07 Dezember, 2024

(Wieder-) Gesehen [23]


SANSHO DAYO – EIN LEBEN OHNE FREIHEIT (Kenji Mizoguchi, Japan 1954)


Eine Welt in Auflösung: nach der Entlassung und Verbannung des Vaters, einem Gouverneur, dem man seine Milde im Umgang mit den Bauern zum Vorwurf macht, begeben sich Mutter, Amme und die beiden Kinder auf den Weg zum Haus des Großvaters. Nicht nur werden sie nie ankommen, sondern auch alles verlieren, was man verlieren kann: Freiheit, Hoffnung und einige auch ihr Leben. Wie das eine mit dem anderen zusammenhängt, und warum Mitgefühl die zentrale zivilisatorische Kraft ist, davon erzählt der Film auf unvergleichliche Weise. Danke für das Vorbild, Sensei.


Bill Douglas’ Schottische Trilogie: MY CHILDHOOD (Bill Douglas, UK 1972) / MY AIN FOLK (Bill Douglas, UK 1973) / MY WAY HOME (Bill Douglas, UK 1978)

Die drei mittellangen Filme (46 Min, 55 Min, 71 Min) reihen narrativ weitgehend unverbundene Szenen, freie Radikale; dabei geht es weniger um Ereignisse oder Erinnerungen per se als um Gefühlskonstellationen, die sich oft um einen Gegenstand herum kristallisieren. Viel trostloser und verhärmter kann man sich ein Aufwachsen nicht vorstellen, als diese Kindheit in der kleinen schottischen Bergbausiedlung, Bill Douglas' Kindheit. Die seelische und materielle Not ist niederschmetternd – aber die Filme sind es nicht. Vielleicht, weil die Rekonstruktion selbst zum Beweis einer Bewältigung wird, einer „Menschwerdung”, die um so mehr beeindruckt, als Douglas Selbstmitleid völlig fremd ist. Ein epochales, emanzipatorisches Werk. 


Lesetipp: Nicolaus Perneczky über die Trilogie.



A QUIET PASSION (Terence Davies, UK 2016)


Wie tief empfunden diese Künstlerinnenbiografie ist, kann man anhand der Dialogregie erahnen, bei der man Terence Davies gewissermaßen mitsprechen hört – oder jedenfalls schien mir seine sehr eigentümliche Kadenz immer wieder durchzuscheinen. Er hat sich offensichtlich wiedererkannt in dieser unwahrscheinlichen Dichterin, die Cynthia Nixon aufregend-kippelig zwischen Rebellion und Rückzug spielt. Nach Davies' Lesart ist Emily Dickinsons Kunst nicht Wille und Vorstellung sondern ein trotziges Leiden an den eigenen Möglichkeiten, und dieses Nicht-anders-können ist sehr berührend, auch und gerade, weil sie ihr „Jammertal” mit scharfem Witz bekämpft und verteidigt. 


BULLITT (Peter Yates, USA 1968)

In der Art, wie hier realistisches Detail und Coolness, aber auch Empfindsamkeit und Männlichkeit neu arrangiert werden – analog zu Lalo Schifrins treibender, schwereloser Musik – entsteht ein stilistisches Modell, in dem Plot und Figuren zu einer flächigen, leicht entrückten Erfahrung werden. Die Männer, und insbesondere Steve McQueen, werden zwar empfindsamer, zweifelnder, gefährdeter gezeigt als das im amerikanischen Genrekino zuvor üblich war, Frauen aber bleiben Staffage. Jacqueline Bisset ist Objekt einiger skizzenhaften Andeutungen, um den sozialen Raum des Helden zu markieren, eine echte Beziehungsebene gibt es nicht. Um zu verhindern, dass das Übergewicht der visuellen und rhythmischen Delikatesse – man könnte auch sagen: der „Effemination” der Form – affektiv ins Leere läuft, forciert Yates die Gewalt, die vergleichsweise drastisch ausfällt. Michael Mann hat diese Genre-Balance eine Dekade später weitergeführt, u.a. die Barszene in THIEF und das Flughafen-Finale in HEAT sind im Grunde BULLITT-Variantionen. 

Was macht aber nun eigentlich die Coolness aus, die auch heute noch Schauer der Bewunderung auslöst? Und was liesse sich über Steve McQueen sagen, außer, dass er eine Klasse für sich war, definition of cool? Es gibt eine Spur in Quentin Tarantinos schönem ONCE UPON A TIME IN HOLLYWOOD. Leonardo Dicaprio spielt dort einen abgehalfterten Schauspieler, der in einer Szene davon erzählt, wie er sich für kurze Zeit hatte Hoffnung machen dürfen, Steve McQueen in THE GREAT ESCAPE zu ersetzen. Tarantino bebildert diese „Cinema Speculation” mit Filmausschnitten, indem er Dicaprio in eine Szene des Sturges-Film montiert. 

Natürlich, Dicaprio spielt hier einen Schauspieler aus der zweiten (oder dritten) Reihe, er soll also womöglich gar nicht als die bessere Wahl erscheinen, aber es ist doch interessant, die beiden zu vergleichen. McQueens Coolness erweist sich als ein Absehen von Schnörkeln, als eine bestimmte Art der Nonchalance im Angesicht des Todes, als ein Trotz, der sich charismatisch-körperlich mitteilt. Dicaprios Spiel scheint dagegen aus einer Fülle von Überlegtem, aus Ticks und Tricks zu bestehen, die sich nie zu einem Ganzen formen. Das soll ihn nicht herabwürdigen, mir macht seine eklektische Spielweise in dem Film Freude – nur cool ist sie eben nicht.


