30 September, 2006

Kino der Fülle

Was mich an Viscontis Filmen fasziniert, ist das Gefühl der Vollständigkeit. Das Off ist so anwesend wie das On, nie hat man das Gefühl, der Ausschnitt müsse verschleiern, dass das Filmbild eine prekäres, mühsam hergestelltes sei --- man glaubt jederzeit in alle Richtungen gehen zu können, hinter dem Film scheint eine EIGENE Wirklichkeit auf, selbstbewusst und zweifellos. Das gilt auch für die Menschen in seinen Filmen, die eine Fülle und Sinnlichkeit haben, wie es sie im Kino kein zweites Mal gibt. Ihr Realismus ist einer der antiken Sagenwelt --- immer ist das Menschliche auch als eine Potenz der Grösse, des grossen Scheiterns sichtbar, während zum Beispiel der „Realismus” britischer Prägung immer auf das Erbärmliche menschlicher Schwäche abzielt. Nicht, dass Visconti seine Figuren verharmloste, im Gegenteil, aber ihr Spektrum ist breiter, nicht von soziologischen Spekulationen begrenzt, sondern im Archaischen wurzelnd bis ins pedantische Detail des richtigen Manschettenknopfes entwickelt.

OSSESSIONE



Carla Calamai und Massimo Girotti.

Luchino Visconti (1906-1976)

„Zivilisation erschöpft sich für Visconti nicht in den sichtbaren Gegebenheiten des Realen. Das Äussere ist bei ihm immer nur der nach aussen gestülpte Zustand innerer Verfassung. Darum kann er an der Realität registrieren, wie in ihr blinde, naturwüchsige Verhältnisse überdauern; wie auf den verschiedensten historischen Stufen eine mythische Vorwelt gegenwärtig wird. Nicht nur OSSESSIONE könnte zu allen Zeiten in allen möglichen Gesellschaften angesiedelt sein.”

Aus: Peter Buchka: Ansichten des Jahrhunderts, Hanser, 1988.

23 September, 2006

The Boss Of It All

Lars von Triers neuer Film hatte gerade in Kopenhagen Premiere. Dem Vernehmen nach ist DIREKTOREN FOR DET HELE eine Komödie über einen Unternehmer, der nicht nein sagen kann – und deshalb einen Schauspieler anheuert, der in der Rolle des fiktiven Besitzers unpopuläre Entscheidungen verantworten soll. Gedreht ist das Ganze in einer Technik, die Trier AUTOMAVISION nennt. Ein Verfahren, das in Screendaily als „automatic randomised camera” erklärt wird: eine Kamera, die automatisch und zufällig kadriert --- und so eine klassische Gestaltung ausschliesst. Typisch Lars von Trier. Er stellt sich Fallen, in die er dann nicht hineintappt, über die man aber hervorragend schreiben und spekulieren kann. Dieses falsche Spiel, das dann aber reale Folgen hat, passt natürlich zur Handlung. Ich bin gespannt auf den Film, auch wenn mir diese Cleverness längst auf die Nerven geht.

11 September, 2006

Fahrwasser

Das Argument „Fahrwasser”, wonach grosse Mainstream-Erfolge aus deutscher Produktion vertrauensbildend wirkten und auf diese Weise auch „kleine” Filme mit Zuschauern versorgten, halte ich für wenig stichhaltig. Das Vertrauen des Publikums kann über den Umweg schlechter, imitativer Filme nicht gewonnen werden. Im Gegenteil muss man fürchten, dass man das Publikum zum Misstrauen erzieht, wenn man es wieder und wieder mit grosser Trommel in substanzlose Filme treibt. Die Aufteilung in „gross” und „klein” ist ohnehin verlogen. Es gibt keinen Zusammenhang zwischen Qualität und Erfolg, und was Erfolg haben wird, weiss niemand. Wer versucht, die Schauwerte eines Filmes „dem Publikum zuliebe” zu verallgemeinern, wird in den Graben fahren, weil der „unterschätzte Mensch” (Kluge/Negt) mit seiner Statistik eben nichts Wesentliches gemein hat. Leider findet sich in diesem Graben die beste Gesellschaft des deutschen Films... Wäre es nicht grundsätzlich besser, Filme erst nach einer Bewährung unter gleichen Bedingungen vertrieblich zu differenzieren? Nicht, dass ich an die Klugheit des Marktes glaubte, aber das, was unsere Subventions- und Fernsehfunktionäre für „kommerziell” halten, ist in jedem Falle stumpfer als das Interesse des Publikums, das ja beizeiten doch sehr riskant und immer neugierig entscheidet.

06 September, 2006

IM SPINNWEBWALD



Der Geist in Kurosawas genialer Macbeth-Bearbeitung. Was ist menschlich?

Selbstportrait?

Der Film blüht hybrid. Das „reine” Kino ist nicht nur zu verletztlich für den Alltag, sondern im wahrsten Sinne ungeniessbar.

Genuss ist eine Ergänzungskunst, wie die Erotik. Lücken und Fehler sind Einladungen.

Das wahre Kino wird im Sehen verfertigt. Perfektion ist eine Fantasie.

Die Oberflächen nicht zum Schein schliessen, gegen den Zuschauer, aber auch nicht pädagogisch perforieren.

Persönliches Kino heisst, die eigene Schwäche überwinden wollen, aber nicht können. Im Unvermögen zeigt sich der Charakter.

Film als Selbstportrait.

Portrait?

Die Fragen: „Was ist menschlich?” und „Was ist möglich?” gleichzeitig denken.

Die Handlung als einen Bogen begreifen, der die Charaktere so in Spannung bringt, dass sie kenntlich werden.

Im Relief der Bewegungen, Gesten und Worte ein dreidimensionales Bild entstehen lassen.

Film als Portrait.