„Ich habe all das entfernt, was die logischen Erzählknoten sein konnten, der Sprung von Sequenz zu Sequenz, durch den eine Sequenz als Sprungbrett für die folgende diente; eben weil es mir scheint, und davon bin ich fest überzeugt, dass heute das Kino eher der Wahrheit als der Logik verpflichtet sein muss. Die Wahrheit unseres täglichen Lebens ist nicht mechanisch, konventionell oder artifiziell, wie es uns im allgemeinen die Geschichten, wie sie im Film gebaut sind, erzählen. Es ist ein Ablauf, der sich bald überstürzt, bald langsam verläuft, der jetzt stagniert, jetzt dagegen durcheinanderwirbelt.
Piero (Alain Delon) flüstert Vittoria (Monica Vitti) den Preis der Schweigeminute zu: „eine Milliarde”. Szenenbild aus L'ECLISSE (Italien 1962).
Es gibt Augenblicke des Stilstands, es gibt sehr rasch ablaufende Augenblicke, und all das muss man, wie ich glaube, in der Erzählung eines Films spüren, gerade um diesem Prinzip der Wahrheit treu zubleiben. Ich sage das nicht, um damit auszudrücken, dass man sklavisch die Fälle des Lebens verfolgen soll, sondern, weil ich meine, dass durch diese Pausen, durch diesen Versuch des Eindringens in eine bestimmte geistige und auch moralische Realität, sich das herausschält, was sich heute immer mehr als das moderne Kino qualifiziert, das heisst ein Kino, das nicht so sehr die äusseren Ereignisse berücksichtigt, die uns zustossen, sondern vielmehr das betrachtet, was uns veranlasst, in einer bestimmten Art und Weise zu handeln und nicht in einer anderen.
Denn dies ist der springende Punkt: unsere Handlungen, unsere Gesten, unsere Worte sind nichts anderes als die Konsequenzen unserer persönlichen Haltung gegenüber den Dingen der Welt. Aus diesem Grund scheint es mir heutzutage wichtiger, zu versuchen, ein literarisches, auch figuratives Kino zu machen (...) Ich halte es heutzutage für wichtig, dass sich das Kino dieser inneren Form zuwendet, diesen absolut freien Ausdrucksweisen, so wie die Literatur frei ist, so wie die Malerei frei ist, die zur Abstraktion gelangt. Vielleicht kommt das Kino dahin, auch eine Poesie zu schaffen, das kinematographische Gedicht in Reimen.
Heute erscheint uns das vollkommen undenkbar, und doch kommt vielleicht auch das Publikum dahin, diese Art von Film zu akzeptieren, gerade weil hier etwas in Bewegung ist...”
Aus einem Vortrag vom 16.03.1961 mit dem Titel „Die Krankheit der Gefühle”, gehalten an der römischen Filmhochschule.
(Zitiert nach der Übersetzung von Irmbert Schenk. Erschienen in dem Piper Band „Der Film. Manifest, Gespräche, Dokumente”, herausgegeben 1964 von Theodor Kotulla.)
Im Berliner Kino Arsenal findet zur Zeit eine umfassende Retrospektive von Antonionis Filmen statt.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen