27 Juni, 2021

Wohin der Schlager schlägt

Im Gespräch mit Marie-Pierre Duhamel über Dialog im Kino habe ich einmal etwas steil formuliert:

„Es könnte interessant sein, diese Tendenz [gemeint ist der nachlässige Umgang mit Akzenten im Hollywoodkino] mit der Tradition akzent-sprechender Schauspielerinnen im NS-Kino zu vergleichen. Es ist ja auf den ersten Blick überraschend, dass die verstaatlichte Filmindustrie eines Systems, in dem Rassismus oberste Staatsdoktrin war, so viele mit Akzent sprechende Schauspielerinnen zu Stars gemacht hat. Als positive, verführerische Figuren. Zarah Leander, Christina Söderbaum, Marika Rökk gehörten zu den größten Stars der Nazi-Ufa. Nur Frauen, so weit ich sehe, was bestimmt kein Zufall ist. Frauen sind hier gedacht als Wesen, die korrigiert werden müssen. Shaws „Pygmalion” (…) bzw. „My fair Lady” lassen grüßen. Es grünt so grün. Diese Tendenz, zugleich für das Exotische zu schwärmen und es in der Wirklichkeit ausmerzen zu wollen hat sich ja im Nachkriegsdeutschland durchaus fortgesetzt.” (Nachzulesen in Revolver 38).

Weil ich mich gerade in der Recherche für ein Projekt mit dem (bundes-) deutschen „Schlager” beschäftige, muss ich kurz darauf zurückkommen. Denn es ist auffällig, wie groß die Rolle des Akzents wie auch der „exotischen” Themen in der Populärmusik hierzulande sind oder waren.

Die populärsten auf deutsch singenden Schlagersänger*innen zwischen 1960-80 kommen zum Beispiel aus Griechenland (Nana Mouskouri, Vicky Leandros, Costa Cordalis), Jugoslawien (Bata Illic), Tschechoslowakei (Karel Gott), Holland (Rudi Carell), Dänemark (Gitte Hænning), Norwegen (Wencke Myhre, Kirsti Sparboe), Frankreich (Mireille Mathieu, Caterina Valente), Libanon/Frankreich (Ricky Shayne), Tunesien (Roberto Blanco), Österreich (Peter Alexander, Udo Jürgens) – also alles Weltgegenden, die das „Reisebüro Wehrmacht” in den Jahren 39-45 erschlossen hat. Dazu gesellen sich höchst erfolgreiche Stimmen aus Israel (Daliah Lavi, Esther & Abi Ofarim), Kenia (Roger Whittaker) und Südafrika (Howard Carpendale).

Konsequenterweise werden viele der in Deutschland geborenen Musiker mit „fremdländischen” Künstlernamen berühmt: Roy Black (aka Gerhard Höllerich), Rex Gildo (aka Ludwig Franz Hirtreiter), Tony Marshall (aka Herbert Anton Bloeth), Chris Roberts (aka Christian Franz Klusáček).

Die Themen (der Einfachheit halber alle der ZDF-Hitparade entnommen): „Afrika” (Ingrid Peters), „Akropolis Adieu” (Mireille Mathieu), „Bora Bora” (Tony Marshall), „Caprifischer” (Vico Torriani), „Carneval in Rio” (Heino), „Da kommt José” (Lena Valaitis), „Fiesta Mexicana” (Rex Gildo), „Die Fischer von San Juan" (Tommy Steiner), „Fremde Erde” (Roy Black), „Griechischer Wein” (Udo Jürgens), „Ein Indio-Junge aus Peru” (Katja Ebstein), „In Japan geht die Sonne auf” (Roy Black), „Karamba, Karacho, ein Whisky” (Heino), „Der letzte Sirtaki” (Rex Gildo), „Mendocino” (Michael Holm),„Moskau” (Dschingis Khan), „Der Puppenspieler von Mexico” (Roberto Blanco), „Rhodos im Regen” (Udo Jürgens), „Die rote Sonne von Barbados” (Die Flippers), „Sommernacht in Rom” (G.G. Anderson), „Spaniens Gitarren” (Cindy Berger), „Der Stern von Mykonos” (Katja Ebstein), „Der Wein von Samos” (Costa Cordalis), „Am weissen Strand von San Angelo” (G.G. Anderson), „Zwei kleine Italiener” (Conny Froboess), „Zigeunerjunge” (Alexandra), „Zigeunerwagen” (Ann & Andy), um hier nur die griffigsten Titel zu nennen (es gibt Hunderte ähnliche Beispiele).

