04 April, 2012

Typisch?

Auch wenn wir alle eine Vorstellung davon haben, was „typisch deutsch” ist - oder typisch für einen deutschen Film -, bleibt es heikel, diesen so genannten „Volkscharakter” zu buchstabieren oder konkret zu benennen, wie er sich kreativ ausprägt. Mir liegt nichts daran, Licht in dieses Dunkel zu bringen. Trotzdem möchte ich hier eine Beobachtung teilen, die ähnlich summarisch vom deutschen Film, vom deutschen Erzählen überhaupt spricht. Mir scheint, es hat in der überraschend vielseitigen, aber auch bruch- und narbenreichen deutschen Filmgeschichte Erfindungen in beinahe jedem Aspekt des Mediums gegeben, die auf die eine oder andere Art Einfluss auf das Weltkino hatten.

Ein paar Schlaglichter: Fritz Lang als der vielleicht wichtigste Innovator des Genrekinos, der (Film-) Expressionismus als Vorbild der Raum- und Weltsicht des Film Noir, der Einfluss Lotte Reinigers auf Disney, Richard Oswalds ANDERS ALS DIE ANDEREN als Vorreiter in der Darstellung von Homosexualität, G.W. Pabsts DIE BÜCHSE DER PANDORA als Starmaker – und „erster Film, der eine lesbische Frau zeigte”, die „Entfesselung“ der Kamera in DER LETZTE MANN bei Murnau und die Folgen, Schüfftans Kameratricks und Erich Kettelhuts Bauten in METROPOLIS und ihr Echo auf zahllose Science-Fiction-Filme, die DREI VON DER TANKSTELLE und sein Einfluss auf das Filmmusical, die „symphonische Montage” bei Ruttmann und seine Nachahmer, MENSCHEN AM SONNTAG als Geburtshelfer des Neorealismus, Riefenstahls Ästhetik der Überwältigung als Grundlage der Werbeästhetik, Fassbinders IN EINEM JAHR MIT 13 MONDEN als Pate Almodóvars und des queeren Kinos, RWFs BERLIN, ALEXANDERPLATZ und Reitz' HEIMAT als Vorboten komplexen epischen Fernsehens, Syberbergs HITLER und sein Einfluss auf Francis Coppola, Cindy Sherman und Lars von Trier, LOLA RENNT als Pionier des Schicksalsvariantenfilms usw. usw.

Auffällig wenige Beispiele fallen mir hingegen ein, wenn es um das Erzählen von glaubwürdigen Charakteren geht. Das fängt schon damit an, dass ich nur wenige Figuren des deutschen Kinos beim Vornamen kenne, es sei denn, der Titel verrät sie. Kaum einer der wichtigen deutschen Filme lässt sich als Portrait verstehen. Die meisten haben Ideen oder Themen, oft sind es formale Neuerungen, die die Filme aus der Masse heben. Ich meine – aber ich kann mich täuschen – dass das auch für die Literatur zutrifft. Die besten Romane (von, sagen wir, Goethe bis Kafka, von Mann bis Brinkmann) beschreiben eher Systeme oder Zustände, das Personal ist eher Symptom als dass es Ursprung der Geschichten wäre. Das soll nicht heissen, dass es an einprägsamen, großen Figuren fehlte. Aber gerade die unvergesslichen Figuren sind oft genug nicht aus der Beobachtung gewonnen, sondern sind Allegorien, Funktionäre einer Absicht, Fantasie-Wesen.

Ich weiss, der erste Oscar überhaupt ging an einen deutschen Schauspieler, Emil Jannings, aber Jannings ist das beste Beispiel für das, was ich meine. Ohne Frage hat er als „letzter Mann” (bei Murnau) beeindruckt, aber eben nicht als glaubwürdiger Charakter, sondern als Idee. Sein exaltiertes Spiel ist unbedingt unterhaltsam, aber gewissermassen unbescheiden gegenüber der Wirklichkeit. Diesen Mann kann es so nie gegeben haben, er verkörpert keine soziale Wirklichkeit. Dagegen ist durchaus nichts zu sagen, ich frage mich nur, was dieses Absehen von Erfahrung, die Aversion gegen Recherche und Psychologie bedeutet. Ich schreibe das als jemand, der sich immer wieder gegen die Psycho-Logik im Film geäussert hat.

