06 Mai, 2024

Legalistisches Regime

Wir drehen eine Totale. Unser „Spiel”-Fahrzeug fährt von links nach rechts, wirbelt Staub auf, parkt. Die Hauptcharaktere steigen aus. Beim ersten Take dauert das Aussteigen zu lang. Noch mal. Plötzlich sind tief im Bild, auf einem angrenzenden Sportplatz, Kinder zu sehen, die Ball spielen. Ich freue mich über die „Störung”. Die Kinder durchkreuzen die Kontrolle der Fiktion, beglaubigen das Bild. Auf der Leinwand wären die beiden winzig. Unmöglich, sie zu erkennen. Und doch bricht der Setaufnahmeleiter die Aufnahme ab und gibt über Funk Anweisung, die Kinder zu vertreiben. Weil wir „keine Rechte” haben. Ich brause auf (wie ich es selten tue), frage, warum er mein Bild zerstöre? Der Set-AL ist sich keiner Schuld bewusst, im Gegenteil. Es sei seine Aufgabe, Schaden von der Produktion abzuhalten. 

Die Kamera folgt zwei Freundinnen, die über eine Einkaufsstraße schlendern, in einen Parfümladen gehen und zum Vergnügen Düfte probieren. Eine kleine Vignette. Nun haben wir eine Drehgenehmigung für den Laden und die Straße. Nicht aber für die in Privatbesitz befindliche, öffentlich jederzeit zugängliche Passage, über die man den Parfümladen betritt. Grund sind Bedenken mehrerer angrenzender Läden, dass der Film ihren Markenauftritten Schaden zufügen könnte. Wir müssen versprechen, die anderen Läden aus dem Bild zu halten. In der (in öffentlichem Besitz befindlichen) Straße, für die wir eine Genehmigung haben, befinden sich teure Läden weltberühmter Marken, die ebenfalls versuchen zu verhindern, dass wir sie ins Bild nehmen. Man müsse das mit der Konzernzentrale in Paris oder Mailand abklären. Wohl gemerkt Läden, die keine Rolle für unseren Film spielen, wahrscheinlich gar nicht erkennbar sein werden, weil sie bloßer Hintergrund sind. Wir drehen die Szene trotzdem, aber die berühmten Marken „behalten sich rechtliche Schritte vor”.

Wir wollen eine Szene nachts im Park drehen. Ursprünglich spielte die Szene in einem Krankenhaus, aber aus verschiedenen Gründen findet sich kein Krankenhausmotiv, weshalb wir die Szene auf einen Park umschreiben – im Glauben, die Szene so zu vereinfachen. So kann man sich täuschen. Zwar finden wir bald geeignete Motive in Köln, aber eine Genehmigung wird nicht erteilt, aus Gründen des „Insektenschutzes”. Man bedeutet uns, dass das für alle Kölner Parks gelte. Wir weichen auf eine andere Stadt aus, 1 Stunde entfernt, was von unserer Drehzeit abgeht.

Wir wollen nachts auf einer Autobahnraststätte drehen. Die entsprechende Behörde untersagt das für das ganze Bundesland NRW, weil wir die Ruhezeiten der LKW-Fahrer stören könnten. Dass die Autobahn um ein vielfaches lauter ist als unsere Dialogszene, ficht die Behörde nicht an. Und dass die Raststätte ohnehin beleuchtet ist und wir nicht im Bereich der LKW-Parkplätze drehen wollen, auch nicht. Wir müssen auf einen Privatparkplatz ausweichen, der leider auch so aussieht.

Ein Bündnis von Tiefgaragen-Besitzern, das in Deutschland 80 % des Marktes kontrolliert, möchte dem „falschen Eindruck entgegenwirken, dass Tiefgaragen Orte des Verbrechens” seien. Deshalb wird grundsätzlich keine Drehgenehmigung für Szenen gegeben, die Kriminalität thematisieren. Wir finden schließlich eine „freie” Tiefgarage.

Für eine Szene wünsche ich mir einen Fußballfan, da wir in Frankfurt sind, im Trikot von Eintracht Frankfurt. Aber, erfahre ich, das sei problematisch. „Wir haben keine Rechte”. Der Versuch, sie abzuklären, bleibt ohne Ergebnis. Die Kostümabteilung schlägt vor, ein fiktives Fußballtrikot zu erstellen – nicht Eintracht, sondern nur mit vager Ähnlichkeit. Es ist lächerlich, ich bestehe auf dem Eintracht-Logo, schließlich ist der faule Kompromiss, den Adler auf ein neutrales Shirt zu nähen. 

Kleine Hommage an BOB LE FLAMBEUR: unsere fiktive Zigarettenmarke.

Jede Bierflasche, jedes Medikament, jede Zigarettenmarke wird durch teuer hergestellte Dummies ersetzt, durch fiktive Marken, die für den Film entworfen werden (an der Zigarettenmarke zumindest hatte ich Spaß, siehe oben). Jedes Poster, das in einem Zimmer oder „bildwichtig” im öffentlichen Raum hängt, muss abgeklärt werden. Es sei unabdingbar, die „Rechtekette” zu kontrollieren, heißt es immer wieder.

Auch Passanten reagieren heute ungemein empfindlich auf die Möglichkeit, Teil eines Medienbildes zu werden. Während die Leute online als Datenschleudern Intimstes bewusst oder unbewusst mit der ganzen Welt (und Social Media Konzernen) teilen, wird die Anwesenheit einer Kinokamera im öffentlichen Raum schnell als bedrohlich angesehen. Und weil es deshalb gelegentlich Klagen gegeben hat, ist es heute üblich, selbst für vollkommen harmlose Szenen – Figur X überquert die Straße – Komparsen zu bezahlen, die regelmässig auch aussehen wie Komparsen: Unterdeterminiert & übereifrig.

Beispiele eines zunehmend verrechteten öffentlichen Raumes, der den Film mit seltsamen Fiktionen belastet. Spontanität und dokumentarische Anteile im Spielfilm werden auf ein Minimum reduziert. Aber wem nützt das?

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