Mit viel gutem Willen kann man dieses Phänomen teilweise positiv interpretieren: Neugier auf die Welt, Fernweh (wir sind „Reiseweltmeister”), vielleicht auch: ein Fremdeln mit der eigenen Haut nach der Katastrophe des 2. Weltkriegs – ein Fremdeln, das womöglich auch Anteil an dem überwältigenden Erfolg nicht-deutschsprachiger Musik hat. Aber es bleibt ein Unbehagen, und das nicht nur, weil viele der Texte (mindestens nach heutigen Maßstäben) rassistisch sind. 

Was bedeutet die Sehnsucht nach der Ferne, die den bundesdeutschen Schlager so fest im Griff hat? Welche Rolle spielen das „Herkommen” und Radebrechen für den Erfolg dieser Musik? Und inwiefern ist die – bis heute stabile – Ablehnung des „Fremden” in der Praxis mit der Schwärmerei für das Fremde in der Theorie verbunden?

24 Juni, 2021

Unter Einfluß


Vincente Minnelli: THE BAD AND THE BEAUTIFUL (USA 1952)

Dass künstlerische Fragen immer auch ökonomische sind – darüber sprechen Cinephile nicht gerne. Selbst wenn man die Transmission des Budgets und der Produktionsbedingungen nicht werten will, bedroht sie die Illusionen, die sich Künstler und Zuschauer machen wollen. Geht es um die eigene Arbeit, wird noch lauter geschwiegen, auch weil der Schöpferkitsch (den uns die Reklame eingeflüstert hat) ein Suchtstoff ist.


Wie trägt sich das Geld in die Filme ein? Der erste Druckpunkt ist subtil. Die Deformation beginnt lange bevor Projekte Bedingungen vorfinden, in den Köpfen der Produzenten, Regisseure, Drehbuchautoren, die sich vorstellen, was machbar sein könnte. Dieser Möglichkeitssinn orientiert sich daran, was in der Vergangenheit möglich war und setzt so nicht nur künstlerische Traditionen, sondern auch die Tabus der Geldgeber fort. Wenn man belichtet, was in unseren Filmen nicht vorkommt, entsteht als Negativ ein vitales Bild der Interessen der Macht, mindestens so vielsagend wie das Positiv. 


Der Künstler mag im besten Fall Wahrheitssucher sein, der Markt sucht den Erfolg zum besten Preis, und macht also Wirkung zum Fetisch, während die (halb-) staatlichen Förderinstitutionen und Sender letztlich auf Legitimierung hoffen. In der Realität vermischen sich diese Ziele und Motivationen so, dass die meisten am Spiel beteiligten Parteien schwören könnten, dass sie „frei“ seien und nur der eigenen „Vision“ folgten.


Das Gefüge im deutschen Film ist besonders widersprüchlich; die besten Chancen haben Projekte, die sich gegen Kritik immunisiert haben, indem sie die Imitation marktgängiger Muster kulturell bemänteln. Das Motto heißt „ein bisschen Freiheit“ (gesungen von Nicole), kein Vogel soll zu hoch fliegen, denn die Kunst, das wissen wir nicht erst seit der der Pandemie, ist nur ein „kleiner Freund“.


Und das Publikum? Weiß nicht was es will, es sei denn es bekommt es. Es folgt einem Appetit, der authentisch ist, lässt sich aber leicht von den eigentlichen Bedürfnissen ablenken, zumal die Industrie gerne mit den „niedrigen Instinkten“ rechnet, vermeintlich weil sie zuverlässiger sind. Man muss die von der Vielzahl des Immergleichen geprägte Seherfahrung als Abrichtung verstehen, die man nicht nach Belieben hinter sich lassen kann. 


Noch immer ist die einzig akzeptierte Form einer Bittschrift drehbuchförmig, ein Zensurmittel insofern, als es bestimmte Vorgehensweisen ausschließt, und Teil eines bürokratischen Systems, das ausgerechnet zur Beurteilung audiovisueller Projekte (bewegte) Bilder und Töne ausschließt. Die Währung Vertrauen jedenfalls hat keine Gültigkeit, das bedauere ich am Meisten. 


Die folgenreichste Schranke, die noch dazu weitgehend unsichtbar bleibt, ist jene, an der Projekte abgewiesen werden. Ja, „Das Unverfilmte kritisiert das Verfilmte.“ wie Alexander Kluge richtig schreibt, aber wer kennt schon die unverwirklichten, die aufgegeben Projekte? Auch wäre es eine Untersuchung wert, wie sich Ablehnungen auf Folgeprojekte auswirken. Ich bezweifle, dass ein „Nein“ mutiger macht.


Die nächste Hürde ist das beschränkte Budget. Sofern man durch das Nadelöhr der Redaktionen, Förderkommitees oder privatwirtschaftlichen Entscheider geschlüpft ist, fliessen meist weniger Mittel als erhofft oder benötigt. Manchmal scheint die Summe auf dem Papier gerade noch vertretbar, aber zum Beispiel die Kreditkosten, Koproduktions- und Ländereffekte reduzieren das real verfügbare Budget. 


