17 November, 2017

Unter dem Tisch

Bevor ich Film zu studieren begann, heuerte ich als Praktikant an bei einer großen Münchener Filmfirma. Vom ersten Tag an wurde ich an der Rezeption eingesetzt und hatte mich bald damit abgefunden, dass die Versprechungen, was ich alles würde lernen können an diesem „Knotenpunkt der deutschen Filmindustrie”, leer waren. 

Eines Tages rief der Chef an und orderte mich in sein Büro. Es war nicht der kleinliche Abteilungsleiter, mit dem ich sonst zu tun hatte, sondern der großspurige, mindestens so unbeliebte Chef der Gruppe, der einen Sportwagen fuhr und den man ab und an schreien hörte, obwohl sein Büro im gegenüberliegenden Flügel lag. 

Er lehnte am Fensterbrett (krebsrote Haut, leger geöffnetes Hemd) und eröffnete mir, dass er wünsche, dass ich sein Büro saubermache. Ich sagte ihm, dass das nicht zu meinen Aufgaben gehöre. Statt einen plausiblen Grund zu präsentieren eskalierte er unverzüglich: wenn ich mich weigere könne ich das Praktikum gleich in diesem Moment beenden, brüllte er. 

Widerstrebend holte ich den Staubsauger aus der Kammer und begann zu saugen. Und dann wurde es seltsam. Er setzte sich auf den Schreibtisch und dirigierte mich. Dort sei noch ein Fusselchen, und hier... ob ich zu blöd sei, das zu sehen. „Hier, unter dem Schreibtisch…” Ich wusste nicht recht, wie ich die Sache aufzufassen hätte – und kroch unter den Tisch. Und er – machte weiter. 

Sah er mir auf den Hintern? Möglich. Da ich aber nun schon einmal die Dummheit begangen hatte, auf Knien vor ihm herzurutschen, suchte ich meine Ehrenrettung darin, mir die Wut über die Erniedrigung nicht anmerken zu lassen – und tat also, als sei das alles nichts, fragte sogar, ob er noch andere Staubkörner für mich ausgemacht hätte. Diese gespielte Nonchalance schien ihn zu ärgern, denn er intensivierte die Gemeinheiten. Einem Assistenten gegenüber, der Unterlagen brachte, machte er sich lustig über mein Ungeschick, meine Dummheit. Die beiden Herren versuchten sich mit blöden „Anweisungen” zu unterbieten. 

Vielleicht nicht untypisch für Erfahrungen dieser Art ist die Tatsache, dass ich mich an kein Ende erinnere. Kein mutiges „Es reicht jetzt” von meiner Seite. Ich war in erster Linie überrumpelt, beschämt auch von meinem Mangel an Widerstand. Und nein, es kam zu keinen Berührungen. Vielleicht war das Ganze nichts als die Rache* des cholerischen Alkoholikers, der er war, ganz sicher aber erregte ihn die Grenzüberschreitung, das Ausagieren seiner Macht.

Ich musste oft an diese kleine Misshandlung denken in den letzten Wochen. Wäre der Mann sexuell handgreiflich geworden, hätte ich mich zur Wehr gesetzt? Ich hoffe es. An körperlicher Kraft fehlte es mir nicht. Aber was mich diese Erfahrung vor allem gelehrt hat ist, dass Situationen des Missbrauchs so „gut” funktionieren, weil sich viele Opfer selbst neutralisieren. Die Scham wendet sich gegen sie. Ich jedenfalls habe mich – und mit wachsender Dauer der Überschreitung umso mehr – selbst beschuldigt, falsch auf die Situation reagiert zu haben. Was wäre geschehen, wenn ich nach der Brüllattacke einfach gegangen wäre? Oder, mindestens, nicht unter den Tisch gekrochen wäre? Nichts, höchstwahrscheinlich. Warum habe ich es dann doch getan? Genau: Das ist die falsche Frage. 

*
(als er mich Tage zuvor beauftragt hatte, eine gigantische Monatsration Gin zu kaufen, waren meine Rückfragen eindeutig missbilligend gewesen)

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