THE FACE OF ANOTHER (Hiroshi Teshigahara, Japan 1966)


Erscheinungen, Zuschreibungen, Freiheiten unter der Maske: ein faszinierendes Gedankenspiel über die Frage, was ein Gesicht sagt, und wie fest es verbunden ist mit unserer Identität. 


SILENT CITY DRIVER (Sengedorj Janchivdorj, Mongolei 2024)


Schuld und Sühne im Ulan Bator der Gegenwart, mit einem hypnotischen Hauptdarsteller (Tuvshinbayar Amartuvshin), dessen El Greco-Proportionen die Leinwand sprengen. Janchivdorjs Stil ist exzentrisch, so manche Einstellung setzt ungewöhnliche Prioritäten, etwa indem scheinbar nebensächliche Objekte ganz nahe am Objektiv die Handlung in den Hintergrund drücken, aber nicht um vom Wesentlichen abzulenken, schien mir, sondern um die Kinowahrheit zu vertiefen. Denn Deformation, die Gewalt der Verhältnisse, die Normalität als Ausnahmezustand, ist Thema dieses dunklen Märchens. Das Ergebnis ist faszinierend fremd, und auch wenn man Einflüsse oder Parallelitäten ausmachen kann – ich musste manchmal an Leos Carax' HOLY MOTORS, an Jean-Jacques Beinix' DIVA und an Yi'nan Diaos FEUERWERK AM HELLICHTEN TAGE denken – ist das eine einzigartige, neue Handschrift.



THE APPRENTICE (Ali Abbasi, USA 2024) 


Die Cohn-Figur hat Kraft. Der militante Nihilismus, der ihn panzert, dahinter aufschimmernd eine privilegierte jüdische Kindheit einerseits, das Wissen um seine Außenseiterrolle als Homosexueller (und als ungeliebtes Kind seiner Mutter) andererseits, sein untrügliches Gespür für die Schwächen der anderen, sein immer auch spielerischer Sadismus, der stets zur Stelle ist, die erkannten Schwächen zu benutzen, die atemberaubenden Widersprüche, die er in sich vereint, die Würze seiner Sprache auch - all das spielt Jeremy Strong mit hypnotischer Überzeugungskraft. Kein Zweifel, diese Figur ist die Kinokarte wert.


Man kann eine Weile lang auch verstehen, was die (Filmversion von) Cohn daran reizt, den jungen Tölpel Donald Trump (wie Sebastian Stan ihn spielt) zu seinem Lehrling zu machen. Aber sobald der Film von Cohns dunkler Energie auf Donald Trump selbst zu fokussieren beginnt, geht ihm die Luft aus. Denn Trump im Film wie im Leben kennt keine Fallhöhe, hinter seiner Maske ist dieselbe Leere wie außerhalb, es gibt nichts zu entdecken oder zu zeigen. Trumps Grausamkeiten fehlt jeder Witz, jedes Gespür auch für das Gegenüber, sein Realitätssinn ist unterentwickelt, seine Waffen sind so stumpf wie seine Ideen – kurz, alles, was Cohn zu so einem faszinierenden Bösewicht macht, geht seinem Lehrling ab.


Warum sollen wir uns für ihn interessieren? Natürlich: weil er geworden ist, was er geworden ist – aber im Kino kann das nicht genügen. Und so fühlt es sich an, als würde der Film vom Kino ins Fernsehen wechseln, in eine billige Serie, und Abbasi betont das noch, in dem er weite Teile der Trump-Geschichte einen Video-Look gibt, die Zeilen werden sichtbar. Nur was damit gewonnen wäre, politisch oder ästhetisch, will mir nicht einleuchten.


WALKOVER (Jerzy Skolimowski, Polen 1965)


Eine Kettenreaktion des Missverstehens. Jede Szene ein Schlag, ein Unfall, eine Verwechslung, keiner meint, was er sagt oder sagt, was er meint, aber alle nehmen diesen Hindernislauf seltsam leicht und nach einer Weile erkennt man die Ähnlichkeit mit dem Leben, das wir uns ja täglich reibungsloser und sinnfälliger erzählen, als es ist. Narrativer Free Jazz, solistisch, vielleicht auch: nihilistisch, jedenfalls nah an der Grenze zum Nichts.

05 Dezember, 2024

Zum Abschied vom Potsdamer Platz


Das Arsenal habe ich in der Welserstraße 25 kennengelernt. Der Potsdamer Platz blieb 24 Jahre lang „neu” und fühlt sich auch kurz vor Abschied nicht als der Ort an, an dem Idee und Kinopraxis mit dem Genius Loci zur Deckung gekommen sind. Insofern bleiben für mich vor allem Filme, oder besser gesagt: Vorführungen und Veranstaltungen. Ich war zwar nie so oft im Arsenal wie ich wollte – die im Programmheft markierten Filme kritisieren die wirklich gesehenen – aber die Zahl „merkwürdiger” Abende ist trotzdem sehr groß.

