnis, Schaufenster und Spiegel; lange scheint es, als seien seine Bewohner zu fest vernabelt, zu regressiv, um auch nur vor die Tür zu treten. Am Ende muss das Haus buchstäblich verzehrt werden, der Wind, der Wind, das himmlische Kind, damit ein neues Leben, ein anderes Verhältnis zum Aussen möglich wird – aber zu großem Optimismus, der Aussicht auf eine echte Befreiung, persönlich und politisch, gibt der Film wenig Anlass.




DER NACKTE MANN AUF DEM SPORTPLATZ (Konrad Wolf, DDR 1974)


Es ist manchmal zum Verzweifeln mit dem deutschen Film. Warum nur ist dieser großartige, lebensvolle Film nicht bekannter? So ungefähr stelle ich mir erzählerische Reife vor: es geht um Alles und Nichts, um Vergangenheit und Gegenwart, um das Sichtbare und um das Unsichtbare. Im Mittelpunkt steht der Bildhauer Kemmel und die Frage nach der Stellung des Künstlers in der Gesellschaft. Kemmel hat vergleichsweise viel Platz, und ist zugleich gut geerdet, aber dass der Film über sozialistische Ideale weit hinaus geht, hat nicht nur mit Kurt Böwes charismatischem Phlegma zu tun, sondern auch mit Konrad Wolfs Insistieren auf dem Beinahe, dem Scheitern, den Wunden der Vergangenheit. Wolfgang Kohlhaases kluges Buch verzichtet dabei weitgehend auf Pointen, lässt die Szenen nebeneinander stehen, in lockerer Reihung. Erst in der Rückschau wird klar, wie genau die Dramaturgie gearbeitet ist. Großartig.




THE ASCENT (Larisa Shepitko, UdSSR 1977)


Russische Partisanen, im Winter, von den Deutschen gejagt. Die Welt ist schwarz-weiss, Sein oder Nicht sein. Der Auftrag, Essbares zu organisieren, holt zwei Männer aus der Gruppe. Der Film folgt den beiden durch Schnee und Eis bis in die Hölle deutscher Gefangenschaft, und er bleibt erstaunlich differenziert dabei, macht aus den Entbehrungen kein Heldenlied, bleibt auf Augenhöhe. Aber dann bricht der Film für mich. Denn Shepitko, die viel zu früh gestorbene, genialisch begabte Regisseurin, geht im Gefängnis ganz ins Gleichnishafte – und überhöht das Opfer, zelebriert den Märtyrer, während sie den, der überleben will, zum Verräter macht. (Interessanterweise verzichtet Sergei Loznitsas Beinahe-Remake IM NEBEL von 2012 auf diesen Dostojewksi-Christus).




LES FAVORIS DE LA LUNE (Otar Iosseliani, Frankreich 1984)


Ein Film, der „kleine Welt” spielt und den Kurzschluss ganz unverblümt zur Methode macht. Das Ergebnis ist eine verblüffend anregende Vernetzung des Unverbunden, eine Vorahnung der absurden Verbindungen, denen wir im Netz heute täglich frönen. Alles hängt zusammen, aber tröstlich ist es nicht – oder besser gesagt: tröstlich ist daran nur, dass man es (so oder anders) erzählen kann. 



ADAM'S RIB (George Cukor, USA 1949)


Zwei Filme zum Preis von einem. Einmal die vergnügliche „feministische” Erzählung über die (unmögliche) Trennung von Berufs- und Privatleben, ein moderner, raffinierter Plot, den der Film nie allzu zu ernst nimmt, parallelisiert von einem Geben und Nehmen zwischen Hepburn und Tracy, das es in sich hat: ein unerhört natürliches, dabei aber nie formloses Mit- und Ineinander des Schauspiels zweier wirklich Liebender, die Liebende spielen. Ohne falsche Süße. Ohne Rabatt.




CAROL (Todd Haynes, USA 2015)

Korn ohne Schleier. Ein digitales Bild des Analogen. Das digital invertierte 16 mm Negativ ohne den Firnis des Positivs, das das Korn umfängt. Ein Bild von einem Bild. In dieser reflexiven Grundbedingung liegt auch eine Schwäche – der Blick bleibt gefangen im Bild, das Bild wird nicht Blick. Das Leitereske tut ein Übriges, obwohl die Imitation superbe Momente hat. 


