30 Dezember, 2010
Unknown Pleasures #3
Unknown Pleasures geht in die dritte Runde. Vom 1. - 16. Januar 2011 im Babylon Mitte (Berlin) gibt es viele Entdeckungen zu machen in Sachen amerikanisches unabhängiges Kino - kuratiert übrigens von Revolver-Mitstreiter Hannes Brühwiler.
Besonders selten zu sehen: die Filme von Thom Andersen (LOS ANGELES PLAYS ITSELF, 2003) und John Gianvito (PROFIT MOTIVE AND THE WHISPERING WIND, 2007), denen - sehr zu recht - ein Special Tribute gewidmet ist.
Herzlich empfehlen kann ich auch PUTTY HILL von Matthew Porterfield (im aktuellen Revolver, Heft 23, beschreibt der Regisseur die Entstehung dieses Projekts - das Covermotiv des Booklets stammt ebenfalls aus dem Film), der für mich zu den tollen Überraschungen im Forum 2010 gehört hat.
29 Dezember, 2010
Rauchzeichen
BELLOW (GB 2010; 11'30'')
Ein - vor allem fotografisch - hochinteressanter Kurzfilm des englischen Filmemachers Christopher Tirrell (Regie, Kamera, Schnitt), den man aber in jedem Fall groß sehen sollte.
28 Dezember, 2010
Milde Sorte
In jedem anderen Medium wäre es absurd: Inhaltswarnung auf einer DVD (in diesem Fall die australische Kennzeichnung für Renoirs BOUDU SAVÉ DES EAUX).
26 Dezember, 2010
Utopia
Fünf Stellvertreter ...
Gestern habe ich zum ersten Mal John Hughes' THE BREAKFAST CLUB (USA 1985) gesehen. Als utopischer Film („Alle Menschen werden Brüder”) ziemlich überzeugend, finde ich. Besonders hinreissend fand ich die ligne claire-artige Inszenierung, die die Charaktere überzeichnet, ohne sie in ihrer grundsätzlichen Glaubwürdigkeit zu beschädigen. Die rhetorischen Pirouetten, die Hughes seinen fünf Stellvertretern abverlangt, lassen an einen Gesellschaftstanz denken, der seinen ideologischen Boden überhöht, statt ihn zu negieren. Großartig.
24 Dezember, 2010
Unsichtbare Arbeit
Naomi Schenck, eine Szenenbildnerin, hat ein Buch über den unsichtbaren Teil ihrer Arbeit veröffentlicht. Ihr „Archiv verworfener Möglichkeiten” besteht, einerseits, aus Fotografien von Schauplätzen, die letztlich keine Verwendung fanden in den Filmen, für die sie recherchiert wurden - und andererseits aus höchst unterschiedlichen Texten von Autoren, Filmleuten, Künstlern *), die Schenck und Herausgeber Ulrich Rüdenauer um eine „Antwort” baten. Eine faszinierende Art, mit dem schönen Ausschuss umzugehen, den die filmische Arbeit notwendig produziert.
*) Und zwar: Marcel Beyer, Barbara Bongartz, Helmut Böttiger, Dorothea Dieckmann, Heinz Emigholz, Saskia Fischer, Arno Geiger, Wilhelm Genazino, Dagrun Hintze, Thomas Kapielski, Sandra Kellein, Georg Klein, Gert Loschütz, Michaela Mélian, Andreas Neumeister, Rolf Nohr, Annette Pehnt, Kathrin Röggla, Felix Römer, Ulrich Rüdenauer, Ulrike Almut Sandig, Sabine Scho, Lutz Seiler, Bernd Stiegler, Hans Thill, Stephan Thome, Ina Weisse, Wim Wenders, Roger Willemsen, Hubert Winkels, Frank Witzel, Jens Wonneberger, Norbert Zähringer, Feridun Zaimoglu, Ulf Erdmann Ziegler und Hanns Zischler.
23 Dezember, 2010
Prosper Mérimée
Ich lese zur Zeit Novellen von Prosper Mérimée, eine ganz zufällige Lektüre übrigens, und bin fasziniert von der pointierten Schilderung zwischenmenschlicher Details. Eine Kostprobe aus „Das zwiefache Verkennen” (La double Mèprise, 1833):
Solche beziehungsreichen „Kleinigkeiten” - aus denen diese Novelle gewebt ist - in einer filmischen Erzählung zu verwirklichen, ohne disproportionalen Aufwand zu treiben (oder es eben dialogisch / im Voice-over auszudrücken), scheint mir beinahe unmöglich.