Unterfinanzierung ist hierzulande die Regel, nicht die Ausnahme. Wir produzieren sehr viele Filme für wenig Geld, auch weil unsere Gremien und Institutionen lieber viele Projekte mit kleinen Summen fördern als wenige mit großen; im Erfolgsfall will man dabei gewesen sein, im Misserfolgsfall war man nur einer von vielen. Aber natürlich ist Mangel auch in anderen Systemen gewissermaßen die Standardeinstellung. 


Es muss also gespart werden. Man ist angehalten, das Drehbuch zu kürzen. Was kürzt man? In der Regel „unwichtige” Szenen. Szenen, die nicht handlungsentscheidend sind. Dass sie womöglich als Resonanzräume nötig gewesen wären, weil das „Besondere“ erst in einer alltäglichen Rahmung zur Wirkung gelangt: geschenkt. Auch überdurchschnittlich teure Szenen werden gestrichen oder modifiziert, Schauwerte reduziert. 


Das führt manchmal zu guten Einfällen und einer Reduktion auf das Wesentliche, mindestens ebenso oft aber bedeutet es eine Verarmung, die der Zuschauer vielleicht ahnt, die die Filmemacher im Zusammenhang der PR-Arbeit aber leugnen müssen. Sparen heißt oft auch, die Zahl der Sprechrollen zu reduzieren. Und natürlich werden Drehtage gestrichen. Das bedeutet dann wiederum, dass man (in der Schauspielarbeit zum Beispiel) nicht dazu kommt, die Potentiale auszureizen.


Der Sparzwang klingt harmlos und selbstverständlich, die schwäbische Hausfrau grüßt wissend herüber, aber er bedeutet, dass beinahe jeder Film zur Ruine seiner Ambition wird. Ja, Beschränkungen setzen Kreativität frei, und der Beweis, was jeweils wertvoller gewesen wäre, ist oft schwer zu führen. Nur in der Summe, etwa wenn man einen ganzen Jahrgang deutscher Filme sichtet, wird deutlich, wie uniform die Mittel der Armut machen.

Apropos uniform: der in Hollywood (als einer durchschnittlich viel teureren Produktionsweise) vorherrschende Auflösungsstil, den David Bordwell intensified continuity style nennt und der automatisch mit dem Coverage-System einhergeht (eine Szene wird überlappend in verschiedenen Größen und Perspektiven gedreht), ist eine produzentisch durchgesetzte Verzögerung kreativer Entscheidungen, die zu einer großen stilistischen Angleichung geführt hat. Man möchte im Schneideraum - notfalls gegen die Vorstellungen der Regie - möglichst große Manipulationsmöglichkeiten haben. 


Auch die Wächter intellektuellen Eigentums hinterlassen ihre Spuren. Musikrechte fürs Kino sind wahnwitzig teuer und werden scharf überwacht, übrigens auch in „dokumentarischen” Filmen, und Produkte aller Art, von Postern bis hin zu Gebäuden, werden von einer Abmahnindustrie eingezäunt, auch wenn sie unbestreitbar Teil des öffentlichen Lebens sind und das Heraushalten aus einer Fiktion mitunter mit erheblichen Verrenkungen verbunden ist.


Aber die Deformation der Erzählweisen geht noch weiter, bis in die Tiefenstruktur des Mediums. Für viele Genres ist das Prinzip der Steigerung konstituierend, „more of the same“ gilt als Erfolgsrezept. Nehmen wir, nur zum Beispiel, den Zombiefilm. Er ist aus dem Wunsch geboren, billig hergestellte Gewalt als kommerzielles Argument zu maximieren, ohne gleichzeitig hinter die Barbarei genozidaler Erzählungen zurückzufallen. Der Zombie bietet einen Ausweg aus dem moralischen Dilemma, das Töten einerseits sanktionieren und es andererseits als Unterhaltungsmittel serialisieren zu müssen. Über diesem Widerspruch haben sich die Widersacher entmenschlicht; Konfliktideologie ist Marktideologie. 


Dass manche Klassiker des Genres eine kapitalismuskritische Tendenz haben, steht nur scheinbar im Widerspruch dazu. Der Kapitalismus hat kein Problem mit Kapitalismuskritik. Dass sich die „Objektivität“ des Marktes - alles, was sich gut verkaufen lässt, ist willkommen - mit Freiheit verwechseln lässt, hat mit der erwähnten Abrichtung zu tun.


Der Schneideraum schließlich liegt nahe als Ort des Gemetzels. Die verstümmelten, entschärften oder auf Standardmaß gekürzten Filme sind Legion. Und zuletzt ist Sichtbarkeit etwas, was im Markt mit ganz unterschiedlichem Nachdruck hergestellt werden kann.