„The Price of Salt” wäre vielleicht der bessere Titel, mehr noch: der bessere Film gewesen. Die Verschiebung auf Carol führt ins Generische, das „großschauspielerische” bei Blanchett verstärkt diese Tendenz. Aber sie hat ihre Momente, nicht zufällig dann, wenn es dramatisch wird, vor allem in der zweiten Hälfte, ihr Plädoyer beim Scheidungsanwalt zum Beispiel hat mir Spaß gemacht. Über weite Strecken wäre der Film nichts als gepflegte Langeweile, würde man die Rolle der Therese – Mara macht ihre Sache sehr gut – mit einem Mann besetzen. Die lesbische Liebe als „Innovation” ist zu wenig. 


Der Film hat keinen Sinn für Klasse, für den Faktor Geld. Das ist ein echtes Versäumnis, denn Klassenfragen drängen sich auf. Besonders enttäuschend finde ich, dass das Begehren so vernünftig ist.Therese ist – ausweislich der im Film verwendeten Bilder – eine begabte Fotografin. Klavierspielen kann sie auch. Und natürlich sieht sie nicht nur gut aus, sondern weiss sich auch anzuziehen. Ein guter Deal also. Wäre das Ganze nicht viel interessanter, wenn das Mädchen, das sich Carol angelt, herzlich untalentiert wäre? Oder wenigstens keinen Geschmack hätte? Und wäre diese lesbische Liebe nicht genauso stark, wenn das heterosexuelle Personal nicht so eindeutig als untauglich markiert wäre? Aber offenbar glaubt Haynes, er müsse um der guten Sache willen übertreiben. 

10 Juni, 2016

Gefühle im Dunkeln


Okay, irgendwie ist das Kino „eine moralische Anstalt”. Aber wir Zuschauer sind Täter und Opfer und Zeugen und Geschworene und Richter zugleich. Die Gewaltenteilung lässt sich im Dunkeln nicht durchsetzen, scheint es.

Entsprechend fallen die Urteile aus. Verrat wird regelmäßig höher bestraft als Mord. Gewalt gegen „die Richtigen” ist fast immer willkommen. Und kaum etwas erscheint uns verachtenswerter als Selbstmitleid. Wer wehleidig ist, hat von vorne herein verloren. 

Und das wundert mich dann doch, wenn das Licht wieder angeht. Sicher, das ist auch im wirklichen Leben keine schöne Eigenschaft, aber doch harmlos. Warum löst es im Kino so viel Hass aus?

Ich glaube fast, wir fürchten im Wehleidigen uns selbst - und „investieren” Gefühle in selbstlose Helden, weil sie uns ihr Leid ersparen. Ein ziemlich verführerisches Kompensationsgeschäft.

„Warum verkauft sich das Sentimentale im Kino, wenn nicht, weil uns unsere eigene Empfindsamkeit rührt?” (*)

06 Juni, 2016

Ersatz oder Leben

S. hat mich sehr beeindruckt. Wie souverän er durch das Gelände filmischer Theorie manövriert, wie anschaulich und ansteckend er davon erzählen kann. Eine Art der Zwiesprache mit Filmgeschichte, wie sie hierzulande undenkbar scheint, wie ich sie für mich auch immer abgelehnt hatte, weil ich der Meinung war, dass ein Film die notwendige Urwüchsigkeit nur erreichen kann, wenn er auf Erfahrung fußt. Bei S. schien die Kino-Erfahrung aber nicht Ersatz, sondern Leben.

Im Steinbruch

Ist der Anspruch, die Erzählung zu durchdringen unbescheiden gegenüber der eigenen Fantasie, die ja (hoffentlich) mehr ist als was man verstehen kann? Oder darf man von einem erfahrenen Erzähler erwarten, dass er im Steinbruch des Unbewussten eine Ordnung findet bzw herstellt?

Rhythmus

Ingmar Bergman bei der Arbeit an SOMMERN MED MONIKA (Schweden 1953)

Ob uns ein Satz stimmig, eine Geste treffend, eine Szene glaubwürdig erscheint, ist immer auch und vielleicht zuerst eine Rhythmusfrage.
Das gilt auch für das Filmemachen selbst. Die Drehorganisation stellt künstlerische Weichen: Welche Szene am Anfang, welche am Ende gedreht wird (zum Beispiel), macht unter Umständen einen großen Unterschied.
Mindestens so entscheidend ist der Rhythmus, in dem man Filme machen kann. Dieser Takt ist am schwersten zu schlagen.

