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Hans Hillmanns Plakat für den 3. Teil der Kriegstrilogie. |
Die japanische Filmgeschichte ist wie ein dichter Wald. Einmal eingetreten ist es schwer, Überblick zu gewinnen. Mitunter stösst man unverhofft auf ein großes Werk und wundert sich, wie man es so lange hat übersehen können. So ist es mir mit den Filmen von Masaki Kobayashi (1916-1996) ergangen. Sie sind gewaltig, auch im Vergleich mit seinen im Westen berühmteren Kollegen.
Masaki Kobayashi träumte „den Traum von Widerstand”, wie es Stephen Prince im Titel seiner Monografie formuliert; als Sozialist zur Hochzeit des japanischen Imperialismus, als Pazifist in der Armee, als Moralist im konfliktscheuen Nachkriegsjapan. Aber er träumte nicht nur, seine Filmpraxis war ein Akt des Ungehorsams. Als einer der wenigen hat er die Verbrechen der kaiserlichen japanischen Armee immer wieder thematisiert, trotz starken Gegenwinds. In allen seinen Filmen reflektiert er „Die Bedingungen des Menschseins“, in Gendai-geki (Gegenwartsfilmen) und Ken-geki (Samurai-Filmen).
Er tut es nicht hitzköpfig oder pauschalisierend, sondern mit großer Genauigkeit und dem Wunsch, die Zwangslagen seiner Figuren in größtmöglicher Klarheit vor dem Zuschauer auszubreiten. Wir sollen urteilen können, mehr noch: wir sollen urteilen müssen, auch und gerade, wenn die Dilemmata unauflöslich scheinen. Mit Hannah Arendt könnte man über Kobayashis Filme sagen: niemand hat das Recht zu gehorchen, auch wir Zuschauer nicht.
Im Folgenden skizzenhaft ein paar Eindrücke einiger seiner besten Filme:
I WILL BUY YOU (1956)
Ein „heißes” Baseballtalent und der Mentor, der ihn „gemacht” hat, werden belagert von einem halben Dutzend Talent-Scouts verschiedener konkurrierender Teams. Man überbietet sich gegenseitig mit Gefälligkeiten, unmoralischen Angeboten und geheimen Manövern. Es ist so viel Geld im Spiel, dass alles, was nicht Gold ist, korrodiert. Und was ist schon Gold im sozialen Raum? „Moderner Menschenhandel”, auf diese Formel bringt es die (Ex-) Freundin Fudeko (Keiko Kishi), die nicht mitansehen will, wie die Fliehkräfte des Geldes den Charakter ihres Freundes deformieren. Oder offenbaren sie ihn bloss? Kobayashi interessiert sich – wie Fudeko – nicht für den Sport, sondern dafür, wie sich hier kapitalistische Logik und menschliche Gier zur Kenntlichkeit entstellen. Ein besonderer Augenmerk liegt darauf, wie sich das Geld auf die „letzte Währung” auswirkt, ohne die alles Fiktion ist: Vertrauen. Der Sport-Scout Kishimoto (Keiji Sada), dessen Perspektive den Film bestimmt, sucht früh die Nähe zu dem Mentor des Spielers, Tamaki (Yûnosuke Itô), der allerdings ein Trickser und Täuscher vor dem Herrn ist, und über dessen Vergangenheit als Spion gemunkelt wird. Nichts scheint ihm heilig, auch seine Krankheit setzt er immer wieder strategisch ein, aber krank ist er wirklich. Im Laufe des Films entscheidet sich Kishimoto, und wir mit ihm, Tamaki trotz allem zu vertrauen. Vielleicht auch, weil die sich verschlimmernde Krankheit einen Ernst ins Spiel bringt, der nicht vorgesehen war. Dieses Vertrauen, das dem alten Fuchs beinahe ein religiöses Erlebnis beschert – Yûnosuke Itô spielt das ergreifend, dankbar (ich fühlte mich mehr als einmal an Michel Simon erinnert) – erweist sich letztlich als das einzig reale, das auch noch gilt, als die großen Pläne wie ein Kartenhaus zusammenfallen.