Ein besonderes Ereignis war für mich STATE LEGISLATURE, den ich 2007 im Arsenal gesehen habe, ein unvergesslicher Abend. Ausgerechnet am Beispiel USA den Glauben wiederzufinden an den demokratischen Prozess – das war schon damals unwahrscheinlich. Heute, nachdem Trumps gefürchtete Rückkehr zur deprimierenden Tatsache geworden ist, umso mehr. Aber dieses Wunder gelingt Wiseman, der hier einmal mehr gewitzter Zeuge komplexer Vorgänge ist. Einstellung für Einstellung baut er das Bild eines Parlaments als eine stellvertretende „Aufführung“ der Welt, in der geduldig Problemlagen vorgestellt und Handlungsmöglichkeiten vorgeschlagen werden. Dass diese Theatralisierung auch Helden(-darsteller) hervorbringt, ist keine Überraschung. Wisemans Everyman, der hier mit seinen Herausforderungen wächst und sich mit Bravur in die Rolle schickt, reiht sich ein in die großen Darsteller und Darstellungen amerikanischer Demokratie, angefangen mit Henry Fonda in YOUNG MR LINCOLN (John Ford, 1939) und James Stewart in MR SMITH GOES TO WASHINGTON (Frank Capra, 1939).

Der amerikanische Regisseur, eine lebende Legende, ist an seinem Mythos nicht interessiert an diesem Abend. Oder jedenfalls will er nicht viele Worte machen. Ich kann ihn verstehen, der Film braucht seine Anwesenheit nicht, dennoch bedeutet sie mir etwas. Ich frage ihn, wie er seinen „Star” gefunden hat, wann er wusste, dass er die meiste Screentime bekommen wird. Er verweist zurück auf den Film, aber er ahnt, dass meine Frage Vorwand für eine Respektsbezeugung ist – und nimmt sie mit einem Lächeln an.



Geschrieben auf Einladung von Birgit Kohler, zum Abschied vom Potsdamer Platz. Ab Mitte Dezember 2024 wird das Arsenal voraussichtlich ein Jahr nomadisch unterwegs sein – ohne einen festen Kinosaal – bevor es Anfang 2026 im Silent Green neues Quartier bezieht.

29 November, 2024

Fragen und Antworten

Martine Carol in Max Ophüls' LOLA MONTEZ (D/F 1955).

German Films:
Welcher deutsche Film aus den letzten sieben Dekaden kommt Ihnen spontan in den Sinn, der Sie persönlich beeindruckt hat oder in Erinnerung geblieben ist – und warum?

Christoph Hochhäusler:
Wie wäre es mit LOLA MONTEZ von Max Ophüls (D/F 1955)? Beinahe so alt wie German Films, mit München-Bezug und vor allem visuell und erzählerisch immer noch zukunftsweisend.

Wie würden Sie den deutschen Film charakterisieren?

Das deutsche Gegenwartskino ist gut darin, Mittelwege zu gehen. Ein bisschen Kunst, ein bisschen Kommerz, niemandem wehtun. Das Ergebnis macht nur selten glücklich. Zu viele Filme werden nicht zu Ende entwickelt oder lauwarm produziert. Es mangelt nicht an Talenten und Ideen, aber an Intelligenz in der „Chancenverwertung”. Das müssen wir ändern.

Welche deutschen Filmemacher*innen haben Sie beeindruckt, vielleicht sogar beeinflusst oder sehen Sie signifikant für den deutschen Film?

Ernst Lubitsch, Max Ophüls und Fritz Lang sind ewige Favoriten für mich. Aber die Liste deutscher Filmemacher*innen, die mir wichtig sind, ist natürlich noch länger. Zu nennen wären (in der Reihenfolge ihres Geburtsjahrs) FW Murnau, Lotte Reiniger, Helmut Käutner, Konrad Wolf, Alexander Kluge, Frank Beyer, Roland Klick, RW Fassbinder, Dominik Graf, Thomas Heise, Christian Petzold, Thomas Arslan, Angela Schanelec, Romuald Karmakar, Valeska Grisebach, Jan Bonny u.v.a.

Als Ausblick: Was wünschen Sie sich für den deutschen Film?

Das deutsche Kino wird nur überleben, wenn es riskant, aufregend und dreist ist. Und zugleich – nur scheinbar im Widerspruch dazu – wenn es bereit ist, zu lernen, auf Erfolgen aufzubauen, Traditionen zu bilden.


Anlässlich ihres 70. Jubiläums hat German Films diese Fragen einer Reihe von deutschen Filmschaffenden geschickt, darunter auch mir. Meine Antworten stammen vom 21.07.2024.

Die Zufallsgärtnerei des deutschen Films

L’ARROSEUR ARROSÉ von Auguste und Louis Lumière, F 1895.


Es ist im Zusammenhang mit der deutschen Filmförderung oft die Rede von der „Gießkanne” gewesen, im Sinne einer beliebigen oder mindestens wenig zielgerichteten Verteilung des Fördergeldes. Mir gefällt an diesem Bild, dass es einen Garten impliziert. Ich will mir den Ort, an dem diese Gießkanne Dienst tut, für einen Augenblick genauer ausmalen. Das Wasser im Brunnen wären also (öffentliche) Gelder. Es gibt einen mehr oder weniger humusreichen Boden (unsere Geschichte und Gegenwart?), einen Zaun, angrenzende Gärten und Gebäude, einen Komposthaufen. Es gibt Gewächshäuser (Filmschulen?), saisonal blühende, aber auch immergrüne Pflanzen. Man könnte Bäume als Genres annehmen, Unkraut, das zwischen den Platten des Weges spriesst (die unerwünschten, ungeförderten Filme?) – bestimmt nicht weniger schön als die Zuchtrosen im Hochbeet, die irgendein Ungeziefer benagt, denn die Blüten fallen dürftig aus. Der Garten ist ein einziger Widerspruch. Hier ein gepflegter Fleck, dort Verwahrlosung, hier ein dreifach gesichertes Bäumchen, dort ein schöner alter Stamm, der brutal und ohne Sinn beschnitten wurde. Jedes Jahr gibt es an unverhoffter Stelle schöne Überraschungen, aber nie an der selben. Fragen drängen sich auf: was ist ein schöner Garten? Warum gibt es Zäune? Und ist das Gras beim Nachbarn nicht grüner?