Manchmal neide ich der Literatur ihre Möglichkeiten.
„Die Mütter empfanden nicht die geringste Besorgnis, wenn sie ihn mit ihren Töchtern plaudern oder sogar vertraulich flüstern sahen; denn die jungen Mädchen pflegten über seine Bemerkungen immer wieder in lautes Lachen auszubrechen, und diejenigen Mütter, deren Töchter besonders schöne Zähne hatten, erklärten sogar, dieser Monsieur Darcy sei ein ungemein liebenswürdiger Mensch.”(Zitiert nach der Manesse-Ausgabe von 1946, ins Deutsche übertragen von Ferdinand Hardekopf)
Solche beziehungsreichen „Kleinigkeiten” - aus denen diese Novelle gewebt ist - in einer filmischen Erzählung zu verwirklichen, ohne disproportionalen Aufwand zu treiben (oder es eben dialogisch / im Voice-over auszudrücken), scheint mir beinahe unmöglich.
Manchmal neide ich der Literatur ihre Möglichkeiten.
22 Dezember, 2010
Arsenal Online
Die Arsenal-Datenbank ist seit heute online.
„Filme aus aller Welt, in allen Längen und Genres spiegeln internationale Geschichte und Gegenwart aus der Sicht einer fast 50 Jahre alten Institution. Ein Teil der Filme und Videos ist ausleihbar, die anderen können bei uns gesichtet werden. Die Datenbank befindet sich im Aufbau und enthält bislang nur eingeschränkt Bildmaterial bzw. Informationen zu Inhalt und Kontext der Werke. Wir arbeiten daran, sie sukzessive zu erweitern.”
„Sämtliche Katalogblätter der im Forum gelaufenen Filme aus den Jahren 1971 bis 2002 wurden digitalisiert und in das Archiv der Forum Webseite eingepflegt. Die PDFs der Katalogseiten seit 2003 finden sich dort wie gehabt eingebettet in die archivierten Web- und Programmseiten der einzelnen Jahrgänge.”
(Zitiert nach dem Arsenal-Newsletter)
„Filme aus aller Welt, in allen Längen und Genres spiegeln internationale Geschichte und Gegenwart aus der Sicht einer fast 50 Jahre alten Institution. Ein Teil der Filme und Videos ist ausleihbar, die anderen können bei uns gesichtet werden. Die Datenbank befindet sich im Aufbau und enthält bislang nur eingeschränkt Bildmaterial bzw. Informationen zu Inhalt und Kontext der Werke. Wir arbeiten daran, sie sukzessive zu erweitern.”
„Sämtliche Katalogblätter der im Forum gelaufenen Filme aus den Jahren 1971 bis 2002 wurden digitalisiert und in das Archiv der Forum Webseite eingepflegt. Die PDFs der Katalogseiten seit 2003 finden sich dort wie gehabt eingebettet in die archivierten Web- und Programmseiten der einzelnen Jahrgänge.”
(Zitiert nach dem Arsenal-Newsletter)
19 Dezember, 2010
Theorie der Praxis
Heft 23 ist seit ein paar Tagen im Handel. Die aktuelle Ausgabe enthält (wie erwähnt) Gespräche mit Claire Denis, Jean-Pierre + Luc Dardenne, Lutz Dammbeck sowie Texte von Miguel Gomes und Matthew Porterfield (über die Entstehung ihrer letzten Filme).
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Wenn ich erzähle, wie Revolver gemacht wird, ernte ich oft Unglauben. Die Zeitschrift nämlich entsteht - seit über 12 Jahren - ohne Bezahlung, ohne Werbung, ohne Auftrag. Die Herausgeber *), sämtlich Filmemacher/innen, folgen einfach ihren Interessen, indem sie Filmarbeiter/innen, einladen, ihre Mittel zu reflektieren - in Form von Gesprächen oder gelegentlich auch in Texten.
