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Ein Bild aus Sam Fullers WHITE DOG (USA 1982). |
Die Gründe, warum Leute eine Partei wählen, werden überschätzt. Es geht dabei nur am Rande um etwas Gedachtes. Ganz bestimmt spielen Sachthemen, im Sinne von passenden Antworten auf konkrete Probleme, eine untergeordnete Rolle. Niemand analysiert seine Situation, gewichtet seine Bedürfnisse und leitet daraus eine Partei-Entscheidung ab, Wahl-o-mat hin oder her.
Viel eher geht es um Zugehörigkeit, um einen Gefühlsverkehr, der beinahe zufällig politische Lösungen berührt. Das ist im Kern irrational, und erst in der Erzählung („Warum ich XY wähle”) wird dieses Gefühl rationalisiert, und mit Argumenten und öfter noch Schein-Argumenten unterfüttert. Das wissen natürlich auch die Politiker, die meist allgemein um Zustimmung und nur ganz selten für konkrete politische Projekte werben.
Dass die politischen Vorschläge der AfD den konkreten Interessen ihrer Wähler entgegengesetzt sind, fällt bei einer – vorerst – reinen Oppositionspartei noch weniger auf als ohnehin schon.
Gleichzeitig leben wir in der Illusion, dass „Debatten” so etwas wie gesellschaftliche Verständigung strukturieren. Das ist aber nur zum kleinsten Teil der Fall. Im Gegenteil belohnen wir permanent die mit Aufmerksamkeit, die unsere Überzeugungen nicht herausfordern.
Entsprechend sind Wahlen eher aus anderen Gründen wichtig als allgemein anerkannt. Überschätzt wird die Entscheidung, die Fähigkeit der Wahlberechtigten, das Richtige zu erkennen. (Übrigens können auch gut informierte Wähler nicht hellsehen.)
Eine Wahl ist zentral für eine Demokratie vor allem, weil sie Garant der relativen (d.h. zumindest der personellen) Diskontinuität von Macht ist. Zweitens ist es ein Verfahren der Legitimierung. Welche Macht unterbrochen und welche Macht legitimiert wird, ist relativ gesehen unwichtig, jedenfalls so lange es eine grundsätzliche Bereitschaft gibt, innerhalb des Systems / der demokratischen Regeln zu spielen.
Gerade das macht die AfD so problematisch, denn ob sie auf dem berühmten „Boden der freiheitlich-demokratischen Grundordnung“ steht, daran gibt es erhebliche Zweifel, und ihr Appeal hat ganz wesentlich mit diesen Zweifeln zu tun.
Auf die zahlreichen performativen Widersprüche der AfD hinzuweisen, mag helfen, die Anziehung auf diejenigen zu mindern, die nach Argumenten suchen. Das ist aber nur eine kleine Minderheit. Und es ist allemal leichter, die Wähler zu täuschen als sie davon zu überzeugen, dass sie getäuscht wurden (danke an Mark Twain). Je größer die Täuschung, desto schwieriger, weil solcherart Erkenntnis den Stolz verletzt. Selbstkritik setzt Selbstbewusstsein voraus, das AfD-Wähler eher nicht haben (nicht umsonst fühlen sie sich permanent gekränkt und benachteiligt).
Noch weniger erreicht man mit Wählerbeschimpfung. Im Gegenteil verfestigt man damit womöglich das Wir-Gefühl. So kann man der Partei also nicht beikommen.
Was also tun? Ich glaube, kein gegen wird je so viel emotionale Kraft wie ein für entfalten. Und auf dem Feld des für sieht die politische Konkurrenz gerade ziemlich blass aus.
Aber ist nicht gerade die AfD eine Anti-Partei? Gegen Flüchtlinge, den Islam, die EU, gegen „alte Eliten“ usw? Jein. Man muss verstehen, dass der völkische Kern der AfD große Strahlkraft hat, aus mindestens zwei Gründen: er wirkt - frisch vom Tabu befreit - relativ neu. Und er sagt den Wählern: ihr seid gut, besser als die Anderen, vielleicht sogar: auserwählt. Wie definiert Don Draper in MAD MEN gute Werbung? Dem Kunden zu versichern: „You are okay.“ Das macht die AfD sehr gut – natürlich nur für ihre Klientel.
Welches für haben die etablierten Spieler dem entgegen zu setzen? In jedem Fall diffusere Erzählungen, nicht zuletzt, weil sie zu einem erheblichen Teil Verantwortung für unsere politische Gegenwart tragen. Und auch Parteien in der Opposition haben eher komplizierte Erzählungen im Angebot, denn die Probleme sind zu groß, als dass man überzeugend ein „Alles wird gut“ anstimmen könnte.
An diese Vernunft fühlen sich populistische Parteien nicht gebunden, ihr Verhältnis zur Macht ist zynisch.