Ein Bild aus Jacques Tatis MON ONCLE (F 1958)

25 November, 2024

Zahlenspiele

Wie viele Filme es insgesamt gibt oder gab, ist nicht mit Bestimmtheit zu sagen. Die kursierenden Schätzungen liegen zum Teil sehr weit auseinander. Aber egal ob es 1 oder 7 Millionen Langfilme sind, nur ein Bruchteil zirkuliert in den „Auswertungskaskaden”, und nur der Bruchteil eines Bruchteils kann von einem Einzelnen im Laufe eines Lebens gesehen werden. 

Das macht jede Filmgeschichte zu einer subjektiven Angelegenheit. Sie ist notwendig eine Schnittmenge aus Verfügbarkeit, Gelegenheit, Neigung; abhängig von Zeit, Wohnort, finanziellen Möglichkeiten und verfügbarer Freizeit. Beeinflusst vom Erfolg an der Kinokasse, word-of-mouth, der Rechtslage, von Filmkritikern und filmhistorischer Kanonisierung, von so schwer zu fassenden Dingen wie Zeitgeist und Mode, die den Appetit auf bestimmte Formen oder Themen plötzlich hervorzubringen scheinen (oder ist es umgekehrt?). 

Das schon erwähnte Letterboxd eignet sich ganz gut dafür, die eigene Seherfahrung zu vermessen, wenn man sich die Mühe macht, das Profil mit den gesehenen Filmen zu füttern. Zwar ist es unwahrscheinlich, dass man so wirklich alle Filme erfasst, mit denen die eigene Netzhaut je in Berührung war, aber der bewusste Teil des Eisbergs ist zumindest ein Anfang. 

Ich komme aktuell (25.11.2024) auf 4558 Filme, die ich gesichert gesehen habe, ganz bestimmt keine astronomische Zahl (zum Vergleich: der Filmkritiker Lukas Foerster listet 16580). Ich habe spät angefangen mit dem Kino, nie einen Fernsehanschluss besessen, und war immer darauf bedacht, wichtige Seheindrücke nicht zu überschreiben. Das nur zur Einordnung. 

871 von den 4558 kann ich sehr empfehlen. Das sind unwahrscheinliche 19 % aller gelisteten Titel, jeder fünfte Film – was dafür spricht, dass der unter der Bewußtseinsoberfläche befindliche Teil des Eisbergs beträchtlich ist. 253 Filme habe ich als Meilensteine meiner persönlichen Filmgeschichte identifiziert, gute 5 %. Die Grenze ist einigermaßen willkürlich gezogen, aber ich wollte so etwas wie den Kern meines Pantheons finden. 

Die große Anzahl „respektabler“ Klassiker unter meinen Favoriten kann für Heuchelei halten wer will; als Spätberufener des Kinos habe ich den Vorwurf oft gehört, ich würde das Abseitige und Verfemte, Populäre und Unbewusste zu wenig würdigen. Ich kann nur sagen, dass ich versucht habe, ehrlich zu sein.  

Erhellend fand ich, die 871 für sehr gut befundenen Filme nach Dekaden zu sortieren. Da zeigen sich nämlich überraschende Unterschiede. Mit Abstand die meisten Filme stammen aus den 1960er (134), 1970er (124) und 1950er (113) Jahren, gefolgt von den 1980er (97), 1990er (86), 1940er (80und 2000er (79). Die Nachhut bilden die 1930er (60), 2010er (56), 1920er (27) usw. Dieses Muster wiederholt sich, wenn auch etwas weniger eindeutig, wenn man nur die aktuell 253 Meilensteine beleuchtet. 


Von den Filmen aus den Dekaden 30-70 hat mir in etwa jeder dritte Film gefallen, von den Filmen der 80er nur noch jeder fünfte, von den Filmen der folgenden Dekaden nur jeder 10.-12. Die Wahrscheinlichkeit, dass mir ein Film aus den 30ern bis 70ern gefällt, scheint also ungefähr 3,5 mal so hoch wie bei einem Film aus den 1990er bis 2010er Jahren. 
Wie soll man diese Zahlen interpretieren? Ist es der Niedergang des Kinos, der sich hier zeigt? Das Ergebnis hat mit Verfügbarkeiten zu tun, so viel ist sicher. Zum Teil zeigen sich Vorlieben und auch so etwas wie der „Horizont” meiner Generation. Womöglich lässt sich auch ein positiver Effekt der Kanonisierung (im Sinne eines Qualitätsfilters) nachweisen? So oder so, es ist nur eine Momentaufnahme, mit einer angesichts der Gesamtzahl aller Filme statistisch nicht relevanten Zahlenbasis...

30 Oktober, 2024

„Der Tod wird kommen” @ 14 Films (Berlin Premiere)


Ich freue mich, dass mein Film DER TOD WIRD KOMMEN seine Berliner Premiere bei Around The World in 14 Films erleben wird, der unentbehrlichen, jährlichen Festivalauslese,


Außerdem gibt es Vorstellungen in
Köln 
am Sonntag, den 15.12.2024, 17.30 h in den Odeon Kinos.
Nürnberg 
am Samstag, den 04.01.2024, 18.00 h im Filmhaus.

