Ich fahre gerne S-Bahn. Man sieht die Stadt, den Abriss hier, den Baufortschritt dort, kann eine Station lang oder zwei ein Gesicht studieren, erlebt Sprechweisen, Moden und Milieus, mit denen man privat nicht zu tun hat und während die Bewegung die Welt zum Bild verdichtet, schweifen die Gedanken.
Mehr als einmal allerdings bin ich bei meinen Gedankenflügen am Muster der Sitze hängen geblieben. Für Nicht-Berliner: Im Kampf gegen den Vandalismus in Form „getaggter” Oberflächen hat man sich vor einiger Zeit dazu entschieden, den Innenraum von vorne herein mit Geschmier zu verzieren. Ein grausig buntes Muster wurde nach der Massgabe entworfen, Vandalen den Spaß dabei zu verderben, selber ihre Edding-Kürzel zu hinterlassen.
Das funktioniert recht und schlecht, weil das Prinzip „Fame” kollabiert, wenn sich der „Künstlername” nicht vom Sitzbezug abhebt... stösst mir aber trotzdem übel auf. Nicht nur, dass ich, als Nicht-Vandale, mit der schier unüberbietbaren Hässlichkeit des Musters bestraft werde. Mich irritiert auch das Prinzip, dem Gegner so weit entgegenzukommen - vorauseilend kapitulierend sozusagen. Ist das nicht wie der sprichwörtliche Schuss ins Knie? Lieber verstümmele ich mich, als den Kampf aufzunehmen? Ich weiss, es geht nur um ein Sitzmuster - aber womöglich reicht diese Haltung über die S-Bahn hinaus.
Was wäre, wenn man in dieser Art Filme machte? Von einer „qualifizierten” Minderheit der Zuschauer das Schlimmste erwarten und deshalb vorauseilend und zynisch die ästhetische Niederlage vorwegnehmen - und sich freuen, dass es „funktioniert”. Oh ja, das gibt's. „Privat sehe ich auch gerne solche Filme, aber wir müssen ans Publikum denken.” höre ich oft. Für viele Medienmacher sind die Zuschauer eine feindliche, gesichtslose Masse, die man mit kalkulierten Geschmacklosigkeiten in Schach halten möchte...
Ich empfehle: S-Bahn fahren - und dem Nachbarn ins Gesicht sehen.
ich kann mich deinem kleinem exkurs nur anschließen. und weitesgehend deutest du es ja bereits an... eigentlich sehen wir im deutschen fernsehen ja nichts anders, als genau das: voreilende kapitulation, dem schlecht ausgebildeten, wenn nicht sogar verkümmerten geschmack des publikums vorschub leistend.
AntwortenLöschengerade auch die letzten event-movies lassen mich immer noch schier verzweifelt zurück, obwohl ich es langsam besser wissen müsste. grauenvolle plots, kindlich naive dialoge und dümmlich durch die kulissen stoplernde schaupieler. aber die quote erlaubt eine fortsetzung. also auf in neue abenteuer, bunt und harmlos.
der motivstoff hat wenigstens einen vorteil... man kann darauf sitzen. auch eine art von protest. in diesem sinne...
"Ich empfehle: S-Bahn fahren - und dem Nachbarn ins Gesicht sehen."
AntwortenLöschenDas habe ich einmal in Berlin gemacht, daraufhin hat er mich nach dem Aussteigen zusammengeschlagen. So einfach ist das also auch nicht.
Was habe ich verpasst, wenn ich den "Vandalismus", von dem hier leichtfertig und deutlich ohne Anführungszeichen geredet wird, in solchen Aktionen nicht sehe? Ist ein Sitz mit Edding drauf denn nicht mehr in der Lage, seine Funktion - Sitzgelegenheit sein - zu erfüllen? Verliert er an (ohnehin zweifelhaftem) Komfort? Ist man genötigt, auf dem Boden zu sitzen?
AntwortenLöschenGenau wie Film muss auch Sprache in ihrem Gebrauch reflektiert werden. Welche und wessen Sprache übernimmt man?
Hallo Micha,
AntwortenLöschenwelches Wort hättest du denn gerne gelesen: „Graffitti-Künstler”? Ich gebe gerne zu, dass es unter denen, die ihre Handschrift im öffentlichen Raum hinterlassen, große Talente gibt. Aber es bleibt ein unerwünschter Eingriff --- nicht umsonst werden für die Beseitigung Millionen ausgegeben. Ob die signierten Sitzbänke benützbar bleiben, oder nicht, ist dabei zweitrangig. Insofern war das Absicht: Vandalen ohne Anführungszeichen...