Ich habe gerade – mit dem größten Vergnügen – die beiden BBC-Mehrteiler von Le Carrés Smiley-Romanen gesehen. TINKER, TAILOR, SOLDIER, SPY und SMILEYS PEOPLE. Film als Portraitkunst: Es geht für Drehbuch, Regie und Schauspiel wirklich nur darum, Menschen in den kleinsten sprachlichen und gestischen Nuancen zu „verwirklichen”. Handlung heißt hier eine Begegnung nach der anderen zu organisieren, in der sich die Figuren „verraten”. Die filmische Gestaltung tritt auf angenehme Weise in den Hintergrund, bleibt noch in den größten Ausnahmesituationen konventionell. Die Schauspieler aber sind glaubwürdig, schlüssig, ganz im Dienst ihrer Charaktere (was man im Falle der mittelmässigen Neuverfilmung leider nicht behaupten kann), machen die Figuren und ihre Widersprüche so lebendig wie ich es selten überzeugender gesehen habe. Vielleicht ist das ja ein englisches Talent - von den Figuren auszugehen. Ich würde mir jedenfalls wünschen, auch für mein Kino übrigens, dass die Figuren im deutschen Film wichtiger werden, reifer, komplexer, eigendynamischer, und den einen oder anderen Film davontragen, den Themen oder ästhetischen Konzepten wegstehlen sozusagen. Was kann es aufregenderes geben als zu verstehen, wie ein anderer tickt, was ihn antreibt, wie er „ist”?

(Kommentare sind wie immer willkommen.)

5 Kommentare:

  1. "Typisch deutsch"? Du traust Dich was. Das läuft doch auf das schon 100mal gehörte Lamento hinaus: wieso können "die Deutschen" zwar gute Autos bauen, aber keine guten Filme machen. Denn darum geht es ja wohl: wenn die Schauspieler es schaffen ihre Figuren mit Leben zu erfüllen, dann werden es vitale Charaktere und mit diesen eben gute Filme. Vielleicht gibt es zu wenige Regisseure, die das auch verlangen und zu oft haben diese tatsächlich vorallem eine Idee von einer Figur. Es gab und gibt das aber auch in Deutschland: Filmfiguren, die einem nahegehen wie echte Menschen. Aus der Vergangenheit fielen mir spontan Filme von Percy Adlon und Peter F. Bringmann ein; Wolfgang Peters konnte es auch oft. Oder Wolfgang Murnberger und andere... Österreicher (aha!). Da hilft natürlich auch ein bisschen das Fremde und vielleicht liegt ein Teil des Effekts auch darin begründet, dass wir bei fremd(sprachig)en Charakteren ein weniger geschultes Sensorium für "Authentizität" besitzen. Englischsprachige Popsongs klingen ja auch immer irgendwie besser als deutsche.
    Achja: Helmut Dietl konnte es auch mal. Als er noch fürs Fernsehen gearbeitet hat. Dass ausgerechnet bei ihm nur noch Ideen von Figuren herumhampeln, seit er fürs Kino arbeitet ist z.B. ein tragisches Unglück für den deutschen Film.

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  2. Kopiert aus der Revolver-Facebookseite:

    ...nicht zu verstehen, wie jemand tickt, warum er etwas macht, ist für mich im film spannender. gerade das schlüssige regt mich auf bei einem filmcharakter. was ist schon glaubwürdig? weil es einfacher ist, es zu verstehen? weil es gewohnt ist? jede figur, sei sie noch so vollendet, kratzt nur sehr gering an einer art wirklichkeit. portrait ähnliche dokumentationen können auch nur das oberflächliche zeigen. wenn sie gut sind, geben sie uns das gefühl, unter die oberfläche schauen zu können. leider ein sehr großes thema für einen facebook kommentar ;). " Das fängt schon damit an, dass ich nur wenige Figuren des deutschen Kinos beim Vornamen kenne, es sei denn, der Titel verrät sie " als ich das gelesen habe, musste ich an die wände im kölner cinedom denken, auf denen recht simpel die großen filmfiguren malerisch widergegeben und sofort erkannt werden konnten ( eigentlich nur ausländische ). ich denke jedoch, dass eine gut inszenierte handlung eher der wirklichkeit entsprechen kann, als es die beste filmfigur je tun kann. deutsche figuren im film können jedoch gerne wichtiger werden. manche auch bitte wieder unwichtiger ;)

    Alec Müll

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  3. @ Alec

    Es geht mir nicht darum, Figuren geheimnislos auszuerklären, im Gegenteil wünsche ich mir ja Genauigkeit - eine Genauigkeit gegenüber dem Geheimnis, wenn man so will. Was mich stört ist das allzu funktionale Personal, ohne Würde, ohne Freiheit, begrenzt von Ideen, Plot und Thesen. Insofern ist das 'Verstehen' einer Figur, das ich meine, relativ zu sehen. Auf die Dauer kann es aber nicht genügen, sich auf die Position zurückzuziehen, dass man (auch wenn das absolut gesehen richtig ist) den Menschen, ja auch sich selbst, nicht verstehen kann.