Wir fühlen uns einem Kino verbunden, das formal herausfordernd ist - und persönlich in seiner Perspektive. Ein weitergehendes Programm gibt es nicht. Viele Interviews ergeben sich, sind Gelegenheiten. Andere werden lange vorbereitet oder sind mit Reisen verbunden. Gelegentlich drucken wir Archivsplitter, historische Manifeste oder Positionen. Nur Kritiken oder filmhistorische Abhandlungen finden sich keine.
Immer wieder veröffentlichen wir auch Materialien, die uns zugetragen werden. Die Zeitschrift versteht sich ausdrücklich als offenes Projekt, will einen Beitrag leisten zu einer „Theorie der Praxis” des Films. Im engeren Sinne findet bei Revolver kein Journalismus statt. Eher verstehen wir uns als Forum derer, die Filme machen.
Falls Sie Interesse haben, in diesem Sinne etwas beizutragen, ein Interview zu machen oder einen Text über ihre filmische Praxis zu schreiben, können Sie sich gerne bei uns melden. Wir freuen uns. Kontakt: com(at)revolver-film.de
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Man kann Revolver übrigens auch verschenken. Bestellen / Abonnieren: bei der Edition Text + Kritik, auf unserer Website www.revolver-film.de, oder direkt bei ihrem Buchhändler (Revolver erscheint im Verlag der Autoren. Immer: ISSN 1617-6642. Heft 23: ISBN 978-3-88661-333-5).
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*) Zur Zeit sind das, in alphabetischer Reihenfolge: Jens Börner, Benjamin Heisenberg, Christoph Hochhäusler, Franz Müller, Nicolas Wackerbarth und Saskia Walker. Ausserdem gehören Hannes Brühwiler und Marcus Seibert der Redaktion an.
17 Dezember, 2010
Fleurs d'Allemagne
Aktuell sind Benjamin Heisenbergs DER RÄUBER, Maren Ades ALLE ANDEREN und, seit dieser Woche, mein Film UNTER DIR DIE STADT in französischen Kinos zu sehen. Anlass für die Cahiers du Cinéma, ein - lesenswertes - Dossier zu unseren Filmen zusammen zu stellen:
Hier zwei (im Netz lesbare) Reaktionen auf SOUS TOI, LA VILLE - wie mein Film in Frankreich heisst: Le Monde, Les Inrockuptibles.
Deutscher Kinostart: 31. März 2011.
15 Dezember, 2010
Cargo # 8
Gerade neu erschienen: CARGO # 8.
Aus dem Inhalt:
Entzifferungsarbeit: US-Serien 2010: RUBICON, LOUIE, GLEE uvm. ++ Jacques Doillon im Gespräch ++ Texte zu Ingmar Bergman, Stanley Cavell, Lee Child, Allan Dwan, Xavier Beauvois und Frederick Wiseman ++ Matchfactory: Was macht ein Weltvetrieb? ++ Jonathan Rosenbaum im Gespräch ++ u.v.a.
Besonders lesenswert: Das Doillon-Interview.
Fourteen Actors Acting
Sehenswert: 14 (stumme) Schauspielminiaturen auf nytimes.com, inszeniert von Solve Sundsbo, hier zum Beispiel James Franco. (Die anderen Spieler: Javier Bardem, Natalie Portman, Jesse Eisenberg, Chloë Moretz, Matt Damon, Michael Douglas, Jennifer Lawrence, Noomi Rapace, Vincent Cassel, Anthony Mackie, Robert Duvall, Lesley Manville, Tilda Swinton). Musik: Owen Pallett.
14 Dezember, 2010
Hexenwerk
Das Kino des Unheimlichen hat mich immer interessiert. Nicht so sehr der Horror der gemarterten Körper, nicht Slasher-, Zombie- oder Creaturemovies, sondern das, was man altmodisch Spukgeschichten nennt. Filme also über die Angst und die - gesellschaftlichen / persönlichen - Verformungen, die sie hervorbringt. Filme auch über die Bühnen der Furcht: Speicher, Keller, Kammern, Häuser und Gehäuse des Unbehausten.
Wie es der Zufall will - oder mein Unbewusstes - habe ich mir in den letzten Tagen vier sehr unterschiedliche Filme angesehen, die alle mit Hexerei zu tun haben, dabei aber denkbar unterschiedliche Ansätze verfolgen (kann es da verwundern, dass mich zur Zeit ein Hexenschuss plagt?). Nachfolgend ein paar mehr oder wenige lose Gedanken zu den Filmen.
