02 Juni, 2016

Ein Gespräch über Bäume

Zurück von einem Abendessen mit Tankred Dorst und Ursula Ehler. Toll, der Reichtum an Erfahrung, die Neugier nicht so sehr auf Geschichten als auf die Eigenart der Menschen, ihre störrische Natur. Immer geht es um Zeitläufte, die sich in der Erzählung nur mit Mühe zu Zöpfen flechten lassen, nicht großgeschriebenes Schicksal, eher Nornenfäden, für sich harmlos, allzu menschlich, aber dann wird ein Strick daraus, an dem der Jude hängt. Das Ergebnis ist grausam, das Detail oft komisch, unsinnig, wahnwitzig. 

Diese Sichtweise ist mir sehr nah, auch wenn ich die Gefahr der Entpolitisierung sehe. T. ist kein Relativist, beileibe nicht, aber das Prinzip der Verantwortung wird an den Rändern unscharf, wenn man alles im Makro betrachtet. 

Die beiden haben von einer Begegnung mit Henriette v. Schirach erzählt, die als vernachlässigtes Mädchen ihres vielverreisten Fotografen-Papas Adolf Hitler als Sagenonkel kennengelernt hat. Diese Szene: das Kind, das nicht üben will, auf dem mit Büchern erhöhten Klavierschemel, und der fremde Mann, der in Ruhe die internationalen Zeitungen lesen möchte (die bei dem berühmten Fotografen täglich eintreffen) und deshalb einen Handel mit dem Mädchen macht: „Du übst, bis ich mit der Lektüre fertig bin, dann erzähl ich dir die Heldensagen.” ...diese Szene hat es T. und U. angetan.

Wenn man dann nachliest, dass H. für eine Weile Hitlers Sekretärin war, später mit ihrem Mann, der „Statthalter” war, in der Wiener Hofburg residierte, während Tausende Juden und Roma deportiert wurden und H. auch nach dem Krieg viel Nettes über Hitler zu sagen wusste, erscheint die Erzählung von dem Mädchen, das nicht Klavier üben will, irrelevant. Aber gleichzeitig hat das Geheimnis ihrer Person sicher mehr mit dieser Szene zu tun als mit der „großen” Geschichte und den Privilegien der Parteibonzen. 

Nur: verdient sie diese Aufmerksamkeit? T. und U. scheinen zu glauben, dass sie jeder Mensch verdient. Ich denke, man kann das nicht pauschal beantworten, aber die Verantwortung des Erzählers hat durchaus auch mit Verhältnismäßigkeit zu tun. Es geht um Maßstäbe. Das, was passiert ist, muss mit dem Heute verglichen, vermessen werden. Und natürlich ist es unverhältnismäßig, an das traurige Mädchen am Klavier zu erinnern angesichts der Millionen, die nicht nur keine Klavierszene, sondern überhaupt keine (individuelle) Geschichte haben, oft noch nicht einmal einen Namen. Ich meine damit die Millionen Toten, aber auch die Marginalisierten unserer Zeit. 

Brechts berühmter Satz: Was sind das für Zeiten, wo / Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist / Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt! ... scheint nahe zu legen, dass es andere Zeiten geben könnte, in denen sich von „Bäumen” sprechen lässt. Leben wir in solchen Zeiten? Hat es sie je gegeben?

Gleichzeitig, und scheinbar im Widerspruch dazu, finde ich, dass wir (wir Enkel) von den Tätern erzählen müssen. Nicht vom Kopf her aber stinkt der Fisch, die „normalen” Verbrechen muss man verhandeln. Übrigens ist damit nicht (nur) NS-Geschichte gemeint. 

Und die Opfer? So problematisch es ist, als Täter-Enkel von schönen guten Opfern zu erzählen: was wäre die Alternative? Wie könnte man den Widerspruch aufheben? Indem man von Situationen erzählt, die vor oder zwischen der Weggabelung liegen, die die Menschen in Täter und Opfer sortiert? Es ist eine bittere Ironie, dass wir von Tätern differenzierter erzählen (könnten), während die Idealisierung der Opfer so geschmacklos ist wie die Betonung ihrer Fehler infam.


(Aufgeschrieben am 6.04.2015)

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