10 November, 2021

Weiße Splitter

In steinerner Schönheit lag sie, ausgestreckt auf dem billigen Gartenstuhl, den der Vormieter auf dem Balkon zurückgelassen hatte. Die Plastikbespannung würde auf ihren Schenkeln das bekannte Muster hinterlassen, Druckstellen eines empfindsamen Steines. Sie ist so seltsam, dachte er. Mühelos fähig, die Zeit anzuhalten. Mit sanftem Klingelzeichen unterbrach die Mikrowelle den Strom seiner Betrachtungen. Er wandte sich langsam ab und verzog das Gesicht: Muskelkater war die hinreißend triviale Erklärung des Arztes gewesen. Er hatte sich nie für sportlich gehalten und dass ein defekter Fahrstuhl so reale Auswirkungen auf sein Leben würde haben können - amüsierte ihn. 

Er öffnete die Mikrowelle und sog den zuverlässigen Geruch der Fertiglasagne ein. Wenn Erinnerung eine Landkarte war, die über die Nase erschlossen wird, dann hatte er das menschenmögliche getan, den Kontinent zu verlassen. Zwei Gabeln, zwei Servietten. Sein Schritt knirschte auf dem lückenhaften Fliesenboden. Helena hatte unmerklich aus ihrem Ruhezustand in eine Haltung gefunden, die ihr die Nahrungsaufnahme gestattete. Sie verzog keine Miene. Das Essen verlief pragmatisch: Auf das Abtrennen eines mundgerechten Stückes folgte gründliches Kauen. Es war sein geheimes Vergnügen, das mimische Vokabular ihres stoischen Gesichts zu deklinieren. 

Der Abendhimmel hüllte sich in Pelz, bevor aus feinziselierten Wolkentieren verwechselbares Dunkel wurde. Das leise Vibrato eines Nebelhornes erzählte vom Meer. Er genoss den leisen Schmerz, den seine Schenkel aussandten. Sechs Stockwerke dachte er, vielleicht drei Meter das Stockwerk, eine Stufenhöhe von 15 Zentimetern, also etwa 20 Stufen das Stockwerk, macht 120 Stufen. Morgenzeitung: 240 Stufen, Frühstückseinkauf, die Besprechung mit Nyva, Zweiter Einkauf, Spaziergang: allein gestern war er 720 Stufen älter geworden, mindestens. Die Treppen zum Büro nicht mitgerechnet. Ein Stück Pizza = 15 Minuten Cardiostep drohte das Fitnessstudio um die Ecke - diese Lasagne konnte er sich wirklich leisten. 

 

Dann geschah etwas Unerwartetes. Helena würgte, rang gespenstisch heiser nach Luft, um wenig später in ein hysterisches Lachen auszubrechen. Er erhob sich, würdigte sie keines Blickes und schwang sich mit einer Jugendlichkeit, die nichts als Behauptung war, auf ihr Fitnessfahrrad. Für eine kurze Weile bearbeitete er das verstaubte Tretgerät mit lächerlicher Vehemenz. „Du weißt es schon die ganze Zeit”, schrie er plötzlich. „Von Anfang an hast du es gewusst.”

 

Sie lagen sich jetzt keuchend in den Armen. Fliesensplitter in seiner Armbeuge, dachte sie. Kleine weiße Splitter. Er redete von der elektrisierenden Spannung ungeteilter Geheimnisse und davon, dass sie, trotz allem, ein offenes Buch für ihn wäre. Sie stellte sich vor, wie er, stockend zwar, aber erfüllt von unerbittlichem Wissensdurst, in ihrem Buch läse und die langweiligen Stellen einfach übersprang. Wahrscheinlich würde er nicht zögern, mit seinem Bleistift blöde Zusammenhänge herzustellen, „sein Buch” daraus zu machen, wie er das noch mit den größten Heroen ihrer Bücherkiste machte. „Einfach gehen” sagte er jetzt. „Einmal das Melodram ungedacht und unbenutzt lassen.” Aber sie wusste keinen Weg aus dem Mikrokosmos ihres Denkens und wollte keinen wissen.

 

Er neigte zu Experimenten. Auf dem Küchentisch hatte er eine Batterie leerer Orangensaftkartons aufgestellt, die er mit einer Schere geköpft hatte, so dass man Zeuge blühender Schimmelkulturen wurde. Garten nannte er dieses Unterfangen, das den Tisch unbenutzbar machte und darüber hinaus für einen männlichen Geruch sorgte, den nur er „apart” fand. Heute, nach genau 26 Tagen, sollte es sein neuestes Experiment ein exaktes Ende finden. „Wenn eine Ameise ein Schneckenhaus erforscht,” sagte er, „sieht sie sich mit der kontinuierlichen Verengung ihrer Perspektive konfrontiert. Das macht den Rückweg zur Offenbarung”. Im Nutzlosen war er Meister. „Aber wir bemerken das Schneckenhaus gar nicht.” „Schneckenhaus” sagte sie sanft und biß tief in seine Unterlippe. Es tat weh. Aber war es wirklich? „Der Wind durchquert mich”, dachte er, „nichts hält mich auf.”

 

Am Morgen des 27. Tages erwachte er im Netz ihrer Blicke, gefangen. Es musste Liebe sein.


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Fundstück aus der Studienzeit, geschrieben ca. 1998 für den Erzählband „Liebe”, herausgegeben von der Abteilung Dramaturgie an der HFF München.

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