*
VREDENS DAG (Carl Theodor Dreyer, Dän. 1943)
Der Älteste der vier Filme ist bestimmt auch der Erschütterndste, und das nicht, weil er den Schockeffekt suchen würde. Im Gegenteil meidet er Genrebezüge, erzählt glaubwürdig und historisch verortet von der Hexenverfolgung im Dänemark des 17. Jahrhunderts, in der sich die Entstehungszeit (das Dänemark unter deutscher Besatzung) ebenso wieder finden lässt wie unsere Gegenwart. Beunruhigend ist vor allem das Neben- und Ineinander von Vernunft und Angst, von Sympathie und Schwäche, von wahrem Glauben und der Heuchelei, die dem Einen die Haut rettet und der Anderen den Tod bringt. Dreyer spart die Schönheit, das Menschenmögliche dabei nicht aus, seine Schilderung frisch entflammter Liebe gehört zu den ergreifendsten Passagen des Films - in einer Tonart, die in ihrem Lyrizismus der Naturschilderung an Murnaus SUNRISE denken lässt - und dass auch diese Liebe nicht gefeit ist gegen den Virus der Angst, lässt den Rest des Films noch dunkler und pessimistischer wirken (ohne die Liebesgeschichte deshalb zu einem rhetorischen Kunstgriff zu machen). Unbedingt ansehen!
(Bild via)
*
THE QUEEN OF SPADES (Thorold Dickinson, GB 1949)
Dickinson, der die Regie des Films wenige Tage vor dem Dreh übernommen haben soll (und dessen andere Filme ich leider nicht kenne) ist seinem Erzähltemperament nach ein Spieler - was dem Stoff sehr zu Gute kommt. Alles ist hier künstlich, Behauptung, von der stilisierten Studiodekoration bis zum lustvoll überzeichneten Schauspiel, aber unter seiner Regie wird es auf magische Weise lebendig, schaurig-schön, mitunter ausgesprochen furchterregend, ohne je den gesetzten Genre-Rahmen zu verletzen. Anton Walbrook (ursprünglich Adolf Anton Wohlbrück, einer der wenigen deutsch-jüdischen Schauspieler, die ihre Karriere im englischen Exil fortsetzen konnten - z.B. als Lermontow in Powell & Pressburgers THE RED SHOES) und Yvonne Mitchell in den Hauptrollen gelingt es, dem Märchenton dieser Puschkin-Bearbeitung eine existenzielle, abgründige Note beizumengen, die den Film zu einer überraschend emotionalen Wirkung verhilft, während der Rest der barocken Besetzung - Edith Evans als Hexe! - komödiantisch schillert, ohne übrigens deshalb den Grusel zu mindern (ein Double Feature mit Lynchs vergnüglichen MULLHOLLAND DR. kann ich empfehlen).
*
SECRET CEREMONY (Joseph Losey, GB 1968)
Losey gilt so Manchem als unsteter auteur, und wirklich wirkt dieser Film einigermassen abseitig neben THE SERVANT, ACCIDENT oder THE GO-BETWEEN, seinen „anerkannten” Meisterwerken, nicht zufällig alle in Zusammenarbeit mit Harold Pinter entstanden. Aber bei allen Vorbehalten, die ich gegenüber SECRET CEREMONY habe: die Trennung zwischen dem guten und dem schlechten Losey ist wahrscheinlich ebenso unsinnig wie die Erwartung, ein großer Regisseur müsste zuverlässig sein. Nicht nur ist er hier ganz offensichtlich im Vollbesitz seiner Kräfte - filmhandwerklich gesprochen - die Untiefen, die irritieren, finden sich auch in seinen besten Filmen (zu denen ich, neben den oben genannten, unbedingt auch MR. KLEIN rechnen würde). Das Problem ist, dass Loseys Esoterik, die in den anderen Filmen nur gelegentlich aufblitzt, im exzentrischen Rahmen von George Taboris Drehbuch wuchern darf. Was meine ich mit Esoterik? Auf die Gefahr hin, mich mit meiner Definition lächerlich zu machen: das Ornament angesichts der einfachen Tatsachen des Lebens. Der Film jedenfalls ist ornamental auf jeder Ebene („a film trying too hard to be misunderstood”
wie Gary Tooze richtig schreibt), und findet auch da, wo es um Missbrauch, Gewalt und Tod geht, keine Klarheit. Ich weiss, das ist eine einigermassen vage moralisch-ästhetische Kategorie (Rivettes Text "Über die Niedertracht" lässt grüssen), aber das ästhetische Raffinement dieser verworrenen, halb psychologischen, halb übernatürlichen Filmerzählung wird eben immer da unerträglich, wo es ans Eingemachte geht. Insofern enthält der Film für jeden Filmemacher schmerzhafte Lehren - auch ein Schrecken, den man im Kino erleben kann.
