Ich sehe gerne Western: Schweiss, Staub, Schmerz, weite Landschaften, bühnenhafte Städte, Handlungen die Muster bilden, Rituale: der achtlose Schwung, mit dem der Reiter die Zügel um den Balken wirft, bevor er absteigt, Henry Fondas Balance im Rocking-Chair, in MY DARLING CLEMENTINE, Frauen, die allen Bitten zum Trotz zurückgelassen werden, „weil es zu gefährlich ist” (und gerade diese Vorsichtsmassnahme kostet sie das Leben), usw. usw. Dieses Genre, könnte man meinen, gehört in seiner seltenen Kombination aus fotografischer Sinnlichkeit und abstraktem Handlungsraum dem Kino selbst.
Henry Fonda rockt als Wyatt Earp in Fords MY DARLING CLEMENTINE (USA, 1946).
Aber es gibt noch eine andere Perspektive auf den Western. Ich meine die Perspektive der historischen Realität, der realen Erfahrung der frontier. Auch wenn sie noch so blass und verwandelt unter den Filmen hervorscheinen mag, der Western ist doch nie im Irgendwo angesiedelt, weder zeitlich noch räumlich. Die Frage nach der Verhältnismässigkeit von story und history drängt sich auf.
Die Filme erzählen wieder und wieder Verlustgeschichten (Bogdanovich sprach im Zusammenhang mit Fords Filmen von „Glory in Defeat”), erzählen vom menschlichen Preis der Grenze, von „notwendigen” Strapazen, deformierten Psychologien, vom Verlust der „Unschuld”, der zähmenden Gewalt nachrückender Zivilisation und - nicht zuletzt - der Rache der Enttäuschten. Der Westerner ist meistens ein Einzelner, der für eine kurze Zeit an der „Grenze”, im Kampf, seine Bestimmung findet, die Wärme einer gemeinsamen Sache erlebt, bevor er wieder aus dem Gemeinwesen fällt.
Wie alle Genres hat auch der Western einen traumatischen Kern, gibt induktiv Auskunft über eine große Erschütterung, seine historische Bedingung. Direkt ist davon jedoch kaum je die Rede. Ich meine die Ermordung, Entrechtung und Ghettoisierung der indigenen Bevölkerung, die die gigantische räuberische Landnahme begleitet hat, die man verharmlosend den „Wilden Westen” nennt. Ist es nicht paradox, dass dieses Verbrechen eine so große Fülle romantischer Geschichten hervorgebracht hat? Und ist es nicht auffällig, dass die großen Errungenschaften der amerikanischen Geschichte, etwa die Unabhängigkeit von England, die Befreiung der Sklaven, keine populären Erzählungen nach sich gezogen haben?
Nun kann man einwenden, dass zwei Generationen after the fact aus Geschichte längst ein Material geworden ist, über das man frei d.h. nach Massgabe dramatischer Bedürfnisse verfügen könne. Und die „Eroberung des Westens” bietet eben good story material. Hawks' RED RIVER (USA, 1948) zum Beispiel spielt 1865 - der zeitliche Abstand zum Sujet beträgt also 83 Jahre. Genug?
Natürlich gibt es keine zuverlässige Antwort auf diese Frage - aber dass die Erschütterungen eines Unrechts sehr viel länger anhalten können, versteht sich von selbst. Davon abgesehen war die Romantisierung des „Wilden Westens” eine parallele Bewegung. Nicht nur gehört das Western-Genre zu den ältesten des Films, man kann auch davon ausgehen, dass die den Filmen vorausgehende (Trivial-) Literatur tatsächliche Protagonisten (und also auch: Täter) der Zeit als Unterhaltung erreicht hat.
(Auch die deutschen Soldaten haben im Zweiten Weltkrieg Groschenhefte gelesen, in denen ihr Schicksal zu Heldenkitsch verwurstet wurde. Ich stelle mir vor, dass die Nazis, wären sie siegreich aus dem Krieg hervorgegangen, Landser-Filme gemacht hätten, um ihre Vernichtungserfahrung zu romantisieren. Hitlers Wort vom „Lebensraum im Osten” klingt jedenfalls schon sehr nach Western, wie überhaupt die NS-Politik sehr stark von Groschenheften inspiriert scheint.)