BLACK RIVER (1957)
Im Schatten einer amerikanischen Kaserne kreuzen sich die Schicksale prekärer Existenzen. Die Besitzerin einer baufälligen Baracke schließt einen Pakt mit den lokalen Unterwelt, um ihre Mieter – von der Sexarbeiterin bis zum mittellosen Studenten – zu vertreiben; sie spekuliert auf eine Wertsteigerung des Grundstücks nach Abriß. Gleichzeitig zieht der Anführer der Gang gerade das Mädchen in den Dreck, auf das der Student zu hoffen wagt – mit brutaler sexueller Gewalt und schäbigen Tricks, die ihn zunächst als „Beschützer” erscheinen lassen. Nach und nach überwindet sie ihre Beschämung und der Wunsch nach Rache wird übermächtig – aber die Entladung, die schließlich nicht mehr aufzuhalten ist, bringt keine Befreiung. Die Art, wie hier die Widersprüche der japanischen Nachkriegsgesellschaft zur Aufführung kommen, hat mich an Imamura (1926-2006) und die Filme der japanischen neuen Welle erinnert. Kobayashi schreckt nicht davor zurück, das Hässliche und Gemeine zu filmen, aber man meint zu spüren, dass es ihn Überwindung kostet. Er zwingt sich dazu, weil er es für notwendig hält. Das unterscheidet ihn vielleicht von der jüngeren Generation, die in den neuen Ambivalenzen keine Anomalie, sondern eine zuvor verborgene Konstante erkennen.
Die Film-Trilogie THE HUMAN CONDITION (Deutscher Verleihtitel: „Barfuß durch die Hölle...”, 1959-61)
I
NO GREATER LOVE (1959)
Kaji (Tatsuya Nakadai), Protagonist der Trilogie, lernen wir als einen Mann voller Skrupel kennen, der seine humanistischen Ideale in einer Zeit verteidigen muss, die ganz entgegengesetzte Prioritäten setzt. Als vehementer Gegner des kolonialen Unterwerfungskriegs, den die kaiserliche japanische Armee in weiten Teilen Asiens führt, fürchtet er die baldige Einberufung. Der Auftrag seiner Firma, chinesische Zwangsarbeiter einer Mine zu beaufsichtigen, erscheint ihm deshalb zunächst als das kleinere Übel, zumal er seine frisch vermählte Frau mit in die japanisch besetzte Mandschurei nehmen kann. Dass das Erz, das dort gebrochen wird, wieder den Krieg nährt, ist nicht der letzte Widerspruch. Die Bedingungen der Zwangsarbeit sind horrend und Kajis Hoffnung, sie per Dekret verbessern zu können, erweist sich als vorschnell. Denn zwar ist er formal für die Arbeitsorganisation zuständig, aber die Schergen, die bisher mit äußerster Brutalität gegen jede Abweichung oder Minderleistung vorgegangen sind, fühlen sich von Kajis Ideen abgewertet. Entsprechend brachial ist ihr Widerstand. Nur Kajis Theorie, wonach eine Arbeiterschaft, die man menschlich behandelt, auch produktiver wäre – darüber hat er promoviert – sorgt dafür, dass die Spitze des Unternehmens ihn zunächst protegiert; die hohen Quoten sind mit Gewalt allein kaum zu erfüllen.
So gerät er in eine völlig hoffnungslose Lage: die wenigen Verbesserungen, die er erreichen kann, nutzen dem Krieg, den er ablehnt. Gleichzeitig kostet die Durchsetzung dieser „humanen” Maßnahmen Menschenleben, weil die Schinder auf Rache aus sind. Vollends unerreichbar werden seine Ideale, als die Armee halb verhungerte Kriegsgefangene schickt, die ebenfalls zur Arbeit gepresst werden sollen. Kaji muss einsehen, dass es in diesem falschen Leben kein richtiges Tun gibt, ja dass er, der Menschlichkeit bringen wollte, mitverantwortlich ist für diese Hölle der Sklavenarbeiter, die wie die Fliegen sterben. Am Ende ist es sein größtes Verdienst, die Widersprüche sichtbar gemacht zu haben. Weil an dieser Sichtbarkeit aber natürlich kein Interesse besteht, überstellt man ihn nun doch zum Militärdienst.