Lesenswert: Glenn Kennys Text auf Mubi.
*
SUSPIRIA (Dario Argento, I 1977)
Argento die Unverhältnismässigkeit seiner Mittel vorzuwerfen wäre dagegen sinnlos. Von der ersten Einstellung an signalisiert der Regisseur, dass es ihm nicht um die Welt, sondern um das Kino selbst geht. Sein Film, für Verehrer der Gipfel seines Schaffens, ist eine Travestie, ein „letzter Horrorfilm” (so wie auch Leones C'ERA UNA VOLTA IL WEST, an dem Argento mitgeschrieben hat, ein „letzter Western” ist) der die Standardsituationen des Genres hysterisch dekonstruiert und dabei Porno-V-Effekte (die Dialoge!) und Kunstwollen kurzschliesst. Das Ergebnis ist geschmacklos, unterhaltsam und so outriert, dass es kaum je wirklich furchterregend ist...
(Der Film spielt übrigens in einem Deutschland, in dem alle Englisch sprechen, und wurde in München gedreht - die Stadt heisst im Film „Freiburg”. Argento geht mit den bekannten Orten - Königsplatz, Hofbräuhaus, Burgstraße, BMW-Hochhaus usw. oft sehr erfinderisch um. Für Münchner also ein Muss.)
Wie es der Zufall will - oder mein Unbewusstes - habe ich mir in den letzten Tagen vier sehr unterschiedliche Filme angesehen, die alle mit Hexerei zu tun haben, dabei aber denkbar unterschiedliche Ansätze verfolgen (kann es da verwundern, dass mich zur Zeit ein Hexenschuss plagt?). Nachfolgend ein paar mehr oder wenige lose Gedanken zu den Filmen.
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VREDENS DAG (Carl Theodor Dreyer, Dän. 1943)
Der Älteste der vier Filme ist bestimmt auch der Erschütterndste, und das nicht, weil er den Schockeffekt suchen würde. Im Gegenteil meidet er Genrebezüge, erzählt glaubwürdig und historisch verortet von der Hexenverfolgung im Dänemark des 17. Jahrhunderts, in der sich die Entstehungszeit (das Dänemark unter deutscher Besatzung) ebenso wieder finden lässt wie unsere Gegenwart. Beunruhigend ist vor allem das Neben- und Ineinander von Vernunft und Angst, von Sympathie und Schwäche, von wahrem Glauben und der Heuchelei, die dem Einen die Haut rettet und der Anderen den Tod bringt. Dreyer spart die Schönheit, das Menschenmögliche dabei nicht aus, seine Schilderung frisch entflammter Liebe gehört zu den ergreifendsten Passagen des Films - in einer Tonart, die in ihrem Lyrizismus der Naturschilderung an Murnaus SUNRISE denken lässt - und dass auch diese Liebe nicht gefeit ist gegen den Virus der Angst, lässt den Rest des Films noch dunkler und pessimistischer wirken (ohne die Liebesgeschichte deshalb zu einem rhetorischen Kunstgriff zu machen). Unbedingt ansehen!