„Geschichte wird gemacht aus den Lügen der Sieger”* heisst es in einem Gedicht von Lawrence Ferlinghetti - daraus lässt sich eine große Verschwörung ableiten, gerade weil die enge Verflechtung von Macht und Darstellung eine Tatsache ist. Die Frage, die mich umtreibt, ist, welche Rolle dabei die Geschichten spielen. Mir scheint, als stünde die romantische Intensität, die Verklärungstiefe sozusagen, in einem direkten Verhältnis zum Ausmass der Katastrophe.
Interessanterweise scheint diese notwendige Funktion des Erzählens - die „Zubereitung” von Geschichten, die gebraucht werden, die eine Gruppe hören will - einer sich selbstregulierenden Dynamik zu gehorchen. Für die große tröstende Lüge des Westerns waren (höchstwahrscheinlich) keine strategischen Propagandisten nötig. Der Erfolg hat den Bedarf signalisiert, und der wurde befriedigt.
Joe Hembus schreibt in seinem Westernlexikon: „Um diese Zeit (gemeint ist die Ermordung von Sitting Bull 1887) hat sich längst die bittere Ahnung in die Seele Amerikas gesenkt, dass die Geschichte des Westens eine Geschichte von Diebstahl, Mord, Schwindel und Betrug ist. Aber es ist auch längst der Damm der Legende gebaut worden, der verhindern soll, dass diese Ahnung zum Bewusstsein wird.”
Hätte man angesichts des Verbrechens andere Filme, andere Western machen können oder müssen? Filme, die die „ganze Geschichte” erzählen? So sehr ich mir ein Kino der Reife wünsche, das sich bewusst mit den Lügen der (offiziellen) Geschichte auseinandersetzt - einem „revisionistischem” Western will ich nicht das Wort reden. Das Western-Genre, das hat die Filmgeschichte gezeigt, löst sich mit seiner Entmythisierung auf. Oder anders gesagt: Genre ist (Arbeit am) Mythos. Es wäre ebenso sinnlos, die Nibelungen zu entmythisieren. In der Gretchenfrage HIGH NOON oder RIO BRAVO würde ich immer zu Hawks' Film halten, und nicht nur, weil Hawks der bessere Erzähler ist. HIGH NOON erscheint mir als ein als Western maskierter Problemfilm, der die Gegenwart meint, während RIO BRAVO ganz dem Western gehört und tief in der Tradition fusst.
Die einzige Möglichkeit, den Western zu transzendieren, ohne ihn zu zerstören, liegt in der Genauigkeit innerhalb der eigenen Setzungen, so dass in den Auslassungen eine Ahnung der wahren Verhältnisse, des ganzen Zusammenhangs, sichtbar wird. Es geht gewissermassen um eine „Verschärfung von rechts”; der moralische Distinktionsgewinn eines „linken” Westerns hingegen, der, zum Beispiel, die Partei der Indianer ergreift, verbraucht sich selbst. Das Modell muss THE SEARCHERS (John Ford, 1956) heissen und nicht, sagen wir, LITTLE BIG MAN (Arthur Penn, 1970).
John Wayne alias Ethan Edwards verlässt uns in Fords THE SEARCHERS.
P.S.:
Womöglich können wir - insbesondere auch im Hinblick auf die Fiktionalisierung der deutschen Geschichte - von einem „ehrlichen” Täterfilm mehr lernen, als von der sensibel nachempfundenen Opferperspektive; letztere habe ich immer wieder als Hohn für die „Verlierer” der Geschichte empfunden, die als fügsames dramatisches Material herhalten müssen, damit sich der Erzähler als good guy identifizieren kann. Während jede Opfererzählung unter dem Zwang steht, die Opfer gut aussehen zu lassen, schon um nicht in den Verdacht einer Rechtfertigung des Verbrechens zu kommen, kann man mit den Tätern - ironischerweise - differenzierter umgehen. Jedenfalls so lange die Wunden frisch sind...
*)
"History is made / of the lies of the victors' / but you would never dream it / from the covers of the textbooks"
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