06 Januar, 2025

(Wieder-) Gesehen [24]


THE PIRATE (Vincente Minnelli, USA 1948)

Er (Gene Kelly als „Serafin”) ist Schauspieler und kann alles sein, was sein Publikum begehrt. Solange er die Traumbilder identifizieren kann, ist er unwiderstehlich, glaubt er. Sie (Judy Garland als „Manuela”) träumt vom legendären Piraten Macoco und verrät Serafin davon unter Hypnose – gerade, als sie im Begriff ist, einen Langweiler zu heiraten. Doch dieser Langweiler, (Walter Slezak als „Don Vargas”), ist niemand anderes als der berühmte Pirat, inzwischen alt und „respektabel” geworden. In einer Reihe von Verhandlungen treten in dem Film Fantasie und Wirklichkeit in Konkurrenz. Minnelli, könnte man sagen, sieht beide Kräfte ebenbürtig, verurteilt aber die Politisierung der Sehnsucht. Zwar ist der wahre Pirat, der sich als Besitzbürger tarnt, ganz klar die erbärmlichere Figur als der Schauspieler, der den Piraten gibt, um dessen Verlobte zu erobern. Aber als Korrektur der romantischen Vorstellung eines Piraten ist er andererseits unverzichtbar. Ein dialektisches Musical, das auch über die Bedingungen der Publikumsgunst reflektiert – und übrigens ein großer Misserfolg war. Zu Unrecht!



WESTWARD THE WOMEN (William Wellman, USA 1951)

Ein großer, figurenreicher Western, der die Strapaze, die es bedeutet, einen Planwagen über unwegsames Gelände zu bringen, zu einem (immer auch dokumentarischen) Spektakel macht, in dem sich die Charaktere zeigen. Und weil es sich mehrheitlich um Frauen handelt, die hier ihre Rollenbilder sprengen müssen, wenn sie überleben wollen (vielleicht, weil sie einen Mann zum Lehrmeister und Regisseur haben), ist es auch ein Film über die Frage, was eine Frau eigentlich ausmacht. Dass Wellman die Antwort weitgehend offen hält, macht den Film so wirksam – und so vergnüglich. Große Empfehlung!



LISSY (Konrad Wolf, DDR 1957)

Sich Illusionen leisten zu können: das ist der Komfort des Bürgertums. Lissy (Sonja Sutter) ist eine weitgehend passive Figur in dem Film, man könnte vielleicht sagen: wenn sie für etwas kämpft, dann dafür, passiv bleiben zu können. Doch der Preis dafür ist hoch. Erst gegen Ende des Films – die Nazis sind längst an der Macht, der Bruder ist tot – begreift sie ihre falschen Prioritäten. Trotz der in einem DEFA-Film erwartbaren Parteinahme für die Kommunisten (deren Anteil am Ende der Weimarer Republik unterschlagen wird) macht der Film den Erfolg der Nazis aus einer kleinbürgerlichen Perspektive plausibel.



AMERICA, AMERICA (Elia Kazan, USA 1963)

Extrem ambivalente, so episch wie langatmige Geschichte einer Obsession mit „America“. Anhand der Emigrationsgeschichte seines Onkels versucht sich Kazan, so habe ich es verstanden, an der Diagnose einer charakterlichen „Familienkrankheit“ zwischen Fügsamkeit und Verschlagenheit – und grundiert von einer tiefen Scham. Dass Kazan dabei mitunter problematisch stereotypisiert – vor allem das antitürkische Zerrbild eines Diebes ist schwer erträgliche Propaganda – passt ins Bild. Auch habe ich selten eine so unangenehme, weil mit sich im Unreinen befindliche Hauptfigur erlebt. Wenn Stavros (Stathis Giallelis), ein griechischstämmiger, schweigsamer junger Mann aus Anatolien, seiner Verlobten (deren bzw. ihrer Eltern Gunst er sich erschlichen hat) einschärft, sie dürfe ihm niemals vertrauen, scheint der Regisseur von sich selbst zu sprechen. Diese Erzählhaltung nötigt mir, bei allem Unbehagen, Respekt ab; der „amerikanische Traum” ist hier zuallererst ein Traum gegen die Wirklichkeit, eine Verkehrung alter Werte. Stavros, angewidert von der übergroßen Nachgiebigkeit seines Vaters, leidet in der Türkei unter der Verleugnung seiner (griechischen) Identität. Und doch ist er auf dem Weg ins gelobte Land und später in New York zu einer viel radikaleren Verleugnung bereit. Von einer Maske der Unterwerfung – in der, so rechtfertigt es der Vater einmal, die Würde im Innern (womöglich) unangetastet bleibt – gelangt er zu einer Maske, hinter der sich nichts mehr verbirgt, grenzenlos opportunistisch.



