Aber was einmal eine Stadt der Brachen war, in jedem denkbaren Sinne, ist heute doch weitgehend lückenlos und die Qualität dieser Füllungen lässt sehr zu wünschen übrig. Hans Stimmann, ein Senatsbaudirektor mit anhaltend schlechtem Einfluss, sprach einmal von dem „zahnlückigen” Grinsen, das er der Stadt austreiben wolle, und das scheint fast geschafft. Noch immer ist Berlin eine Stadt der Fragen, aber zu viele geistern schon zu lange durch die Straßen und das Vertrauen, dass es jemanden geben könnte, der sie nicht nur überzeugend politisch beantworten, sondern diese Antworten auch umsetzen könnte, ist in den vergangenen 30 Jahren nicht gewachsen, um es vorsichtig auszudrücken. (Leider macht auch das gerade neu gewählte politische Personal in dieser Hinsicht wenig Hoffnung.)
Natürlich, ich bin jetzt in einem Alter, in dem bestimmte Reserven der Begeisterung verraucht sind (ich werde 50 nächstes Jahr), die Toleranz für Dysfunktionales ist kleiner geworden und das alterstypische Gefühl einer Talfahrt lässt sich nicht mehr so leicht von vieldeutigeren Wahrnehmungen trennen. Aber auch abzüglich dieser subjektiven Eintrübung glaube ich, dass Berlin nicht auf der Höhe seiner Möglichkeiten ist und einen neuen Atem braucht, eine neue Vision, die nicht ständig von der Wiederholung oder Wiederherstellung alter Größe fantasiert, sondern anerkennt, dass 2025 etwas grundsätzlich anderes sein wird als 1890, 1925, 1990. Vielleicht ist „Vision“ auch das falsche Wort. Zu oft wurden menschenfeindliche Konzepte so etikettiert. Sagen wir besser: eine gemeinsame Vorstellung von einer besseren Zukunft.
Was könnte das konkret heißen? Dieser neue Sauerstoff, wie ich ihn mir vorstelle, folgt eher keiner ästhetischen Idee, jedenfalls nicht in einem herkömmlichem Sinne. Natürlich würde die Stadt damit auch anders aussehen, aber als Folge eines bestimmten Prozesses und bestimmter Weichenstellungen, und nicht, weil man sich „Gestaltungssatzungen“ oder dergleichen gibt. Stadt wird in Berlin heute viel zu stark von den „Gehäusen“ her gedacht, anstatt die weichen Faktoren, Menschen, ihre Bedürfnisse, Neigungen und vor allem Beziehungen in den Mittelpunkt zu stellen. Das hat auch mit der gewohnten Langsamkeit von „Stadtwerdung“ zu tun: jede traditionelle Planung muss eine einigermaßen entfernte Zukunft meinen, weil die Umsetzung in der Regel Jahre dauert. Vielleicht hat es auch mit der sehr deutschen Zuneigung zu den Dingen zu tun, die man ob ihrer Haltbarkeit mehr bewundert als die Flüchtigkeit menschlicher Beziehungen. Aber was wäre, wenn es gelänge, in und für die Gegenwart Politik zu machen?
Für ein solches Verständnis, für die Stadt als atmende, temporale Skulptur, das fragile soziale Mobile der Interaktionen ganz normaler Menschen, fehlen die Begriffe, die Instrumente und Ideen. Wir müssten die Politik dafür „verflüssigen“ (um hier einen Begriff zu variieren, den die Piratenpartei einmal geprägt hat), und das Wissen, die Erfahrung, das Leben der Bewohner als politische Ressourcen begreifen. Nicht um sie nach der Art von big data zu berauben, sondern um ihnen etwas zurückzugeben und Verknüpfungen zu begünstigen, und das lokaler, spezifischer und spontaner als je zuvor.
Wir brauchen deshalb ein neues Gleichgewicht zwischen den zu gestaltenden Aufgaben, dem spezifischen Ort und den zur Verfügung stehenden Mitteln in der Zeit. Alles muss ausgerichtet werden am light touch eines klimagerechten, nachhaltigen und gemeinnützigen Wirtschaftens, ja, aber wir brauchen auch ein Politikmodell, das flexibler ist als alle bisherigen. Leitbild muss die spontane, ephemere, nicht-in-Besitz-zu-überführende Stadt sein, im Kontrast zu der schweren, teuren und langsamen Pharaonenpolitik der letzten 777 Jahre, in denen das dynamischste Element die Spekulation war. Wir müssen die Angst verlieren vor dem Provisorischen, dem Wechselhaften und Unsteten, und ich meine Berlin eignet sich für diesen Spurwechsel besser als jede andere deutsche Stadt.
Das soll nicht heißen, dass alles künftig nur noch in Zelten stattfindet. Aber es würde ganz sicher bedeuten, dass Neubau die Ausnahme und Umbau, Zwischen- und Umnutzung die Regel werden müsste, zum Beispiel. Und auch, dass die Stadtverwaltung viel stärker als bisher als „Veranstalter“, aber eben nicht als das eigentliche Ereignis auftreten sollte. Das könnte zum Beispiel heissen, dass das, was heute temporäre Ausnahmen sind (wie zuletzt im ICC) Teil eines permanenten Programmierens oder meinetwegen „Kuratierens” ist, in dem sich die Stadt als Ressource, Koordinator und Veranstalter einbringt, um dem, was gerade „Stadt findet” zu seinem Recht zu verhelfen.
Wie wäre so etwas zu bewerkstelligen? Ich glaube, die skizzierte Idee von Stadt würde nicht zuletzt einen Quantensprung in der digitalen Vernetzung voraussetzen. Nicht ein Internet der Dinge, nicht das kommerzielle Metaverse, das alle Lebensbereiche durchdringt (und vergiftet), sondern ein ziviles, öffentliches „Para-Berlin”, das wie Borges' berühmte Landkarte größer ist als die Wirklichkeit, und auf sie zurückwirkt. Offen, open source, work in progress. Aber auch im realen Raum bräuchten wir andere Werkzeuge der Beteiligung. Ich könnte mir zum Beispiel Laienpolitiker vorstellen, eine Art Schöffenamt, das aleatorisch bestimmt wird...
(wird fortgesetzt)
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