Noch einmal gefragt: Was tun? Wir müssen an einem für arbeiten, das zugleich Argument und Gefühl ist, fürchte ich. An einer Erzählung, die nicht diffus „gegen rechts” sondern für den Wandel ist. Und die ausgehend von der Wirklichkeit einen Weg beschreibt, der real ist und positiv in die Zukunft reicht.
Es muss dabei unbedingt um eine Zukunft gehen, in der sich alle wiederfinden können – denn wenn wir den Universalismus aufgeben, hat uns die Rechte da, wo sie uns haben will: auf der Seite der Privilegierten, der liberalen Elite, der Globalisierungsgewinnler.
(Auf Facebook geschrieben am 30.09.2020, aus aktuellen Gründen hervorgekramt)
P.S.:
Beim Studium der jüngsten Wahlergebnisse hat mich, angesichts der großen Zuwächse der AfD in Marzahn, eine Art Schauder erfasst. Plötzlich dachte ich, dass es darum vielleicht geht: den satten Bürgern in den schönen Altbauwohnungen, also mir zum Beispiel, einen Schrecken einzujagen, als Antwort auf die Verachtung, die die „Abgehängten” erleben, während wir im Diskurs, in der offiziellen Kultur vorkommen und uns von der Politik, die von Leuten wie uns gemacht wird, vertreten fühlen dürfen. Das würde (teilweise) erklären, warum das politische Personal der AfD, trotz der Tatsache, dass es sich regelmässig gegen die Interessen ihrer Wähler äussert, als „Alternative” erlebt wird. Die politischen „Orks” der AfD haben keine Manieren, von Anstand ganz zu schweigen, aber wenn man bitter geworden ist und längst aufgehört hat, von der Politik etwas zu erwarten, kann man sich zumindest über die Angst freuen, die sie auslösen – und sich über diesen Umweg ermächtigt fühlen.
P.S.2:
Auf Facebook geschrieben am 19.11.2020:
Polymorph Rechts
Die AfD war nie Ausdruck eines konkreten politischen Projekts. Sie wurde und wird getragen von diffusen Ängsten und der Lust, daraus politisch Kapital zu schlagen. Ist das eine Thema totgeritten, wird ohne viel Vertun umgesattelt, ganz gleich, ob das einen Richtungswechsel bedeutet oder nicht. Anti-Euro, Anti-Einwanderung, Anti-Merkel, Anti-Islam, und jetzt eben Anti-Corona. Dass man zuerst schärfere Maßnahmen gefordert hatte, und jetzt den „Querdenkern“ eine politische Heimat sein will, passt ins Bild. An einem Tag verharmlost man die NS-Geschichte, fordert eine „geschichtspolitische Wende um 180°“, am anderen vergleicht man sich mit NS-Opfern und erkennt gegen jede Plausibilität im Infektionsschutzgesetz Parallelen zur „Ermächtigung” Hitlers. Man identifiziert sich (scheinbar) mit Sophie Scholl und verhöhnt im nächsten Augenblick und auf diese Weise doppelt die Opfer der NS-Verfolgung. Man gründet eine Gruppe „Juden in der AfD“ und wählt offene Antisemiten in höchste Parteiämter. Die Partei trägt faschistische Züge, ja, sie pfeift auf demokratische Institutionen und normalisiert völkische Ideen, aber sie bricht auch opportunistisch mit manchen Blut-und-Boden-Standards der traditionellen Rechtsextremen, die zwar eine starke Kraft in der Partei sind, die „undeutsche“ Flexibilität aber vorerst brav ertragen, womöglich im Glauben, dass die Partei, wenn die Zeit gekommen ist, diese ideologische Spreu schon abstreifen werde. Dabei ist die AfD, darin eher Symptom als Erfinder, polymorph rechts, labt sich an der Protestenergie verschiedenster Quellen, ohne Skrupel und ohne überhaupt den Versuch zu machen, zu einer kohärenten Position zu kommen. Trumpismus, ganz ohne Trump. Ich glaube, diese maximal ambivalente „phantompolitische” Kommunikation ist auch das Geheimnis ihres Erfolges. Nicht nur weil sie so die Zustimmung ganz verschiedener Milieus ernten kann, die zwar im weitesten Sinne anschlussfähig an die Formel vom „volkstümlichen Protest” sind, aber eben niemals auf eine gemeinsame realpolitische Sache hinauslaufen – sondern auch, weil die Entleerung der Diskurse die AfD gegen sachliche Kritik weitgehend immunisiert. Es geht nicht um eine Sache, ein Argument, ein Anliegen, sondern um „authentische” Erregung als eine heiße Luft, die den Ballon der Wahrnehmung bläht. Der ehemalige Pressesprecher der AfD, Christian Lüth, hat das ganz richtig zusammengefasst: „Je schlechter es Deutschland geht (oder, sollte man hinzufügen, je schlechter sich Deutschland fühlt), desto besser für uns.“