DIE ERMITTLUNG (Lothar Bellag, Konrad Wolf u.a., DDR 1965/66)

Am 19.10.1965 wurde Peter Weiss' „Die Ermittlung” in einer Art Ring-Premiere an fünfzehn west- und ostdeutschen Theatern (sowie an der Royal Shakespeare Company in London) gleichzeitig uraufgeführt, darunter auch in der DDR-Volkskammer, auf einer improvisierten Bühne, wo im Stile des Live-TV mitgeschnitten wurde. Ganz verschiedene Sprecher und Sprechweisen, die verschiedensten Lebenswege repräsentierend, wirken mit an der Aufführung des schwer erträglichen Stücks (das Protokolle des Frankfurter Auschwitz-Prozesses verdichtet), es lesen Schriftsteller, Bildhauer, Schauspieler, alt und jung. Von einem „Film” im engeren Sinne muss man nicht sprechen, aber es ist ein ergreifendes Dokument, auch weil die Auseinandersetzung mit der Katastrophe unserer Geschichte hier wirklich ein gesamtgesellschaftliches Anliegen zu sein scheint.  


BARIERA (Jerzy Skolomowski, Polen 1966)

Ein entgrenztes Spiel mit Bildern, die zunächst nichts zu bedeuten scheinen, aber dieses „Nichts“ ist wie oft bei Skolomowski ein vertrackter, kippeliger Zustand. Gewalt, Wettbewerb und Umkehrung sind die größten Konstanten, werden wieder und wieder dekliniert. Beinahe alle Sprechakte bleiben hypothetisch, tendieren in die Abstraktion, oft kontrapunktisch zum Bild. Der Film, immer Ernst und Spaß zugleich, weigert sich, zu erzählen und erzählt gegen diese Weigerung an, ruft Symbole auf und widerruft sie. Wohl auch, weil die unsichtbare Barriere, der Säbel über dem Film, die Zensur war. Aber ist nicht gerade die Aufhebung aller Festlegungen „blasphemisch”?



VAN GOGH (Maurice Pialat, F 1991)

Realismus als ein Auf-nichts-Hinauswollen: gerade weil der Film die letzten Tage erzählt, durchkreuzt er alle Fluchtlinien. Über 2 1/2 Stunden sehen wir keine dramatischen Ereignisse, keine entscheidenden Augenblicke, nichts läuft auf den bekannten Suizid zu, stattdessen sehen wir Szenen aus einem Leben, das erschöpft scheint. Dutronc spielt den berühmten Maler als defizitäre Figur, als hätte er keine Kraft und keinen Ehrgeiz, überzeugen zu wollen; oft im Bild, aber die Erwartungen, auch unsere, verneinend. Und Pialat betont diese Reserve, indem er sie scheinbar mit einem Schulterzucken hinnimmt. Andere Figuren gewinnen mehr Präsenz im Vergleich – eine Offenbarung war für mich „Jo” (Corinne Bourdon), van Goghs Schwägerin – so dass Van Gogh selbst eher als Schatten oder in der Ausweichbewegung kenntlich wird denn mit eigenen Zielen oder Handlungen. In der Summe entsteht ein „lebensechtes” Porträt, skizzenhaft, andeutungsweise, widersprüchlich. Ob er „wirklich” so war ist nicht entscheidend, aber ja, so könnte er gelebt haben.


THE EXPLANATION FOR EVERYTHING (Gábor Reisz, Ungarn 2023)

Ich habe diese im Detail schön erzählte und gut besetzte, multiperspektivische Schilderung eines kleinen Schulskandals als politischen Relativismus empfunden. Als wäre Orbans Ungarn mit der Erkenntnis zu helfen, dass auch der politische Gegner menschlich und mitunter allzu menschlich ist. In diesem Vorschlag zur Güte – Überraschung: jeder hat seine Gründe – verbirgt sich ein falscher Kompromiss. Denn warum von dieser Petitesse erzählen, wenn „im Zimmer nebenan”, im Off des Films, wesentliche demokratische Errungenschaften gezielt zersetzt werden?

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