20 Oktober, 2006

Körpergrenze

Die Gedanken sind frei, sehnen sich aber nach Konkretion: Das Mögliche will wirklich werden. Auch das Wirkliche will sich verwandeln, die Last des Körpers soll sich in der Fiktion lösen. Wir leben in einer Januswelt, in der sich, entlang der Körpergrenze, alles verflüssigt. Das Wirkliche wird zunehmend unwirklicher, das Unwirkliche zunehmend wirklicher. Immer vollkommeneren Simulationen stehen immer unglaubwürdigere Fassadenarchitekturen gegenüber. Im Filmpark von Babelsberg oder am Potsdamer Platz stapft man durch schlechte Kulissen, in denen man die hyperrealen Spektakel des Kinos nachspielen soll, während die Avatare in simulierten Welten in Richtung Fotorealismus steuern und online sogar virtuelle Immobilien gehandelt werden (zum Beispiel: www.secondlife.com). Der amerikanische Geheimdienst hat eine Strategie der Desinformation entwickelt, die jeder Operation eine oder mehrere „Wahrheits-Varianten” zuordnet, die wenn nötig in Konkurrenz zur Wirklichkeit treten - und natürlich ganz reale Folgen haben. Eames Demetrios, Filmemacher und Künstler, strickt mit Freunden an einem parallelen Universum, das er Kymaerica nennt (www.kymaerica.com) und das eine alternative Geschichte Amerikas erzählt. In Kunstaktionen werden Artefakte ins wirkliche Amerika gepflanzt, die die Kymaerica-Version „beweisen” sollen. Dazu passt die heutige Meldung der Nachrichtenagentur AP, wonach es zum ersten Mal gelungen sei, ein reales Objekt „augenscheinlich” zum Verschwinden zu bringen. Mit technischen Mitteln hat man an der Duke University eine Fata Morgana nachgebaut, also jenes Hitzephänomen, das die Lichtbrechung so verändert, dass der Blick in die Irre geht. Die postindustrielle Gesellschaft produziert Auflösung.

Das Kino hat seinen Teil zur Entkörperlichung beigetragen, und doch kann es nicht ohne Körper sein. Das Filmbild braucht den Körper als Gegenüber - egal wie fantastisch die Handlung, das Wissen, dass jedes Bild eines Körpers aus einem wirklichen Körper hervorgegangen ist, bestimmt ganz wesentlich sein Gewicht. Ohne reales Pendant ist das Bild nicht mehr Stellvertreter, sondern nur noch Zeichen. Vielleicht ist das der Grund, warum ich computeranimierte Bilder im Kino immer als „Fremdkörper” empfinde. Eine computeranimierte Figur oder Landschaft ist nichts weiter als ein Phantom, während der Avatar im Computerspiel zum Beispiel eindeutig ein Geist ist, abhängig von seinem Meister. Keine Frage, die Beziehung ist nicht so symmetrisch, aber ähnlich wie der Schauspieler, der zu seinem Abbild im Film ein Spiegelverhältnis hat, über die Körpergrenze hinweg, ist auch der Avatar nichts ohne seine bessere Hälfte - und darin liegt seine Kraft.

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