P.S.: Auch der reguläre Kinostart steht inzwischen fest: W-Film wird den Film am 8. Mai 2025 in die deutschen Kinos bringen. Mehr dazu demnächst.

19 Oktober, 2024

Jury @ PÖFF

Das estnische Tallinn Black Nights Film Festival (Pimedate Ööde filmifestival, PÖFF, 8.-24.11.2024) hat mich eingeladen, den Vorsitz der diesjährigen Wettbewerbsjury zu übernehmen. Ich freue mich, mit meinen Ko-Juroren – der philippinischen Produzentin Bianca Balbuena, der litauischen Produzentin Marija Razgutė, dem belgisch-marokkanischen Filmemacher Jawad Rhalib und dem litauisch-amerikanischen Regisseur Tomas Vengris – die Filme des Offiziellen Wettbewerbs zu sehen & zu diskutieren – um dann gemeinsam hoffentlich gute Preisentscheidungen zu treffen.

Ich habe schon ein paar Mal Jury-Arbeit gemacht, u.a. in Locarno („Concorso Cineasti del presente”, 2011) und Buenos Aires („Competencia Oficial Argentina”, 2013), was jeweils gute Erfahrungen waren. Ich verstehe Kino ohnehin als Einladung, Kunst und Leben zu befragen; es schärft die Sinne, wenn man das unter „Laborbedingungen” mit klugen Köpfen aus aller Welt machen kann.

Hier geht es zur Cineuropa-Meldung.



P.S.: Im Rahmen des Programms „Focus on Germany” wird auch LA MORT VIENDRA dort zu sehen sein, und zwar am 13., 17. & 21.11.2024. Details gibt es hier.


Update 24.11.2024:
Wir haben gestern die folgenden Filme und Künstler ausgezeichnet:
Grand Prix
SILENT CITY DRIVER, Regie: Sengedorj Janchivdorj
Beste Regie
Nir Bergman für PINK LADY
Beste Bildgestaltung
Claudia Becerril Bulos für EMPIRE OF RABBITS
Bestes Drehbuch
Seyfettin Tokmak für EMPIRE OF RABBITS
Bester Schauspieler
Lee Hyo-Ye für THE LOOP
Beste Schauspielerin
ex aequo Pirjo Lonka und Elina Knihtilä für 100 LITERS OF GOLD
Beste Originalmusik
Alyana Cabral und Moe Cabral für SOME NIGHTS I FEEL LIKE WALKING
Bestes Szenenbild
Munkhbat Shirnen für SILENT CITY DRIVER

17 Oktober, 2024

„La Mort viendra” @ IFFMH am 8., 9. & 10. November


Sophie Verbeeck als „Tez”

Mein Gangsterfilm LA MORT VIENDRA („Der Tod wird kommen”) feiert auf dem Internationalen Filmfestival Mannheim Heidelberg (IFFMH) seine deutsche Premiere, und zwar am Freitag, den 8. November 2024 um 19 h im Stadthaus N1 in Mannheim, im Rahmen der Reihe Pushing the Boundaries. 

Die 1. Wiederholung findet am Samstag, den 9.11.2024 um 20.45 h im Karlstorbahnhof (Großer Saal) in Heidelberg statt, die 2. Wiederholung am Sonntag, den 10.11.2024 um 20.45 h im Cineplex (Saal 3) in Mannheim.

„Tez tötet für Geld. Charles Mahr, ein legendärer Brüsseler Gangster, gibt ihr den Auftrag, den Mord an einem seiner Kuriere zu rächen. Schnell gerät sie in das Dickicht einer Intrige, in der sie selbst zur Gejagten wird. Tez muss sich entscheiden, wessen Werkzeug sie sein möchte.”

Nach den Vorführungen gibt es jeweils ein Publikumsgespräch. Zur Premiere werden u.a. die Hauptdarsteller Sophie Verbeeck und Louis-Do de Lencquesaing, der (Ko-) Drehbuchautor Ulrich Peltzer und die Produzentin Bettina Brokemper erwartet; ich werde natürlich auch da sein.

Louis-Do de Lencquesaing als „Charles Mahr”

12 Oktober, 2024

(Wieder-) Gesehen [22]


MEMORIES OF UNDERDEVELOPMENT („Memorias del subdesarrollo”, Tomás Gutiérrez Alea, Cuba 1968)


Ein filmisches Sudelbuch, flüchtig, in Bewegung. Alles hat darin Platz: Gedanken, Melodien, die politische Lage 1961/62, Vermischtes in der Zeitung, die Stadt Havanna und das schöne Knie einer Wartenden. Sergio (Sergio Corrieri) ist Beobachter und Gegenstand der Beobachtung, ein Schriftsteller zwischen den Lagern, in Cuba zurückgeblieben, zurückgelassen, befreit und ruhelos, neugierig und distant. Erotische Eskapaden und der archaische Zorn einer Mutter, die ihre Tochter „um das Wertvollste” gebracht sieht, Micro- und Macropolitik, Momente von großer Schönheit, Erinnerungen, Fantasien, Korrekturen. Das Leben ist ein Strom, keiner steigt zweimal in den selben Fluss, beim nächsten Sehen wird es anderer Film sein. Ich hab' vor Glück geweint.



