Ein Kino der gemachten Gefühle, für ein Publikum, das sich in seiner Rührung gefällt.
Was unterscheidet die gemachten Gefühle von den „wahren”?
Das gemachte Gefühl ist nicht empfunden, sondern auf Wirkung berechnet. Der „Erfolg” des sentimentalen Kinos ist die Träne im Auge des Zuschauers, nicht die angemessene Darstellung. Die wahren Gefühle dagegen sind unzuverlässig.
Typische Kennzeichen?
Ein Gerechtigkeitsgefälle („Unschuld in Not”), das nach Massgabe seiner emotionalisierenden Wirkung individualisiert und zugespitzt wird, während man den politisch-sozialen Boden absichtsvoll verunklärt. Eine Musik, die sich als Hirtenhund des Fühlen-müssens geriert - und uns zu Lämmern macht.
Was ist daran schlecht?
Das sentimentale Kino will aus einer menschlichen Schwäche Kapital schlagen, rechnet mit der Eitelkeit (und dem Gefühlshunger) seines Publikums. Das ist nicht nur unethisch, sondern steht auch einer Verschärfung des Wirklichkeitsbegriffes im Wege, um die es gehen muss.
Was heisst „Verschärfung des Wirklichkeitsbegriffes”?
Ich glaube an ein Kino als poetisches Werkzeug, das unsere Vorstellung davon, was wirklich ist, präzisieren hilft.
Warum sind so viele Filme sentimental?
Es ist eines der gängigen Opiate des Kinos. Ein süsses Gift, das sich zwischen Selbst- und Weltwahrnehmung drängt. Es ist populär bei vielen Filmemachern, weil es Macht über den Zuschauer bedeutet. Es ist populär bei vielen Zuschauern, weil die Rührung Empfindsamkeit und Anteilnahme vortäuscht, die sie im Leben vermissen. Diese Gefühlsbeute im Schicksalsnebel wird deshalb oft und gerne mit dem „großen Kino” verwechselt, das uns ja angeblich fehlt. Ich glaube im Gegenteil, dass falsche Gefühle der Tod des Kinos sind - und sehne mich nach den Echten.
Nachtrag:
Bin in der U-Bahn eben meine Favoriten durchgegangen und habe mich gefragt, wie belastbar meine Kritik ist. Für jeden verehrten unsentimentalen Regisseur - Ernst Lubitsch zum Beispiel, Luchino Visconti, Orson Welles, Alfred Hitchcock fallen mir ein - könnte ich einen sentimentalen nennen, dessen Filme ich dennoch liebe. Was ist mit John Fords SHE WORE A YELLOW RIBBON? Vielleicht wäre in Sachen Ford noch eine Verteidigungslinie zu finden, aber Vincente Minellis MEET ME IN ST. LOUIS ist bestimmt sentimental - und trotzdem großartig. Vielleicht kann eine solche Pauschalierung nicht funktionieren ... Weiterdenken.
Siehe auch: Gefühlsindustrie?
Der Anfang ist fast nicht zu verstehen, das Ende dafür umso richtiger :-)
AntwortenLöschenBenjamin
Hab's eben noch mal neu formuliert. Der steile lexikalische Ton entsteht aus dem Wunsch, klar zu formulieren.
AntwortenLöschenWell done - gut und richtig und wunderbar verständlich!
AntwortenLöschenBen
Hallo Christoph!
AntwortenLöschenDanke für diesen Post, hat mir geholfen, eigene Gefühle zur selben Thematik besser zur verstehen. Die Frage ist dann nur, was unsentimentales Kino ist? Den genauso unerträglich wie falsche Sentimentalität finde ich die emotionale Pseudo-Nüchternheit vieler deutscher Filme, die nach realistischen Emotionen suchen, und mich in ihrer Nüchternheit und Unspiriertheit deprimieren. Ich denke, wenn man sich auf die Suche nach dem "großen Kino-Gefühl" begibt, ist die Grenze zur Sentimentalität manchmal nicht weit. Am besten gefällt mir dein Satz "Ich glaube an ein Kino als poetisches Werkzeug, das unsere Vorstellung davon, was wirklich ist, präzisieren hilft." Denn dann heißt unsentimental nicht unpoetisch, denn die Poesie, oder vielleicht in anderen Worten die Illusion, wird immer die größte Stärke des Kinos bleiben!
Danke und Gruß, Simon
Deiner Definition nach braucht es für ein sentimentales Kino also zwei: Das Kino der gemachten Gefühle und das Publikum, das sich in seiner Rührung gefällt - find ich gut gesagt. Sowas kommt jedem Filmemacher spätestens dann in den Sinn, wenn er im Schnitt sitzt und sich weigert, irgendwo Musik drunterzulegen, weil er die Manipulation des Zuschauers verweigert, sondern hofft, durch Regie-Entscheidungen (Cadrage, was bleibt weg, was wird gezeigt) das gewünschte Gefühl/Gedanken hervorzurufen. Vielleicht könnte man den Unterschied noch ein wenig erweitern und sagen, dass der es-Ernst-meinende Filmemacher die Konklusion weglässt, und nur die hinführenden Aussagen zeigt, während der sentimentale Regiearbeiter auf diese Konklusion mit allen Mitteln hinarbeitet.
AntwortenLöschen@ Simon,
AntwortenLöschenich finde richtig, was du sagst. Auch die Nüchternheit kann berechnend sein, und falsch. Ich weiss nicht, ob ich einverstanden bin mit dem Begriff „Illusion”, auch wenn ich glaube zu verstehen, was du meinst.
