ÜBER HANS HILLMANNS 'FLIEGENPAPIER'
Man
könnte sagen: alle Probleme der
Kunst sind Probleme des Übergangs. Von einem Zustand in den
Anderen. Die Frage ist zum Beispiel, wie eine Erfahrung Text (oder Bild) werden
kann. Wie aus Text Bild (oder aus Bild Text) werden soll. Mit Verlust ist zu
rechnen. Die Kunst realisiert sich in der Lücke.
Hans
Hillmann ist ein Meister der Filmgrafik. Seine Plakate sind nicht illustrativ,
sie übersetzen. Ihnen voraus geht die
Auseinandersetzung mit dem Film. Eine Kino-Sichtung war obligatorisch. Viele
seiner Interpretationen sind zeichnerisch, d.h. die Lücke
zwischen Film und seiner Beschreibung ist erheblich. Das ist ihr Witz. Das
Plakat ist wie der Film eine Ergänzungskunst.
Im Auge des Betrachters entsteht ein lebendiger Zusammenhang, der sich mit
Kenntnis des Filmes weiter intensiviert.
Nach
über 120 Plakaten, darunter für
Filme von Buñuel, Kurosawa, Hawks, Welles,
Lubitsch, Godard – entstand der Wunsch, einen
Film auf Papier* zu machen. Eine Vorlage war bald
gefunden: „Flypaper”
von Dashiell Hammett, eine Kurzgeschichte, hard boiled. Erklärtes
Ziel war es, den Text zu verzehren,
bis auf einige Dialoge sollte alles Zeichnung werden. Hammett deshalb, weil er,
mit seinem realen detektivischen Hintergrund, von
der Beobachtung her kommt. Zwei Reisen in die USA,
eine während eines dafür
genommenen Forschungssemesters 1976, nutzt Hillmann zur Recherche; mit
Bleistift und Kamera notiert er visuelle Details in New York und vor allem San
Francisco; Feuertreppen, Hotelfensterblicke, Straßenecken,
Möbel, Treppenhäuser.
In Hillmanns Frankfurter Atelier steht ein Schrank mit zahllosen Schubladen, wo
die gezeichneten Notizen für das Projekt bis heute verwahrt
werden. Die Arbeit an dem Buch zieht sich über
sieben Jahre hin. 1975 begonnen (mit
der schwersten Episode, einer langen Dialogszene aus der Mitte des Buches, ein
Test), 1982 veröffentlicht
bei Zweitausendeins, dank Franz Greno. 264 Seiten in (bräunlichem)
schwarz-weiß, nach einer Bleistiftvorzeichnung
mit Aquarell gemalt, schwarz mit beigemischtem rot.
Trotz
realistischer Details ist das Buch geprägt
von einem Hang zum Fantastischen; verblüffende
Perspektiven und eine geniale Regie des Schattens folgen der Logik des Traumes.
„Fliegenpapier”
würde man heute eine Graphic Novel nennen. Damals war das Buch ein
Kuriosum. Keine Illustration, kein Comic. Nach einer Neuauflage bei dtv 2005
ist Fliegenpapier zur Zeit leider wieder vergriffen. Ein Skandal! [Update: Inzwischen ist das Buch neu im Avant Verlag erschienen]
Über meinem Schreibtisch hängen
Kopien aus dem Buch. Für UNTER DIR DIE STADT waren die
Zeichnungen eine wichtige Referenz. Aber davon abgesehen, dass mich das Buch
begeistert, interessiert mich daran noch ein anderer Aspekt: Das Verhältnis
zum Text.
Wer
heute einen Film machen möchte, braucht in aller Regel ein
Drehbuch. Dort steht dann zum Beispiel, fast wie bei Hammett: „Ich
tat, als wäre ich seiner Meinung, ging zur
Bank, tauschte den Scheck gegen ein Bündel
verschieden großer Geldscheine ein und fuhr mit
der Elektrischen bis 601 Eddis Street, einem großen
Wohnhaus an der Ecke Larkin.”
Hillmann
erhält diesen Satz, aber die
Doppelseite, die den Weg des Detektivs zeigt (S. 52/53, Abb. 1), konkurriert nicht mit
der Beschreibung. Es sind atmosphärische
Straßenbilder, die sich von links nach
rechts ergänzen. Mit „filmischen”
Anschnitten, aber einem malerischen Sinn. Schatten verfließen
mit Gegenständen, räumliche
Tiefe kommt und geht je nach Nähe zum Blatt. Die Seite hat einen
berauschenden, vertikalen Rhythmus. Die Lücke
zwischen den Seiten, das weiße Nichts, spielt in diesem
Rhythmus mit. „Erzählt”
wird nichts, was der Text nicht schon enthielte. Aber redundant ist das Bild
auch nicht. Es steht für sich, neben oder eben über dem Text.
Abb. 1
Am
besten ist Hillmanns Buch immer dann, wenn das, was erzählt
werden soll, eigentlich nicht der Rede wert ist. Oder wenn der Text zu abstrakt
ist, um ein einigermaßen konkretes Verhältnis
mit dem Bild einzugehen. Oder wenn das Bild die Konkretion verweigert. Nur
gelegentlich treffen sich Bild und Text, um sich die Hand zu geben.
