04 September, 2017

Requisiten für ein tragisches Ende



Im Bild: Die erstaunliche Loane Balthasar in der Titelrolle.

Anmerkungen zu Katharina Wyss' DFFB-Abschlussfilm* SARAH JOUE UN LOUP-GAROU (CH, D 2017), der gestern in Venedig Premiere gefeiert hat.

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Man könnte sagen: ohne Paranoia keine Erzählung. Ohne den Tunnelblick der Leidenschaft, ohne die Lampe, die aller Dinge Schatten in eine Richtung treibt, kann so etwas Anfechtbares wie eine Geschichte nicht entstehen. Sarah möchte ihr Leben selbst beleuchten, und also entscheiden, was im Dunkel bleiben soll. Womit sie zu kämpfen hat sind dabei weniger die Abwehrmechanismen der Anderen, die Sorgen der Eltern, Lehrer oder Geschwister, als die Konkurrenz verschiedener Geschichten oder Lichtquellen. Sie probiert einige aus, sucht lange nach den passenden Requisiten für ihr tragisches Ende und kommt letztlich über romantisches Stückwerk nicht hinaus. Werwolf oder Liebestod? Romeos Dolch oder doch das Märtyrium einer Heiligen? Das ist beinahe ein bisschen egal – und darin liegt gewissermassen der Witz des Films, über den auch die Protagonistin lachen kann. Das großartige an Katharina Wyss’ Film ist diese Transparenz: zwischen dem herbeigesehnten und den wirklichen Gefühlen ist irritierend viel Platz, aber nicht im Sinne eines „Luxusproblems”. Die Empfindsamkeit ist echt, der Vulkan des Unbewussten brodelt, die Gedanken wollen wirklich werden. Was fehlt ist das Vehikel. Wie Sarah wollen wir alle heimlich vom Schicksal regiert werden, würden uns aber nie für das Ergebnis entscheiden. Auch deshalb muss Sarah vom Ende her denken. Wyss’ Film gelingt es, uns zu Zeugen einer Entwicklung zu machen, die an hundert Stellen eine andere Richtung nehmen könnte. Fast scheint es, als würde Sarah gegen eben jene Offenheit ankämpfen, die den Film selbst auszeichnet: sie kämpft gegen die Tatsache, dass ihr Leben aus zu vielen Geschichten besteht, um ein notwendiges Ziel zu haben. Dabei gibt es Spuren des Missbrauchs, eine bedrohliche Nähe zum Vater, die ein weniger klarsichtiger Film mit Sarahs Sehnsucht kurzgeschlossen hätte. Aber Wyss’ Sarah ist kein Opfer, oder jedenfalls ist das nur eine von vielen Rollen, in der sie sich gefällt. Ihre Rührung rührt sie, gerade weil sie gelernt hat, der eigenen Wahrnehmung zu misstrauen. Nur der Konstruktion des Gefühls kann sie sich hingeben. Darin offenbart sich womöglich ein allgemeineres, sehr zeitgenössisches Thema: die fluiden Rollenbilder einer Gesellschaft, die nicht mehr in Handgriffen und Körperhaltungen eingeübt, sondern in einer zunehmend entgrenzten Medienarbeit zuhause und im Büro immer wieder probiert und verworfen werden, für eine endlos nahende und doch nie zur Aufführung gelangende Performance. Sarahs Widerstand gegen ein solches Verwandlungsmanagement  – in der Schultheatergruppe und im Leben – mag romantische (und also anachronistische) Formen suchen, im Kern zielt er auf die Wirklichkeit eines letzten, unwiederholbaren Moments.

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Damit keine Missverständnisse entstehen: Der Film ist lange vor meiner Zeit an der DFFB konzipiert und gedreht worden. Ich war in meiner Funktion als Leitender Regiedozent an der DFFB aber einige Male bei Testvorführungen. Der Text entstand auf Wunsch Katharina Wyss' ursprünglich für das Presseheft. Ich hoffe sehr, dass es dieses aufregende Debüt regulär ins deutsche Kino schaffen wird.

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