    @Grisi

    Damit wir uns nicht missverstehen: ich empfinde unsere Filmgeschichte als reich. Aber es gibt eben Dinge, die „wir” besser können als andere. Und das, was ich oben „Portrait” nenne, gehört vielleicht eher nicht dazu. Aber mir ist natürlich klar, dass das eine sehr pauschale These ist. Mit dem Auto-Lemento habe ich nichts am Hut...

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  4. Das englische "Talent" (es träfe auch auf das französische zu), ist sicher nicht zuletzt geschichtlich bedingt. Während sich das Deutschland der Goethezeit noch aus unabhängigen Fürstentümern zusammensetzte und seine Einheit in der Theorie (beachte die vielen kulturphilosophischen Schriften der Romantik!) suchte, standen ihm die Nachbarn bereits als stolze Nationen gegenüber. Diese mussten sich auch mit Zuständen etc. beschäftigen, liessen aber dem Individuum den Vortritt - was etwa im 19. Jahrhundert nicht immer von Vorteil war (diverse "Industrial Novels" blieben letztlich konventionelle Liebesromane). Der deutschsprachige Roman hingegen war schon beinahe zwangsläufig ein Ideen- (Entwicklungs-)Roman mit Charakteren, die (die Gebrüder Mann, Feuchtwanger) mit psychologisch bewundernswert ausgefeilten Figuren aufwarteten. - Was du auch im Film entdeckst, ist geschichtlich Gewordenes, und ich finde es immer wieder spannend, zu entdecken, dass auch viele Figuren in deutschen Filmen, die eigentlich "für etwas" stehen, bis ins letzte Detail glaubwürdig ausgefeilt und etwa den Träumern des britischen "Free Cinema", hinter denen etwas steht, ebenbürtig sind.
    Das Problem, das die Deutschen aus dieser historisch gewachsenen Situation gemacht haben: Sie unterscheiden zwischen "E" und "U". Was seinen Ursprung in der Geschichte hat, ist reine Unterhaltung, ist Til Schweiger; was wiederum von Zuständen ausgeht, ist Futter für die Intellektuellen, also langweilige Theorie. Und so einfach kann man es sich nicht machen.
    Erst neulich äusserte sich ein Blogger über seine Vorurteile gegen den (zeitgenössischen) deutschen Film. Sie entsprechen dieser Beobachtung: Billigste Unterhaltung versus Berliner Schule, für die sich (pardon!) niemand ausser Gebildeten interessiere (er selber hats mit den RomComs aus der Traumfabrik). Da ich selber an der "Aktion deutscher Film" beteiligt war und weiterhin auch über deutsche Filme schreibe, ärgerte mich diese oberflächliche Einstellung . Es scheint mir, es liege weniger an den Filmemachern als am Zuschauer, eine unsinnige Grenzziehung zu überwinden. Dann würde man langsam entdecken, wie glaubwürdig eine Figur wie Emmi Kurowski in "Angst essen Seele" als Individuum auftritt oder, um mal ein kleines Kompliment loszuwerden, wie überzeugend und alles andere als lediglich einer Absicht untergeordnet das lüsterne Lächeln deines Armin Steeb wirkt, als er sich in einem seiner Träume der schwulen Motorrad-Gang hingeben darf. - Vielleicht ist sogar der eine oder andere Film mit Til Schweiger unterhaltsam... ;)

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  5. Was mir eben aufgefallen ist bei dem Versuch, die guten deutschen Beispiele (das Erzählen von Figuren betreffend) zu finden: dass mir viele DEFA-Filme einfallen. Unbedingt: SPUR DER STEINE, aber auch JAHRGANG '45, ICH WAR NEUNZEHN - an SOLO SUNNY erinnere ich mich nicht mehr gut genug, aber der Titel wäre passend. Das nur als Randnotiz.

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