02 Juni, 2016

Ein Gespräch über Bäume

Zurück von einem Abendessen mit Tankred Dorst und Ursula Ehler. Toll, der Reichtum an Erfahrung, die Neugier nicht so sehr auf Geschichten als auf die Eigenart der Menschen, ihre störrische Natur. Immer geht es um Zeitläufte, die sich in der Erzählung nur mit Mühe zu Zöpfen flechten lassen, nicht großgeschriebenes Schicksal, eher Nornenfäden, für sich harmlos, allzu menschlich, aber dann wird ein Strick daraus, an dem der Jude hängt. Das Ergebnis ist grausam, das Detail oft komisch, unsinnig, wahnwitzig. 

Diese Sichtweise ist mir sehr nah, auch wenn ich die Gefahr der Entpolitisierung sehe. T. ist kein Relativist, beileibe nicht, aber das Prinzip der Verantwortung wird an den Rändern unscharf, wenn man alles im Makro betrachtet. 

Die beiden haben von einer Begegnung mit Henriette v. Schirach erzählt, die als vernachlässigtes Mädchen ihres vielverreisten Fotografen-Papas Adolf Hitler als Sagenonkel kennengelernt hat. Diese Szene: das Kind, das nicht üben will, auf dem mit Büchern erhöhten Klavierschemel, und der fremde Mann, der in Ruhe die internationalen Zeitungen lesen möchte (die bei dem berühmten Fotografen täglich eintreffen) und deshalb einen Handel mit dem Mädchen macht: „Du übst, bis ich mit der Lektüre fertig bin, dann erzähl ich dir die Heldensagen.” ...diese Szene hat es T. und U. angetan.

Wenn man dann nachliest, dass H. für eine Weile Hitlers Sekretärin war, später mit ihrem Mann, der „Statthalter” war, in der Wiener Hofburg residierte, während Tausende Juden und Roma deportiert wurden und H. auch nach dem Krieg viel Nettes über Hitler zu sagen wusste, erscheint die Erzählung von dem Mädchen, das nicht Klavier üben will, irrelevant. Aber gleichzeitig hat das Geheimnis ihrer Person sicher mehr mit dieser Szene zu tun als mit der „großen” Geschichte und den Privilegien der Parteibonzen. 

Nur: verdient sie diese Aufmerksamkeit? T. und U. scheinen zu glauben, dass sie jeder Mensch verdient. Ich denke, man kann das nicht pauschal beantworten, aber die Verantwortung des Erzählers hat durchaus auch mit Verhältnismäßigkeit zu tun. Es geht um Maßstäbe. Das, was passiert ist, muss mit dem Heute verglichen, vermessen werden. Und natürlich ist es unverhältnismäßig, an das traurige Mädchen am Klavier zu erinnern angesichts der Millionen, die nicht nur keine Klavierszene, sondern überhaupt keine (individuelle) Geschichte haben, oft noch nicht einmal einen Namen. Ich meine damit die Millionen Toten, aber auch die Marginalisierten unserer Zeit. 

Brechts berühmter Satz: Was sind das für Zeiten, wo / Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist / Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt! ... scheint nahe zu legen, dass es andere Zeiten geben könnte, in denen sich von „Bäumen” sprechen lässt. Leben wir in solchen Zeiten? Hat es sie je gegeben?

Gleichzeitig, und scheinbar im Widerspruch dazu, finde ich, dass wir (wir Enkel) von den Tätern erzählen müssen. Nicht vom Kopf her aber stinkt der Fisch, die „normalen” Verbrechen muss man verhandeln. Übrigens ist damit nicht (nur) NS-Geschichte gemeint. 

Und die Opfer? So problematisch es ist, als Täter-Enkel von schönen guten Opfern zu erzählen: was wäre die Alternative? Wie könnte man den Widerspruch aufheben? Indem man von Situationen erzählt, die vor oder zwischen der Weggabelung liegen, die die Menschen in Täter und Opfer sortiert? Es ist eine bittere Ironie, dass wir von Tätern differenzierter erzählen (könnten), während die Idealisierung der Opfer so geschmacklos ist wie die Betonung ihrer Fehler infam.


(Aufgeschrieben am 6.04.2015)

Der Schlüssel


Wenn es stimmt, dass wir ein „protestantisches Problem” haben und die besten deutschen Filme bescheiden, die unbescheidenen aber ohne (künstlerische) Ambition bleiben - dann stellt sich die Frage, wie wir das ändern können.

Darauf gibt es strukturelle und persönliche Antworten. Aber vielleicht ist der Schlüssel so oder so spielerisch. Die Eroberung muss ein Spiel sein, das man (wie das Spiele an sich haben) ernster nehmen kann als das Leben, in Anerkennung der Aufmerksamkeitsökonomie, aber ohne Gefälligkeit oder dem vorauseilendem Gehorsam gegenüber cineastischen Moden oder anderen Marktgängigkeiten.