C
Es geht mir nicht um "Graffitti-Künstler" - Graffitti und Taggen sind ohnedies unterschiedliche Paar Schuhe - und auch nicht um das je individuelle Befinden über solche, schon gar nicht um künstlerischen Ausdruck oder gar Talent. Sondern schlicht um den Begriff des Vandalismus, der eine Beschädigung beschreibt, die einfach nicht vorliegt. Geredet wird im Jargon von geschäftsführenden Direktionen, die unter Hinweis auf "Vandalismus" Ticketpreise erhöhen, weil Millionen ausgegeben werden, die, weil kein Vandalismus stattfand, in diesem Maße nicht ausgegeben werden müssten.
AntwortenLöschenOder anders gesagt: Das hässliche O2-Ding, das dieser Tage in Berlin eröffnet wird, ist ein von vielen Seiten ebenso unerwünschter Eingriff in die öffentliche Sphäre. Das Ding ist eine Ausgeburt an Hässlichkeit - und verschlang Millionen. Auch Vandalismus?
Und mit welchem Recht darf 02 den öffentlichen Raum derart nachhaltig und ekelhaft verschandeln - und es wird allerorts gepriesen (Arbeitsplätze, Wirtschaftsförderung, bliblablubb)? Und Tagging - so flüchtig und schnell vergessen, dass man's schon gar nicht bemerkt - gilt als "unerwünschter Eingriff", oder gar, jetzt nicht bei Dir, "Verschandelung", "Schmiererei", "Sachbeschädigung".
Zu Deinem Thema selbst: Ich würde ja sagen, solch vorpreschen gibt's ja schon in der Filmgeschichte. Fiese Exploitationfilme, beispielsweise gerade aus dem italienischen Raum, spielen mit der Ästhetik des Kommerzfilms, dessen Motive, nur einige Ligen preisgünstiger. Was da dabei (mitunter, aber niemals immer) zu Tage tritt ist ein eigenartiges Changieren zwischen Irgendwie-ja-doch-Kunst und völliger Bloßstellung ästhetischer Armut und dies oft genug, wundersamerweise, auf fast schon respektabel dreiste Art. Oder türkische Science-Fiction und ähnliche Fälle.
Trotz der kleinen Rangelei: Sei lieb gegrüßt
Mischa
Lieber Christoph
AntwortenLöschenErst heute war auf einer bekannten Internetseite ein Artikel zu finden, der die Überschrift trug: “Nackte deutsche Politiker sind Kunst / In Ludwigshaven sorgt ein freizügiges Relief für Furore.” Auf der Seite einer öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalt ging es gleich zur Sache: “Das grenze an Pornographie, schimpft der baden-württembergische CDU-Generalsekretär Thomas Strobel. Anstoß erregt vor allem ein Ausschnitt aus dem Relief, der die Global Players heißt. Darauf sind Peer Steinbrück, Gerhard Schröder, Angela Merkel, Edmund Stoiber und Guido Westerwelle (auf dem Bild v.l.n.r.) nackt dargestellt, wie sie sich gegenseitig sehr vertraut an ihren jeweiligen Geschlechtsteilen anfassen. Der Bodmaner Bildhauer Peter Lenk, der das dreiteilige Relief gestaltet hat, sieht in seinem Kunstwerk hingegen eine Huldigung der abgebildeten Politiker: Die nämlich seien ob ihrer Leistungen ja mit Sicherheit im Paradies anzusiedeln, wo man sich bekanntlicherweise, abseits aller irdischen Textilien, vorzugsweise nackt zu begegnen pflege. Auch die meisten Besucher vor Ort finden es eine gelungene Karikatur auf parteiübergreifende Kungeleien unter Politikern.”
Zunächst muss ich gestehen, dass ich den Fries abscheulich finde, und zwar nicht, weil mein guter Geschmack mich dazu nötigt, es häßlich zu finden, sondern weil es nur eine Stein gewordene Karikatur zu sein scheint. Und ich finde sie weder gelungen noch misslungen, ich finde sie ungekonnt. Ich hätte mir einen Fries gewünscht, der die Könnerschaft antiker Steinmetze austrahlen würde. So fällt es schwer, die Besucher daran zu erinnern, dass solche Nacktszenen noch heute am Parthenon-Tempel zu finden sind, die allerdings Götter darstellen. Fernsehen macht dumme Zuschauer dümmer und kluge Schaulustige klüger, und so erfuhr ich, dass Athens berühmteste Hetäre Phryne dem Bildhauer Praxiteles Modell stand. Dies galt zu jener Zeit als Straftat, nicht weil sie ihm nackig posierte, sondern weil die Skulptur Aphrodite heißen sollte. Das war den frommen Griechen zu viel des Guten, und Phryne wurde wegen ihrer Gottlosigkeit angeklagt. Der unglaubliche Höhepunkt ihres Schlussplädoyers war, dass sie ihre Hüllen fallen ließ und dadurch einen Freispruch erwirkte.
ps.: Fälscher und keine Gründgens haben Praxiteles Werk gerettet. Dürer war der beste Fälscher der italienischen Renaissance.