07 Mai, 2017

Cannes 2005

Wir kommen an im Regen. Die Empfangsdame, im Uniformkleid, fröstelt. Unser Fahrer sieht aus wie ein Schauspieler – aber ich komme nicht auf den Namen. Immer, wenn er mir fast einfallen will – fragt irgendjemand etwas. Er steckt die Wimpel mit der goldenen Palme an den Wagen, wie für einen Staatsbesuch: Das Kino wird hier ernst genommen. Wenn jemand in unsere Limousine gafft, schaue ich staatsmännisch zurück. So wirkt das Außen nach Innen. Zuerst einmal sehe ich nichts von der Croisette. Nichts vom Meer. Keine Palmen. Ich sitze im Foyer eines Hotels und gebe Interviews. Es sind so viele, dass sie alle ineinander verschwimmen. Viele deutsche Journalisten fragen, warum meine Filme in Frankreich gemocht werden. Es klingt, als müsste ich mich entschuldigen. Ich höre mich von der französischen Filmkultur erzählen, von ihrer Neugier auf das Neue. In Deutschland würde man Filme zuallererst inhaltlich diskutieren. Todesstrafe, Drogensucht, Gewalt an Schulen. Aber das Kino ist keine Partei, sage ich. Der wahre Film ist ein Abenteuer, ohne Gebrauchsformel. Da treffe ich mich mit den Filmbossen des alten Hollywood: Wer etwas zu sagen hat, soll ein Telegramm schreiben. Ich mache Filme. Cannes ist seine Legende. Die wirkliche Wirklichkeit dieser kleinen Stadt am Meer ist nicht der Rede wert. Weder die Croisette, noch die Luxushotels, und schon gar nicht der Festivalpalast verdienen, schön genannt zu werden. So, wie die Kinos meiner Kindheit schäbig waren, ist Cannes protzig. Alles dreht sich um Status. Wer hat den besten Badge? Die tollste Einladung? Die größte Limousine? Auf Partys muss man fürchten, für einen wichtigeren Gesprächspartner verlassen zu werden. Oder für einen anderen „Termin”. Das Festival ist eine große Maschine. Die Filme aus dem offiziellen Programm sind nur Anlass und Feigenblatt, aber für uns Regisseure natürlich das Eigentliche. Meine Premiere geht spurlos an mir vorüber. Sie ist vorbei, bevor ich sie so richtig wahrgenommen habe. Der Applaus war sehr freundlich. Nur sechs Leute sind aus dem Kino gelaufen, sagt meine Produzentin. Das ist ein guter Erfolg, lerne ich. Aber so richtig begreife ich es erst, als ich später in dem Beitrag aus Ungarn sitze, aus dem die Leute geradezu strömen, und zwar von der dritten Minute an. Das ist das intoleranteste Publikum der Welt. Und wer einmal hier war, versteht auch, warum: Die fortwährende Begegnung mit anderen Menschen und Filmen, das ständige Hasten und Telefonieren, die Partys und Verhandlungen zehren die Leute aus. Man will hier von einem Film entweder gepackt, oder in Ruhe gelassen werden. Die Kritiken am nächsten Tag sind gut. In Libération schreibt Gérad Lefort, an der Erneuerung des deutschen Kinos könne angesichts meines Films kein Zweifel bestehen. Le Monde druckt an diesem Tag nur zwei Filmbilder: Eines von Lars von Triers’ MANDERLAY, eines von FALSCHER BEKENNER. Variety, für den amerikanischen Film so wichtig wie die Bibel für die Christen, lobt meine Arbeit und begeistert sich für Constantin von Jascheroff, meinen Hauptdarsteller, der den Film „effortless”, ohne Anstrengung, trage. Ich finde, sie haben Recht. Und auch die Cahiers du Cinema, das Neue Testament sozusagen, hat Gefallen gefunden – und verknüpft den Film assoziativ mit Horror und James Dean. Und dann höre ich das Schönste: Abbas Kiarostami mag den Film!


Für meinen Hauptdarsteller Constantin von Jascheroff ist Cannes das Paradies. Überall Partys, schöne Frauen, dicke Autos. Während er sich in das Getümmel wirft, ziehe ich mich eher zurück. Mir wird es nach zwei Tagen Interviews und diversen Treffen langsam zu viel. Auch meine nimmermüde Produzentin Bettina Brokemper sehnt sich nach Hause. Wir haben seit September – dem Beginn der Drehvorbereitungen – durchgearbeitet. Niemand hätte gedacht, dass wir es in diesem Wahnsinnstempo nach Cannes schaffen würden. Und der einzige, der das jetzt wirklich feiert, ist Constantin. Eigentlich hatte ich gehofft, viele Filme sehen zu können. Den neuen Gus van Sant. Den Film der Dardennes. Den neuen Haneke. Und und und. Und nun habe ich diese wundervolle Plastikkarte am Hals baumeln, freien Zugang zu den vielleicht besten Filmen des Jahres – und habe keine Zeit. Es ist ein Jammer. Aber natürlich, wir sind ja nicht zum Spaß hier. Der Film will „kommuniziert” werden. „Wie sind Sie auf die Idee gekommen, diesen Film zu machen?” Tja. Auf dem Arte-Boot bin ich dann mit meinem Freund und Revolver-Mitstreiter Benjamin Heisenberg, der seinen beeindruckend klaren Debütfilm SCHLÄFER auch in Un Certain Regard präsentiert. Dass wir beide in Cannes sind, ist wirklich fantastisch. Wir fühlen uns wie Abgesandte eines neuen deutschen Films. Unser Segment der Arte-Sendung ist dann auch viel sagend mit „Nouvelle Vaque Allmande” überschrieben. Aber Zeit, Licht ins diffuse Dunkel dieses Begriffes zu bringen, haben wir nicht. Wichtig ist, dass wir da sind, unsere Gesichter zeigen – und ein Revolver-Heft, unser Filmmagazin, in die Kamera halten. Valeska Grisebach, die geschätzte Kollegin, schreibt uns per SMS aus Berlin, dass wir „fesch” aussehen. Na dann! Schon geht es weiter, auf das Un Certain Regard-Dinner... Am nächsten Morgen kommt noch einmal Stimmung auf. Wir haben den Film in die USA und nach Frankreich verkauft! Einen Abschluss mit einem deutschen Verleih gibt es noch nicht. Aber wir sind guter Dinge, als wir aufbrechen. Die Welt hat unseren Film gesehen. Er hat den Härtetest bestanden. Und das ist erst der Anfang.


Geschrieben 2005 für die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Der Text erscheint in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift La Septième Obsession (in französischer Übersetzung von Jerome d'Estais), zum 70. Geburtstag des Festivals.

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