II
ROAD TO ETERNITY (1959)
Ironischerweise erweist sich Kaji trotz oder wegen seiner sozialistischen Ansichten, die ihn zunächst vor einer Beförderung bewahren, als guter Soldat. Seine Konstitution und Selbstbeherrschung erlauben es ihm nicht nur, dem Drill Folge zu leisten, sondern auch, Schwächeren zu helfen. Aber die Ausbilder sind nicht auf Ausgleich aus. Sie brauchen „Versager”, um die Gewalt abzuleiten. Die Armee zeigt Kobayashi als ein System der Erniedrigung und Entmenschlichung, das Feinde produziert, ganz nebensächlich, ob es sich um innere oder äußere handelt: Gewalt und „Verbrauch” sind ihr Selbstzweck. Als das lange Martyrium eines Rekruten, dem Kaji zu helfen bemüht war, schließlich im Selbstmord endet, versucht er unter Berufung auf die Dienstvorschriften eine Bestrafung des Verantwortlichen durchzusetzen. Wieder hat er ein Projekt gefunden, für das er bis ans Äusserste geht, und das doch unerreichbar bleibt: Gerechtigkeit, inmitten des Unrechts.
Eine so kluge, tief empfundene Generalabrechnung mit der eigenen Armee als einem System der Abrichtung und Zerstörung hätte es für die deutsche Wehrmacht auch geben müssen. Das deutsche Kino hat nicht nur damals nichts annähernd vergleichbares hervorgebracht, sondern krankt bis heute an einer unterkomplexen Kriegserzählung – wobei es bestimmt kein Zufall war, dass man Bernhard Wicki für die deutsche Synchronregie gewonnen hat, denn sein Film DIE BRÜCKE ist vermutlich der beste deutsche Film zum Thema.
III
A SOLDIER'S PRAYER (1961)
Ein Gutteil des Filmes spielt in unbarmherziger Natur. Eine Gruppe versprengter Japaner, darunter auch die Soldaten um Kaji (Tatsuya Nakadai), die sich unverhofft hinter feindlichen Linien wiederfinden, versucht einen Urwald zu durchdringen, um auf der anderen Seite womöglich einen Weg zurück ins Mutterland zu finden. Bald schwinden Vorräte und Kräfte, Zweifel jeder Art nagen. Der Wald wird zu einer Vorhölle, in der Hunger und Täuschung, Verzweiflung und Grausamkeit lauern, ein beinahe mythischer Raum, der in einer betörend-sinnlichen Chiaroscuro-Photographie plastisch wird. Ein Häuflein überlebt und überwindet den Wald, nur um auf der anderen Seite in Kriegsgefangenschaft zu geraten. Jetzt ist es Kaji, den man zur Zwangsarbeit presst – und es sind dieselben japanischen Schinder, die nun als Aufseher ihrer eigenen Landsleute das Leben zur Hölle machen...
Im dritten und für mich stärksten Teil der Trilogie bekommt Kajis Kampf metaphysische Obertöne. In einer Szene versucht er sich zu rechtfertigen vor der russisch-kommunistischen Lagerleitung. Aber der Dolmetscher ist korrupt und übersetzt ihn absichtlich falsch, keine seiner sorgfältig gewählten Worte erreichen sein Gegenüber. Gerade weil ihm die Vergeblichkeit seines Kampfes in diesem Moment verborgen bleibt, hat sie mich ungemein berührt. Zusammengenommen ist diese Trilogie ein „schwarzer Monolith” nicht nur in Kobayashis Werk, sondern auch im Weltkino ohne Vergleich.
THE INHERITANCE (1962)
Nach einer Krebsdiagnose entfesselt ein zunehmend haltloser, übergriffiger Machtmensch mit der Aussicht auf sein großes Erbe einen Sturm der Gier, der alle noch bestehenden Beziehungen herausfordert und schliesslich hinwegfegt. Wie in I WILL BUY YOU geht es um Geld als Medium der Zerstörung, hier aber in einer viel bitteren Tonart und auch stilistisch extremer, Anschluss suchend an die Kinomoderne seiner Zeit, zwischen Jazz-Noir und existenzieller Moderne. Dass das Intrigenspiel etwas Forciertes hat, gehört zum Konzept, der Materialismus deformiert mit der japanischen Gesellschaft auch die Dramaturgie, denn: „Geld ist immer Blutgeld.” (Corey Donovan)
HARIKIRI (Masaki Kobayashi, Japan 1962)
Eine komplexe Reflexion über Ehre und ihre Bedingungen. Kobayashi entlarvt die Arroganz der Tugendstolzen, die ihre eigenen Privilegien nicht reflektieren, die keinen Sinn dafür haben, dass man sich die „schöne” Ehre, die sie formstreng zelebrieren, leisten können muss; der Film ist als Prüfung angelegt, in der sich letztlich die noblesten der Samurai als Heuchler erweisen. Tsugumo Hanshirō, die Hauptfigur des Films, mit donnernder Empörung gespielt von Tatsuya Nakadai, ist Erzähler, Lehrer und Vollstrecker zugleich. Seine Kampfkunst, aber auch sein Sinn für Gerechtigkeit scheint vom Schmerz geschärft; es geht ihm nicht (mehr) um seine Person, sondern um das Beispiel.