Einmal
liest man: „Babe und Sue gingen gemeinsam
davon.” Wir sehen ein leeres Zimmer. Ist
das der letzte Blick zurück? Die offene Tür
jedenfalls teilt als Lichteffekt den Raum. Sein Schatten muss es sein, der da
aufs Bett fällt. Man ahnt einen Koffer. Das
Bild ist von Hopperscher Einsamkeit, die Steigerung davon: Ein Schatten verlässt
den Raum.
Wenn
es bei Hammett (und Hillmann) heißt:
„Von den Photos hatten wir
reichlich Abzüge, so daß
sich jeder, der gerade unterbeschäftigt
war, in San Francisco und Oakland auf die Suche nach dem verschwundenen Pärchen
machen konnte. Sie blieben unauffindbar. In anderen Städten
waren unsere Kollegen ebenso erfolglos.”
– zeigt uns Hillmann keine Fotos
(S. 48/49, Abb. 2), keine Aktivität der Detektive, auch vom
verschwundenen Pärchen sehen wir nichts.
Stattdessen links eine Landschaft am Meer, vage erkennen wir die Brandung, eine
Palme, die Dämmerung verschlingt die Zeichnung
mit ihrem Grau, der Schattenriss eines Autos, überwucherte
Dünen vielleicht, das Weiß
einer schmalen Küstenstraße.
Auf der rechten Seite eine Jalousie, bildfüllend,
hart an der Grenze zur Abstraktion. Zwischen den Streifen aber blitzt eine Straße.
Eine Stadt, irgendwo. Landschaft, die den Text auflädt
und in Frage stellt.
Abb. 2
Die
vielleicht verblüffenste Strecke befindet sich in
der Mitte des Buches (S. 148-169): ganz ohne Text, ja ohne echte Entsprechung
bei Hammett, eine Folge von Straßenansichten,
eine Verfolgung, schwarzer Anzug, weißer
Anzug. Am Ende steht das Verschwinden des (weiß
gekleideten) Detektivs im Nebel, oder besser: im Blatt. Eine Doppelseite aus
dieser „stummen”
Strecke möchte ich hervorheben (S.164/165, Abb. 3),
nicht nur, weil es die erwähnte Zeichnung über
meinem Schreibtisch ist, sondern weil sie beispielhaft ist für
das, was ich oben „Hang zum Fantastischen”
genannt habe. Es ist nämlich keineswegs so, dass wir „Übersinnliches”
zu sehen bekommen. Eher sehen wir ein ununterscheidbares Ineinander von „Realität” und Bild im Bild, von abstrakter
Fläche und konkretem Detail. Ein
Verkehr der Wirklichkeiten. Vexierbilder. Links ein Mann halb verborgen hinter
hölzernen Telefonmasten, eine städtische
Straße, Taxi im Anschnitt, ein Plakat für
einen Zirkus. Der Mann, verschmolzen mit dem schmutzigen Schwarz der Masten,
sieht zur Seite, zeigt sein behütetes Profil. Er sieht nicht „wirklicher”
aus als die Affen auf dem Zirkusplakat, die ihn zu beobachten scheinen. Am
rechten Rand – er ist so verschattet, dass wir
nicht sicher sein können, was wir sehen –
lauert Gefahr. Kauert da ein Mann auf der Treppe? Wir können
den Verfolger nicht ausmachen, bis wir „plötzlich”,
hinter einem Schaufenster, versteckt im Vorhang, eine Pistole in der Hand eines
Mannes in Nadelstreifen entdecken. Der Laden, das beweist der Blick weiter nach
rechts, bietet allerlei Mysteriöses feil, Raritäten,
ein ausgestopftes Baby-Nashorn, lodernde Bilder, Schuhe, die in Krokodilmäulern
münden. Vielleicht ist die Pistole
nur eine weitere Kuriosität. Die nächste
Seite dann (S. 166) zeigt den Detektiv in der Spiegelung vor dem Laden: er
sieht nur sich. Er geht weiter, wir sehen ihn von hinten, er hat sich abschütteln
lassen...
Abb. 3
Abb. 3
Entscheidend
an dem Buch, als einer Sphäre der Wahrnehmung, sind Überdehnungen
und Verdichtungen. Mal entspringt einem Halbsatz bei Hammett eine seitenlange
Raummeditation, mal brennt Hillmann eine halbe Seite Story in ein Bild. Das
gilt auch für die Raumdimensionen, die im Verhältnis
zu den Figuren stets im Wandel sind. Und die extremen Perspektiven jenseits von
Schuss und Gegenschuss ergänzen dieses Programm. Diese ganz
subjektive, traumlogische Rhythmisierung der Geschichte und das oft
kontrapunktische Verhältnis zum Text macht diesen „Film
auf Papier” so ... –
„filmisch”.
„Filmisch”
als eine Kategorie des visuellen Eigensinns, der sich nicht gemein macht mit
jenem journalistischen (Überwachungs-) Realismus, wie er
Film (und Comic) allzu oft bestimmt.
Wer
heute einen Film machen möchte, braucht in aller Regel ein
Drehbuch. Aber nur wenn die visuelle Erzählung
statt sich aufs Echo festzulegen in Dialog mit dem Text tritt, den Text
angreift und – gelegentlich –
„verzehrt”,
kann ein Film entstehen, der nichts anderes ist –
als Film. Das ist die überraschende Lektion von Hillmanns
Buch.
Christoph
Hochhäusler
*)
Kursiv gesetzte Zitate stammen aus Gesprächen mit dem Künstler.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen