28 Januar, 2021

(Wieder-) Gesehen [14]

71 FRAGMENTE EINER CHRONOLOGIE DES ZUFALLS (Michael Haneke, Österreich 1994)

Die „unerklärliche” Tat als Prisma oder Vorwand für ein Mosaik der Gewaltverhältnisse, die wir gewohnheitsmäßig als „Normalität” bezeichnen. Aber „Normalität” und „Gewohnheit” sind natürlich genau die Konzepte von Wirklichkeit, gegen die uns Haneke aufstacheln will. Auch deshalb forciert er die scharfen Abrisskanten, die „harten” Schnitte, was so eine Art „Skispringer-Effekt” auf mich hat: ich warte auf die Landung, und weil sie nicht kommt, bleibe ich irritiert aufmerksam. Inmitten der vom Narrativ-Nützlichen weitgehend befreiten Szenen sind Schönheit und Grausamkeit Nachbarn, etwa wenn die Bankangestellte in der Filiale den eigenen Vater bedient, fragt, wie es geht, aber die Antwort überhört, vielleicht weil sich im Hintergrund ein Sicherheitsmann bekreuzigt. Oder in der legendären Szene am Küchentisch, in der sich ein genuscheltes „Ich liebe dich” zu einem brutalen Hin und Her des Missverstehens hochschaukelt. Oder im Tischtennistraining des Sportstudenten Max (Lukas Miko, siehe Bild), der „am Ball” bleiben soll, aber von der Maschine (und ihrem Zeitmaß) beschämt wird. Großartig.



NIAGARA (Henry Hathaway, USA 1953)

Die Liebes- und Mordgeschichte wirkt seltsam unfertig: Joseph Cotten und Marylin Monroe als Paar, wirklich? Nein, sie hat einen Anderen. Mord ist ihre Exitstrategie. Aber warum geht sie nicht einfach? Das erfahren wir nicht, und statt dem Postboten klingelt ein Turm zweimal, verkehrt. Das alles, das Gemachte der Handlung, der Lippenstift unter der Dusche, das grelle Kleid, schmälert den Film nicht, im Gegenteil: Es verschärft seine Abstraktion. Es gibt nur wenige amerikanische Filme von solcher Schönheit. 


DAS BOOT (Wolfgang Petersen, D 1981)

Es gibt keine schlechten Menschen in dem Film, oder wenn, dann eventuell im Marineministerium, müsste man mal recherchieren. Klar, der Offizier aus besserem Hause ist bekennender Nazi, aber sein eigentlicher Fehler ist, dass er allzu ordentlich mit Messer und Gabel isst. Und die anderen, der Alte (Jürgen Prochnow) und seine Getreuen, sind irgendwie im Untergrund, aka U-Boot, hören lieber Musik als Hitler, bedauern die Toten (böse Torpedos!), braucht es noch mehr Beweise? Da fällt mir Kohls Gedenkphrase ein, nachzulesen in Schinkels Neuer Wache: „Den Opfern von Krieg und Gewaltherrschaft”, in dieser Reihenfolge. Den Opfern und ein bisschen auch den Opfern der Opfer. Politisch ist das sehr bescheiden (um nicht zu sagen: 08/15), aber auch die Unterhaltung leidet unter der Unschuldsthese. Ja, das U-Bootleben wirkt ungemein echt, die Strapazen nehmen uns mit, der Wettlauf mit der Zeit ist spannend. Aber die Charaktere zeigen nicht, aus welchem Holz sie geschnitzt oder wo sie noch Menschen sind, welche Gedanken und Gefühle sie haben, sie interagieren nicht jenseits der Befehle oder Notlagen. Lieber verschmelzen sie mit der Maschine, der deutsche Traum seit je. Warum fällt es dem Film so verdammt schwer, eine Haltung einzunehmen (es sei denn vor höheren Dienstgraden)? Was ich nicht meine: sich auf die richtige Seite stellen. Gerade in der Identifikation mit der Täterperspektive hätte man zu schmerzhaften Ambivalenzen kommen können, ja müssen. Stattdessen nur ein bisschen Zynismus zum Abschied. Schade.


DER VERZAUBERTE TAG (Peter Pewas, D 1944)

Pewas Debütfilm lag zur Entstehungszeit quer zu den Erwartungen; der Ufa-Wal hat ihn erst nach dem Krieg ausgespuckt, aber im Grunde hat er bis heute keinen richtigen Platz gefunden. Warum? Weil er verzaubert ist. Zauberhaft ist, einerseits, wie Pewas hier dem Gefühl Raum gibt, den Tagträumen seiner Heldinnen keinen „ernsthaften” Widerstand entgegensetzt. Aber der Film ist auch verwunschen, denn den Anleihen am „poetischen Realismus” zum Trotz bleibt er unwirklich, ja sehnsüchtig nach Unwirklichkeit. Und anders als im deutschen Film üblich will auch niemand erwachen, wir Zuschauer schon gar nicht. Das muss bestraft werden.


THE DEADLY AFFAIR (Sidney Lumet, GB 1967)

Noch ein toller Lumet, eine zu Unrecht vergessene le Carré Verfilmung. James Mason spielt George Smiley (der hier aus Rechtegründen Charles Dobbs heißt), angreifbar, aufgekratzt, verletzlich. Und natürlich sind es die Menschen, die ihm nahestehen, die out of focus sind zunächst, und das rächt sich. Simone Signoret ist stark als eine Frau mit Geheimnissen, Maximilian Schell habe ich noch nie so lebendig gesehen, Mason ist wie immer ein Tänzer auf dem Seil, aufregend.



LA BONNE ANNÉE (Claude Lelouch, Frankreich 1973)

Ein Film, der angenehm leicht von Liebe und Verbrechen erzählt. Einen Großteil der Erzählzeit verwendet Lelouch auf ein heist movie, Ventura und Co entwickeln einen raffinierten Plan, um ein Juweliergeschäft in Cannes auszunehmen, mit aufwändiger Maskierung, Motorboot und Schikanen, aber als dann eine Liebesgeschichte den Film kreuzt, übernimmt sie die Hauptrolle, mit überraschenden Nuancen. In einer schönen Szene steht die intellektuelle Bohème (die Welt der Frau, gespielt von Françoise Fabian) den proletarischen Dieben (Lino Ventura und Charles Gérard) gegenüber, und Film und Frau ergreifen Partei für das „ehrlichere” Handwerk, versteht sich. Schöner Pop.



WHIRLPOOL (Otto Preminger, USA 1950)

Ein Film, der das Risiko eingeht, Suggestion nicht nur zu behaupten, sondern den Zuschauer derselben Manipulation auszusetzen wie „Ann Sutton” (Gene Tierney), der kleptomanen und vernachlässigten Frau eines Staranalytikers und Heldin des Films. Der Betrüger „David Korvo” (José Ferrer) ging mir mit seiner weichen, selbstverliebten Stimme sofort unter die Haut, ich habe keinen Moment am Erfolg seiner Eroberung / Unterwerfung gezweifelt. In einer großartigen Szene unterläuft er sein perfektes Alibi – er hat einen medizinischen Notfall – indem er mit Hilfe eines Spiegels die OP-Schmerzen selbsthypnotisch in Schach hält. In diesem komprimierten Bild, in dem die Selbsttäuschung zur Waffe der Verletzten wird, spiegelt sich das Genre selbst. 

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