THE SWIMMER (Frank Perry, USA 1968)


Burt Lancaster ist „der Schwimmer“, athletisch, strahlend und schön. Was als verrückte Idee beginnt - er kündigt an, die Nachbarschaft von Pool zu Pool zu durchschwimmen, bis er zuhause ist - wird nach und nach zum manisch-depressiven Resümee eines Träumers, dem die Geschöpfe seiner Fantasie mit erlahmender Kraft nicht mehr gehorchen. Die folgende Konfrontation mit den Ruinen seines Lebens ist schwärzer, als es für amerikanische Filme eigentlich vorgesehen ist. Auch wenn nicht alle der visuellen Lyrizismen (die wohl von Produzentenseite in den Film kamen) gut gealtert sind, gelingt es Perry mit einiger Kühnheit, die inneren Türen seiner Zuschauer zu öffnen; mir jedenfalls war die Reise des Helden bald Anlass, über eigene Versäumnisse und Lebenslügen nachzudenken. 


MANILA IN THE CLAWS OF LIGHT („Maynila sa mga kuko ng liwanag”, Lino Brocka, Philippinen 1975)


Die Stadt als Dickicht, in dem Glanz und Elend nichts voneinander wissen (wollen). Ein mittelloser Fischer aus der Provinz kommt nach Manila, um seine verschollene Freundin zu finden, lebt und arbeitet rechtlos und gefährdet, das Festhalten an seinem Ziel und die Solidarität einzelner Kollegen helfen ihm durchzuhalten, aber als er sie endlich findet, offenbaren sich neue, tiefere Abgründe... Bewegend und genau. Können Melodramen „realistisch” sein?



INSIANG (Lino Brocka, Philippinen 1976)


Der einzige filmische Realismus, über den sich zu reden lohnt, ist einer, der die ökonomischen Verhältnisse nicht beschreibt, um die Figuren als determiniert zu denunzieren, sondern die ökonomische Determinierung zum Rahmen macht, in dem wir die individuellen Anteile der Handlungsmöglichkeiten beurteilen können. Brockas Porträt trifft eine seltene Balance: der Film ist weder anklagend noch fatalistisch, nicht ideologisch und schon gar nicht naiv, sondern wirklich um ein transparentes Bild all jener Kräfte bemüht, die auf menschliches Handeln einwirken. Und obwohl ich den Eindruck hatte, alles Wesentliche im Blick zu haben, habe ich das erschütternde Ende nicht kommen sehen. 


M (Joseph Losey, USA 1951)


Auf der einen Seite ein getreues und respektvolles Remake von Langs Meisterwerk, das viele Bilderfindungen des ersten Film nachbaut und die meisten Handlungsfäden übernimmt, auf der anderen Seite im besten Sinne eigensinnig an einer Übertragung auf amerikanische Verhältnisse interessiert, die vor allem mit der „neorealistischen“ Entscheidung, on location zu drehen, voll aufgeht. Das Studio-Berlin in Langs Version wirkt wie eine klaustrophobische Metapher auf städtisches Leben; Loseys Los Angeles ist viel stärker ein sozialer und politischer Raum. Als großer Verehrer des Originals habe ich lange gezögert, Loseys Film eine Chance zu geben (Lang hat sich zeitlebens verbittert geäußert über die Entscheidung des Produzenten für ein amerikanisches Remake). Inzwischen finde ich: beide Filme haben nicht nur ihre Berechtigung, sondern ergänzen sich. 



SÃO BERNARDO (Leon Herszman, Brasilien 1972)


Ein schöner, täuschend einfacher Film über einen Aufsteiger, der buchstäblich (aber metaphorisch natürlich auch) über Leichen geht, vom Habenichts zum Besitzer eines großen Guts avanciert, besessen von Besitz und Besitznahme, dabei aber lange wie unberührt bleibt, bis er durch oder gegen die Frau, die er heiratet - und natürlich zu spät - versteht, dass er mehr verloren als gewonnen hat. Erzählt mit großer Klarheit, gleichnishaft, nicht psychologisch, aber nahe an den Personen.


DIE WEISSE TAUBE („Holubice”, František Vláčil, CSSR 1960) 


Ein filmisches Gedicht, das spielerisch die Essenzen des Kinos dekliniert. Luft, Wasser, Erde. Freiheit und Schmerz, Kunst und Hingabe. Vláčil findet traumhafte, oft angstgrundierte Bilder. Eine schwarze Pyramide, von der aus (in Belgien) Tausende Brieftauben starten. Ältere (deutsche) Herren und eine somnambule junge Frau, die im Meer, auf Stühlen sitzend, ihre Ankunft erwarten. Eine Taube, die vom Weg abkommt, sich verletzt nach Prag verirrt. Ein schwarzer Kater namens „Satan“, der ihr auflauert. Ein Künstler, der die todgeweihte Taube malt, schließlich einem Jungen im Rollstuhl anvertraut, dem es gelingt, sie wieder zurück ins Leben zu holen… All diese Elemente bilden weniger eine Handlung denn die losen Glieder einer visuellen Kette, sind Situationen, die erst in der Sinnlichkeit der filmischen Form zu sich kommen. In einer verblüffenden Sequenz sehen wir dem Künstler beim Denken und Probieren zu, bis plötzlich ein Bild entsteht, an dessen Spontanität wir glauben können. Die Montage ist musikalisch, sucht Kontraste; alles ist Rhythmus. Ein Debüt als großes Versprechen, das, wie wir wissen, eingelöst wurde.



ABENTEUER IN RIO („L'Homme de Rio", Philippe de Broca, Frankreich 1964)


Die Nouvelle-Vague-Version von Tim und Struppi (insbesondere „Der Arumbaya Fetisch“), aber natürlich mit weniger Moralin und viel mehr Sexiness. Dorleac und Belmondo sind ein Traumpaar: betörend schön, ohne daraus eine große Sache zu machen, witzig und auf rätselhafte Weise der Schwerkraft enthoben. Spielberg und Lucas haben sich offensichtlich viel für Indiana Jones abgeschaut, aber doch nicht das Wesentliche getroffen. Ein großes Vergnügen.