@ Denis
ich glaube der springende Punkt ist die angestrebte Zuverlässigkeit einer emotionalen Reaktion. Das Erzählen ist eben keine zuverlässige Angelegenheit, und darf es nicht sein. Was die Manipulation betrifft: alles ist Manipulation im Film, und ich bin zum Beispiel ein großer Freund von Filmmusik. Die Frage ist doch, wie transparent die Mittel sind, wie genau der Einsatz. Wenn ich die Absicht einer Überwältigung erkenne, bin ich verstimmt.
Ich bin dankbar für die Kommentare --- es sind wirklich Definitionsversuche, nichts Endgültiges.
C
Danke für deinen Post, Christoph. Sehr stark! Dein Blog ist eine echte Bereicherung...
AntwortenLöschenMaxi
es tut mir leid, ich weiß ja um ihre feurigen bemühungen einem marginalisierten kino aufmerksamkeit zu verschaffen, aber die selbstgeißelungen ihrer wahrnehmungssinne sind mir einfach zu totalitär, ihre nach reinheit, wahrheit, klarheit gierenden einsprüche zu sehr ausdruck einer kino-"generation des unbedingten"
AntwortenLöschenJ.G.
Lieber J.G.,
AntwortenLöschender Selbstgeisselung will ich wirklich nicht das Wort reden - im Gegenteil geht es mir doch um eine neue Lebendigkeit, um eine neue Glaubwürdigkeit... Mehr dazu bei Gelegenheit.
Lieber Christoph Hochhäusler, für mich wäre eine Verlagerung der Antworten notwendig.
AntwortenLöschenWas ist sentimentales Kino?
Ein Kino, das sich mit der Schaffung möglichst offener und weiter Projektionsflächen begnügt. Im Dokumentarfilm braucht es die Degradierung der Protagonisten um das zu erreichen. Das sentimentale Kino ist das sich prostituierende Kino, das sich jeder Gefühlsdisposition anbieten möchte.
Was unterscheidet die gemachten Gefühle von den „wahren”?
Nichts. Gibt es denn falsche Gefühle? Und wenn ja, wer urteilt darüber? Zunächst sind alle Gefühle ganz einfach unsere eigenen. Sie beziehen ihre Energie und ihre Struktur aus unseren Erinnerungen und Erfahrungen. Auch wenn Millionen von Menschen weinen, wenn Leonardo im Meer versinkt, heißt das nicht, dass sie alle dasselbe fühlen. Eine Träne macht kein Gefühl, ein Mollakkord kein trauerndes Musikstück. Dies darf nicht darüber hinweg täuschen, dass es falsche Ansichten gibt und das Kino ein steter Quell neuer und Verstärker alter Ressentiments ist.
Typische Kennzeichen?
Im Dokumentarfilm: Tränen! Schreien! Blut! Hier werden die Projektionsflächen zu Wundflächen, die sich einerseits vom Publikum beliebig füllen lassen, die andererseits (in der Regel) auch die beteiligten Protagonisten verschwinden lassen. Und die Musik? Nein, die ist nicht das Problem, vielmehr verhält es sich mit dieser nicht anders als mit dem Film: Es muss zwischen sentimentaler und unsentimentaler Musik unterschieden werden, aber das wäre ein Fragebogen für sich.
Was ist daran schlecht?
Schlecht ist die Reduktion der Realität auf ein minimales Koordinatensystem in dem weder Gefühle noch Gedanken einen präzisen Ausdruck finden. Die Verkümmerung der Ausdrucksfähigkeit führt zu einer immer weiter fortschreitenden Isolation der Einzelnen. Das ist das Tragische: Die Verkennung der Andersartigkeit der Tränen des Nachbarn oder der Nachbarin angesichts des trivialen Films. Das schreckliche an der Masse (und der sie hervorbringenden Massenkultur) ist nicht, das alle gleich werden, sondern das Fehlen der Begriffe für die bestehende Vielfalt. Das moderne Babel muss man sich als einen Chatroom denken, in dem alle das gleiche in der gleichen Sprache sagen und keiner den anderen versteht.
Wo bleibt die „Verschärfung des Wirklichkeitsbegriffes”?
Wir schärfen unser Bild der Wirklichkeit ja nicht nur indem wir sie begreifen, sondern vor allem indem wir sie gestalten. Dies ist das wahre Verhältnis des Dokumentarfilms zur Wirklichkeit. Er zeichnet sie nicht auf. Er konstituiert sie, indem er uns mit womöglich unendlich vielen neuen Begriffen konfrontiert.
Warum sind so viele Filme sentimental?
Zum einen, weil es so viele sentimentale Filmschaffende gibt, die glauben, dass Filme mit dem Bauch und nicht denkend (egal ob mit Knie oder Kopf) gemacht werden. Zum anderen, weil sich nur mit sentimentalen Filmen Geld generieren lässt. Aus demselben Grund ist die vorherrschende, vielleicht einzige Eigenschaft von CocaCola, süß zu sein. Ein sentimentales Getränk, wenn man so will. Die Macht des Geldes zerstört die Substanz der Filme, ihren besonderen Geschmack, bis zuletzt nur noch Hüllen übrig bleiben. Ich glaube, dass sich das nur ändern wird, wenn sich die Verhältnisse ändern, in denen Filme gemacht werden.
Danke für die neuen Antworten --- interessant wäre ja, wie sich die Verhältnisse ändern müssten / könnten ... damit weniger Sirup im Kino landet (sage ich also Cola-Trinker).
AntwortenLöschenC
Danke sehr an den Autor.
AntwortenLöschenGruss Nadja
Sehr gute Sachen.
AntwortenLöschenDas ist wirklich mein Problem gelöst, danke!
AntwortenLöschenVielen Dank für diesen wunderbaren Beitrag. Bewundern Sie die Zeit und Mühe, die Sie in Ihrem Blog und detaillierte Informationen bieten.
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