26 Oktober, 2021

City Hall


Ein seltsam eindimensionaler Film, in dem die wie gewohnt spektrale Wiseman-Perspektive nur Redundanzen hervorbringt. Mir war, als würden mich alle Protagonisten des Film belehren wollen, worauf wieder andere mit Belehrungen antworten. Zu besichtigen ist jedenfalls ein im höchsten Maße ideologischer Raum, der durch die Setzungen der Regie noch weiter verengt wird. Zu sehen und zu hören sind beinahe ausschließlich offizielle Sprechakte: Sitzungen, Komitees, Pressetermine. Es gibt kaum einen Moment, der Widersprüche offenbart, kaum Nebenvalenzen, keine Blicke in die Werkstatt der Politikmaschine. Wir sehen nicht, wie die Reden des Bürgermeisters geschrieben werden zum Beispiel, erleben keine strategischen Absprachen, keine Ablaufproben oder auch nur protokollarische Konflikte. Sehen nichts vom Scheitern der großen Vorsätze, nichts von den Problemen der Stadt. Nichts ist im Werden, kein Argument wird auf der Zunge geboren, kein Satz kommt dem anderen zu Hilfe. Alles ist immer schon formuliert, ist immer schon Rede und Rechtfertigung. Anscheinend will der Film Schützenhilfe geben. Und anders als etwa in Wisemans großartigem STATE LEGISLATURE (2007) findet der Film auch keine Protagonisten, denen man länger als nötig zusehen will. Walsh, Bostons Bürgermeister, ist zwar oft im Bild, aber zu fassen bekommt man ihn nicht. Es gibt ein, zwei Momente, die ihm verunglücken - etwa wenn er Alkoholismus mit Kriegsdienst vergleicht, was er mit dem offenbar quer durch die Gesellschaft akzeptierten Mantra, Trauma müsse in Erzählung verwandelt werden, gerade noch auffangen kann - aber seine teigige Art, „progressive“ Formeln wiederzukäuen, kennt weder Glanz noch Scheitern. Enttäuschte Liebe macht bekanntlich überkritisch, aber fest steht, dass mir alle früheren Wiseman-Filme (mindestens sieben Filme habe ich gesehen), mehr gegeben haben.

23 Oktober, 2021

Hebelwirkung des Herzens

Einmal war in der Grundschule von der Hebelwirkung die Rede, und weil wir in Bayern waren, hatte die Lehrerin zwei Maßkrüge mitgebracht und füllte sie - ein Zugeständnis an unsere Jugend - mit Wasser. Ich sollte den Krug so lange wie möglich in der gestreckten Hand halten, in Konkurrenz zu einem zweiten Kind, das den Bierkrug nah am Körper tragen durfte. Die Kraftprobe war zu meiner Überraschung kurz, die ausgestreckte Hand war für mich (obwohl „Stärkster der Klasse“) nicht lange durchzuhalten, im Gegensatz zu der körpernahen Haltung. Das Experiment hat sich mir eingeprägt. Ich finde, es lässt sich gut auf die künstlerische Arbeit übertragen. Sich mit einer Last vom eigenen Schwerpunkt zu entfernen hält man nicht lange durch, das ist die Hebelwirkung des Herzens. Und umgekehrt: nur wer bei sich bleibt, wird die großen Gewichte stemmen können.

12 Oktober, 2021

Angst vor dem Leben


In Gustav Ucickys protofaschistischem U-Boot-Film MORGENROT (1933) fällt einmal der Satz: „Zu leben verstehen wir Deutsche vielleicht schlecht, aber sterben können wir jedenfalls fabelhaft.“ Der Satz pointiert etwas, was den Nationalsozialismus – und in gewisser Hinsicht überhaupt „deutsches Denken”– stark geprägt hat: die Angst vor dem Leben als einem ungeregelten Jetzt, und dem Wahn, mit dem Fluchtpunkt auf den Tod hin zu „endgültigen Lösungen” zu kommen, mit Ewigkeitsanspruch, Ruinenwert und Auschwitz.

Die Messe ist gelesen

Dass man die Vitalität einer Idee an der Kunst ablesen könne, die sie inspiriert – das hat mir immer eingeleuchtet. Wie ist das im Falle des Films? Womöglich anders als, sagen wir, in der religiösen Kunst des Mittelalters, weil das Kino selbst (wie) eine Religion ist, bei der Glaubensinhalt, Messe und Altarbild in eins fallen. Das Medium ist die Botschaft, lebt in der Aufmerksamkeit der „Gläubigen” und scheint besonders dann zu sich zu kommen, wenn es sich von Inhalten emanzipiert, um den Zuschauer mit Form und Affekt zu sich zu bringen.

Daran musste ich denken, als ich bei einem Kinobesuch letztens die neuesten Trailer für Filme sehen musste, die das sogenannte Arthouse derzeit mit Demutsgesten und „guten Absichten” prägen. Ist die Religion des 20. Jahrhunderts wirklich so auf den Hund gekommen – oder hat sich das Publikum verzwergt? In dem Spiegelbild, das die Summe dieser Filme von uns Zuschauern entwirft, erkenne ich mich nicht wieder.

11 Oktober, 2021

Straßensalz


Ich sehe gerne Straßen in Filmen, am Liebsten „richtige” Straßenszenen, Geschichten, die sich auf der Straße zutragen, nicht Schnittbilder oder stock footage. Solche Szenen sind seltener als man denkt, weil schwer zu kontrollieren und damit undankbar zu drehen - und genau deshalb geben sie (direkteren) Einblick in eine Wirklichkeit jenseits der Fiktion, und das selbst dann, wenn kein unbeteiligter Passant und kein Fahrzeug zu sehen ist. Es ist ein Hunger nach den „Zeitkristallen“ von denen Fritz Lang sprach, unverfälschten Lebenszeugnissen, den ich überraschenderweise nicht in gleicher Weise in Dokumentarfilmen verspüre. Vielleicht geht es um die Balance aus Finden und Erfinden, um das Kontern der fiktiven Süßigkeiten mit dem „Salz” der Wirklichkeit. So oder so, ich nehme mir hiermit vor, mehr Straßenszenen zu drehen.


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Eine Szene aus MNJE DWADZAT LJET („Ich bin zwanzig Jahre alt”, Regie: Marlen Chuzijew, UdSSR 1965.