TÜRKISCHE FRÜCHTE („Turks Fruit”, Paul Verhoeven, Niederlande 1973)


Verhoevens zweiter Kinofilm ist erwartungsgemäß vulgär, schamlos, unerschrocken; die Grenzüberschreitungen fühlen sich leidenschaftlicher und irrwitziger an als in späteren Filmen, die oft drastischen Details wirken gelebt und beobachtet. Rutger Hauer als Alter Ego des Regisseurs spielt den Künstler Erik als erotische Bestie, auf ähnlich ambivalente Weise unwiderstehlich, wie es Depardieu ein Jahr später in LES VALSEUSES tut. Monique van de Ven als Olga – die Augenhöhe hält mit Hauer – interessiert Verhoeven als Figur leider deutlich weniger; ihr Körper ist sein Fetisch. Auf ihr Krebsdrama am Schluss hätte ich verzichten können, das erste und eigentliche Ende des Films ist der jähe Abbruch der Amour Fou, alles weitere sind Girlanden.


BRIGHTON ROCK (John Boulting, UK 1947)


Ein „katholischer” Kriminalfilm, der sich anders als die amerikanischen Pendants dieser Zeit mehr für Gewissensfragen und Seelenheil interessiert als für das Geschäftsmodell seiner Gangster. Die Handlung dreht sich um Pinkie, den paranoiden Boss einer jener Banden, die Brighton in der Zwischenkriegszeit terrorisiert haben sollen (die Vorspanntitel erklären diese dunkle Vergangenheit des Badeortes vorsorglich für überwunden) und Attenborough spielt ihn als attraktives Nervenbündel, dünnhäutig, hypnotisch und grausam. Der aufregendste Teil des Films ist der Auftakt, die Jagd auf einen Verräter, den Pinkie und die seinen tot sehen möchten. Danach wird der Versuch, Spuren zu verwischen, so obsessiv, dass die Bewegungen des Plots immer kleiner und kleiner werden.



WILD BOYS OF THE ROAD (William Wellman, USA 1933)


Ein überraschend realistischer Blick auf das Phänomen der „Wild Boys“ der Depressionszeit: vagabundierende, verelendete Jugendliche (und durchaus nicht nur „Boys“), die auf Frachtzügen durchs Land ziehen, auf der Suche nach Obdach und Brot. Der Film lässt zwar das Traumbild eines verständnisvollen Richters ein Happy End andeuten und betont die Solidarität unter den Halbwüchsigen, aber in den Zwischenräumen (und übrigens auch in den haarsträubenden Stunts) wird der Abgrund deutlich, über dem diese Jugend tanzt. Um mit Werner Herzog zu sprechen: „Jeder für sich und Gott gegen alle.“ Armut ist natürlich immer und überall ein Alptraum; die USA aber erscheinen hier auf eine besonders grausame Weise haltlos. 


P.S.: Als politische Ergänzung empfehle ich ein Double Feature mit Bo Widerbergs wunderbarem JOE HILL (Schweden/USA 1971), siehe auch *.



ELECTION (Johnny To, Hongkong 2005)


Die Wahl des neuen Oberhauptes durch die Ältesten wird von einem, der sich übergangen fühlt, angefochten. Der Film erzählt mit einer großen Fülle an Charakteren - beinahe wie in einem Dokumentarfilm über die Hongkonger Triaden und ihre Gebräuche - von der Wiederherstellung der alten Ordnung (und dem notwendigen Blutzoll) ohne sich je für eine Hauptfigur zu entscheiden. Die Sachlichkeit des Tons nimmt den Gewaltspitzen ihre verstörende Wirkung, man nimmt sie als „naturgesetzlich“ hin; auch der Film als Ganzes wirkt fatalistisch. Ein politischer Kommentar?



VIELE KAMEN VORBEI (Peter Pewas, BRD 1956)


Ein Film in faszinierender Schwebe zwischen Ver- und Entzauberung, Geheimnis und Analyse. Ein Serienmörder treibt sein Unwesen entlang der Autobahn, verschiedene Figuren und Perspektiven berühren sich zunächst scheinbar zufällig, bis nach und nach eine Welt Relief bekommt, die so künstlich wie welthaltig ist. Pewas' Talent stand quer zu seiner Zeit und blieb deshalb unvollendet; der Film zeigt (wie schon DER VERZAUBERTE TAG) sein großes Potential.



MEGALOPOLIS (Francis Coppola, USA 2024)


Selbstporträt als Held, von der Muse geküsst; entwaffnend ehrlich, oft himmelschreiend naiv, dramatisch und visuell all over the place. Im goldenen Licht einer Shampoo-Werbung wird hier zitiert und laut gedacht, was das Poesiealbum so hergibt; manche Ideen atmen den Charme des ganz frühen Kinos, andere sind einfach nur albern, Handlung im engeren Sinne spielt keine Rolle. Es gibt definitiv schlechtere Wege, Abschied zu nehmen, gerade für einen „Großkünstler“, als sich so frei zu machen (untenrum und überhaupt) – aber natürlich hätte ich lieber einen guten Film gesehen. Ich musste an Gordon Willis denken, den Kameramann der Godfather-Filme, der damals vehement gegen die „Willkür“ von Coppolas visuellen Vorschlägen gekämpft und sich in der Regel durchgesetzt hat. Willis‘ Antwort auf die Frage nach der größten Herausforderung beim Filmemachen: „Consistency“. Solche Partner hat Coppola ganz offensichtlich keine mehr.