Das Ergebnis ist ein Lehrstück, das sich nie didaktisch anfühlt; auch die Tatsache, dass der Film in der Vergangenheit spielt, nimmt ihm nichts von seiner Wucht, im Gegenteil nimmt man die Reduktion so als „gegeben” hin, während sie sich in einem Gegenwartssetting stärker thematisiert hätte. Über weite Strecken ist der Films statisch, spielt in geschlossenen Räumen, weshalb die dynamischen, großartig choreografierten Kampfszenen umso eindringlicher wirken. Ein Film, der aufs Ganze geht, wirklich versucht, Aussagen über das Leben zu treffen, ohne die Genre-Tropen als Ausreden gelten zu lassen. Ein Höhepunkt in Kobayashis Filmographie.
KWAIDAN (Masaki Kobayashi, Japan 1964)
Ein Studio-Japan, das die Künstlichkeit sucht. Jeder Himmel gemalt, jeder Grashalm gesetzt, jede Einstellung gebaut - die Sets wirken wie lebensgroße Dioramen. Kobayashi kommt so zu faszinierenden Tableaus, gegen die es die Handlung anfangs schwer hat – es braucht eine Weile, bis die Spielregeln etabliert sind. Von Episode zu Episode aber steigert sich die Intensität und insbesondere die letzten beiden („Die Geschichte vom ohrlosen Hōichi“, „In einer Schale Tee“) habe ich als Offenbarung empfunden.
Besonders gefällt mir, wie der Film über die „Brücke der Fiktion” geht, für übernatürliche Erzählungen ein besonders heikler Akt. Denn einerseits ist die Künstlichkeit, das Irreale Programm, andererseits zwingt uns Kobayashi nie größere Schritte auf, so dass wir uns einigermaßen überrascht auf der anderen Seite wiederfinden und die Welt der Geister schließlich nicht nur für denkbar, sondern für mindestens so real halten wie die beweisbare Welt.
SAMURAI REBELLION (Masaki Kobayashi, Japan 1967)
Ein Film über die Grenzen der Loyalität, und wozu man einen Menschen zwingen kann und darf. Der Fürst verstösst seine Konkubine Ichi (Yoko Tsukasa) und verlangt von einem seiner Untergebenen, dem Samurai Isaburo (Toshiro Mifune), sie mit seinem ältesten Sohn Yogoro (Go Kato) zu verheiraten. Das geht gegen Isaburos Ehre, aber er fügt sich – aus Mitleid mit der Frau und weil der Sohn seinen Widerstand nicht will. Unverhofft blüht in der Zwangsehe zwischen Ichi und Yogoro Liebe. Aber kaum ist dem Paar eine Tochter geboren, revidiert der Fürst seine Entscheidung. Weil sein direkter Nachkomme zu Tode gekommen ist, soll Ichi – die man zu Beginn von ihrem Sohn getrennt hatte – ihre neue Ehe annullieren und an den Hof zurückkehren, um ihre Mutterrolle wieder einzunehmen. Große Teile der Familie, darunter Isaburos Frau und sein jüngerer Sohn, drängen darauf, dem Fürsten auch dieses Mal nachzugeben. Aber das Paar und Isaburo weigern sich – und beschliessen zu kämpfen.
Kobayashi erweist sich hier einmal mehr als großer Moralist. Er erzählt den komplexen Stoff über Willkür und Gerechtigkeit so zwingend, dass man sich mit den Figuren entscheiden, Haltung zeigen muss. Diese humanistische „Aktivierung” des Zuschauers begeistert mich; die Konflikte erscheinen trotz der fremden Formen der Vergangenheit als aktuelle Fragen.