Das nur als Skizze der engen Schluchten, die Filmemacher durchqueren müssen, und die vielen so normal vorkommen, dass sie sich die Ebene nicht vorstellen können.


(Geschrieben als Debattenbeitrag für das Regie-Kolloquium an der DFFB)

23 Juni, 2021

(Wieder-) Gesehen [15]

PEGGY SUE GOT MARRIED (Francis Coppola, USA 1986)

Obwohl oder weil Coppola für mich immer ein wichtiger Regisseur war, hatte ich einen Bogen um diesen Film gemacht – so geht es mir manchmal mit geliebten Regisseuren: ich will ihr „Andenken ehren”, indem ich mich an die „stabilen” Filme halte. Ich hatte gelesen, der Film sei „sentimental” und mitunter war er abfällig mit ZURÜCK IN DIE ZUKUNFT verglichen worden. Zu Unrecht, wie ich jetzt weiß. Der Film beginnt etwas schleppend mit der Schilderung desillusionierter Mittvierziger, die sich zu einem Highschool-Reunion treffen. Aber kaum ist Peggy in ihre Vergangenheit katapultiert – eine Einladung, das jugendliche Selbst zu erleben, ohne aber die Perspektive der Gegenwart, das Wissen um das Scheitern ihrer Ehe usw., zu vergessen – erweist sich der Film als gewitzte und witzige Meditation über das Was-wäre-wenn im Angesicht gelebten Lebens. Vielleicht liegt es an meinem Alter, aber mich hat die Rückkehr zu den Weichenstellungen der Jugend sehr bewegt, und Kathleen Turner wie auch Nicolas Cage liefern beide riskante, tief empfundene Darstellungen.


SALVO (Fabio Grassadonia & Antonio Piazza, Italien 2013)

Der Film beginnt mit einem Überfall, der zur Attacke auf den Zuschauer wird, so realistisch wirken die Details. In Folge soll Salvo (Saleh Bakri) den Drahtzieher umbringen. Dieser Auftrag: das Auflauern, Warten und Töten, ist unglaublich dicht inszeniert, atemlos spannend. In gewisser Weise erholt sich der Film davon nicht mehr, und will es auch nicht. Was folgt, hat eine andere Tonart, schlägt um in ein Märchen vom Killer, der sich in sein Opfer verliebt. Diese Geschichte ist schon oft erzählt worden; es ist vor allem das „unwillige” Opfer, gespielt von Sara Serraiocco, mit dem der Film hier vom breiten Pfad der Vorbilder abweicht.



LA TAULARDE (Audrey Estrougo, F 2015). 

Ein harter, aufwühlender Gefängnisfilm, und zugleich das Porträt einer Frau, deren Unbedingtheit zu gleichen Teilen Zumutung und Inspiration ist. Sophie Marceau, die ich oft unterschätzt habe - obwohl sie zum Beispiel auch in Pialats POLICE fantastisch war - spielt mit einer Bestimmtheit und vulkanischen Wut, die ihresgleichen sucht. Wenn es in der Welt gerecht zuginge, würden Freunde des Genres in aller Welt über diesen Film sprechen, statt über so müde Testosteron-Schleudern wie BRAWL IN CELL BLOCK 99, über den mir jedes Wort verschwendet scheint.



WILD RIVER (Elia Kazan, USA 1960)

Verstörend - in der Art, wie hier Gewalt und Agonie der Südstaaten plastisch werden - und herzzerreißend in der Schilderung der Gefühle zwischen Entkommen-wollen und einer Zuneigung, die bedroht und bedrohlich ist. Lee Remick ist ein Wunder, man möchte ihr nach diesem Film ein Denkmal errichten. Große, tränenreiche Empfehlung.



PANIC IN THE STREETS (Elia Kazan, USA 1950)

Ich dachte immer, ich sei kein Kazanianer, aber offenbar habe ich nur die falschen Filme gesehen. Dieser spannende, ausgesprochen düstere noir über die „Kontaktverfolgung“ eines Mordopfers, das nicht an, aber mit der Pest gestorben ist, ist Kazans respektableren Klassikern weit überlegen, finde ich. Die Intensität, mit der Palance einen kleinen, völlig verkommenen Gangster spielt, dessen manipulative Tricks ebenso offensichtlich wie wirksam sind, muss man gesehen haben. Und Widmark, ein unterschätzter Schauspieler, der auch in positiven Rollen etwas beunruhigend toxisches hat, ist magnetisch als Arzt, der zusammen mit der Polizei nach Wegen sucht, die Infektionskette zu unterbrechen. Ein Film, der mich nicht nur in seiner Aktualität, sonder vor allem durch seine kraftvolle Inszenierung der Körper im Raum beeindruckt hat.