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Zumindest kurz erwähnen möchte ich:



AUF TROCKENEN GRÄSERN („Kuru Otlar Üstüne”, Nuri Bilge Ceylan, Türkei 2023)


Ceylan setzt seine unwahrscheinliche Serie großer Würfe fort. Der ganze Film ist eine Zwiesprache, ein Für- und Wider, das in einem langen Dialog zu sich kommt. In einem magischen Moment fährt die Kamera hinter den Kopf der Konfliktparteien, und deckt so den jeweils anderen aus. 



JUNGE KIEFERN (Ute Aurand, D 2011)


Das „atmende” Filmen mit der federgetriebenen Bolex wirkt nicht nur besonders menschlich (in Ermangelung eines besseren Wortes), sondern hat eine große rhythmische Schönheit. Bilder scheinen kaderweise auf und tauchen ab. In der losen Verknüpfung von Japanalia entsteht beinahe so etwas wie ein Haiku-Kino. 



DÄMMERUNG („Szürkület”, György Fehér, Ungarn 1990)


Hypnose. Als hätte man die Dürrenmatt-Vorlage (oder Ladislao Vajdas Drehbuch-Überarbeitung für ES GESCHAH AM HELLICHTEN TAG) genommen und nur jede zehnte Seite verfilmt, bei gleicher Gesamtlänge. Die Kamera geistert durch ein neblig-graues Ungarn, alles ist Raunen und Andeutung, in langen „Atemzügen” vermessen Fehér und sein Kameramann Miklós Gurbán die Endzeit.



ARMACORD (Federico Fellini, Italien 1973)


Immer wieder ein Wunder, dieser Film. Ein Reigen der Erinnerung, wahr gerade in der Deformation. Die Lehrerporträts sind große Komödie, die erotischen Miniaturen wie geträumt, die Episode um den Ozeandampfer reine Kinomagie. Alle Figuren sind eingesponnen in Fiktionen, das ist bei aller Verklärung nicht ohne Bitterkeit – ich finde mich wieder.



CANYON PASSAGE (Jacques Tourneur, USA 1946)


Oh Buttermilk Sky! Ein neuer Lieblingswestern, in dem der schönste Melancholiker des klassischen Hollywoods, Dana Andrews, zwischen zwei Frauen steht, und erst durch den Verrat eines Freundes zur richtigen findet. 



MISFITS (John Huston, USA 1961)


Der Versuch einer Antwort auf die Frage, ob man „heute” noch einen Western drehen (oder leben) kann, und wenn ja, zu welchem Preis. Der Film hat etwas von einer barocken Ruine, schon als Form herzzerreissend, wozu natürlich passt, dass es sowohl Marilyn Monroes als auch Clark Gables letzter fertiggestellter Film war.



LE RETOUR D'UN AVENTURIER (Moustapha Alassane, Nigeria 1966)


Gewissermassen das afrikanische Pendent, die selbe Frage (ob man noch Western drehen kann), aber eine viel modernere Antwort. Das Ineinander von De- und Rekonstruktion, von Künstlich- und Kunstlosigkeit ist hier in wunderbarer Balance.



MÄDCHEN IM SCHATTEN („Yoru no henrin”, Noboru Nakamura, Japan 1964)


Schmerz als Farbenspiel. Selten habe ich einen so bewussten und überzeugenden Einsatz von Farbe als Gestaltungsmittel gesehen.



UNDERWORLD U.S.A. (Samuel Fuller, USA 1961)


Ein schöner linker Haken von einem Film.



DER MEISTERGAUNER („ Il mattatore”, Dino Risi, Italien 1960)


In der Täuschung findet das Kino zu sich, das wissen wir, aber wie hier ein Schwindler beschwindelt werden muss, um wieder Boden unter den Füssen zu bekommen, ist selbst schwindelerregend. 



Vier Filme mit Judd Hirsch:


ORDINARY PEOPLE (Robert Redford, USA 1980)


Timothy Huttons unverbrauchtes Spiel und das klug gebaute Drehbuch machen den Film zu einer sehr emotionalen Erfahrung, auch wenn der polierte Konventionalismus des visuellen Stils und die unterentwickelte Mutterfigur meine Gefühle gelegentlich ausgebremst haben. Judd Hirsch ist wunderbar schroff als Huttons Therapeut, als wollte er nicht nur die Ausweichmanöver der Hutton-Figur, sondern auch Redfords schmeichlerische Filmsprache herausfordern. 



RUNNING ON EMPTY (Sydney Lumet, USA 1988)


River Phoenix traurig-sanfte Lebensgier ist eine Offenbarung in dem Film, die ohne Hirschs messerscharfe Intelligenz nicht so strahlen könnte. Ganz weit oben in der an Meisterwerken reichen Filmografie Lumets.



THE FABELMANS (Steven Spielberg, USA 2022)


Spielberg rekonstruiert die Macht des Kinos aus dem Privaten. Hirsch spielt eine beinahe allegorische Figur, einen Onkel, der dem jungen Fabelman den Gegensatz von Kunst und Familie drastisch vor Augen führt.



SHOWING UP (Kelly Reichardt, USA 2022)


Ein Film wie ein Roz Chast-Cartoon: Passive-aggressive, aber in seinen Neurosen unbedingt liebenswert. Hirschs Vater-Figur hat wenig Screentime, ist aber zentral, um Michelle Williams knappes Nervenkostüm zu verstehen.