(Bild via)
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THE QUEEN OF SPADES (Thorold Dickinson, GB 1949)
Dickinson, der die Regie des Films wenige Tage vor dem Dreh übernommen haben soll (und dessen andere Filme ich leider nicht kenne) ist seinem Erzähltemperament nach ein Spieler - was dem Stoff sehr zu Gute kommt. Alles ist hier künstlich, Behauptung, von der stilisierten Studiodekoration bis zum lustvoll überzeichneten Schauspiel, aber unter seiner Regie wird es auf magische Weise lebendig, schaurig-schön, mitunter ausgesprochen furchterregend, ohne je den gesetzten Genre-Rahmen zu verletzen. Anton Walbrook (ursprünglich Adolf Anton Wohlbrück, einer der wenigen deutsch-jüdischen Schauspieler, die ihre Karriere im englischen Exil fortsetzen konnten - z.B. als Lermontow in Powell & Pressburgers THE RED SHOES) und Yvonne Mitchell in den Hauptrollen gelingt es, dem Märchenton dieser Puschkin-Bearbeitung eine existenzielle, abgründige Note beizumengen, die den Film zu einer überraschend emotionalen Wirkung verhilft, während der Rest der barocken Besetzung - Edith Evans als Hexe! - komödiantisch schillert, ohne übrigens deshalb den Grusel zu mindern (ein Double Feature mit Lynchs vergnüglichen MULLHOLLAND DR. kann ich empfehlen).
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SECRET CEREMONY (Joseph Losey, GB 1968)
Losey gilt so Manchem als unsteter auteur, und wirklich wirkt dieser Film einigermassen abseitig neben THE SERVANT, ACCIDENT oder THE GO-BETWEEN, seinen „anerkannten” Meisterwerken, nicht zufällig alle in Zusammenarbeit mit Harold Pinter entstanden. Aber bei allen Vorbehalten, die ich gegenüber SECRET CEREMONY habe: die Trennung zwischen dem guten und dem schlechten Losey ist wahrscheinlich ebenso unsinnig wie die Erwartung, ein großer Regisseur müsste zuverlässig sein. Nicht nur ist er hier ganz offensichtlich im Vollbesitz seiner Kräfte - filmhandwerklich gesprochen - die Untiefen, die irritieren, finden sich auch in seinen besten Filmen (zu denen ich, neben den oben genannten, unbedingt auch MR. KLEIN rechnen würde). Das Problem ist, dass Loseys Esoterik, die in den anderen Filmen nur gelegentlich aufblitzt, im exzentrischen Rahmen von George Taboris Drehbuch wuchern darf. Was meine ich mit Esoterik? Auf die Gefahr hin, mich mit meiner Definition lächerlich zu machen: das Ornament angesichts der einfachen Tatsachen des Lebens. Der Film jedenfalls ist ornamental auf jeder Ebene („a film trying too hard to be misunderstood”
wie Gary Tooze richtig schreibt), und findet auch da, wo es um Missbrauch, Gewalt und Tod geht, keine Klarheit. Ich weiss, das ist eine einigermassen vage moralisch-ästhetische Kategorie (Rivettes Text "Über die Niedertracht" lässt grüssen), aber das ästhetische Raffinement dieser verworrenen, halb psychologischen, halb übernatürlichen Filmerzählung wird eben immer da unerträglich, wo es ans Eingemachte geht. Insofern enthält der Film für jeden Filmemacher schmerzhafte Lehren - auch ein Schrecken, den man im Kino erleben kann.
Lesenswert: Glenn Kennys Text auf Mubi.
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SUSPIRIA (Dario Argento, I 1977)
Argento die Unverhältnismässigkeit seiner Mittel vorzuwerfen wäre dagegen sinnlos. Von der ersten Einstellung an signalisiert der Regisseur, dass es ihm nicht um die Welt, sondern um das Kino selbst geht. Sein Film, für Verehrer der Gipfel seines Schaffens, ist eine Travestie, ein „letzter Horrorfilm” (so wie auch Leones C'ERA UNA VOLTA IL WEST, an dem Argento mitgeschrieben hat, ein „letzter Western” ist) der die Standardsituationen des Genres hysterisch dekonstruiert und dabei Porno-V-Effekte (die Dialoge!) und Kunstwollen kurzschliesst. Das Ergebnis ist geschmacklos, unterhaltsam und so outriert, dass es kaum je wirklich furchterregend ist...
(Der Film spielt übrigens in einem Deutschland, in dem alle Englisch sprechen, und wurde in München gedreht - die Stadt heisst im Film „Freiburg”. Argento geht mit den bekannten Orten - Königsplatz, Hofbräuhaus, Burgstraße, BMW-Hochhaus usw. oft sehr erfinderisch um. Für Münchner also ein Muss.)
08 Dezember, 2010
Mindfuck
Die Zeichnung als Werkzeug in der Drehbuchentwicklung: Christopher Nolans Strukturskizze zu INCEPTION (USA, 2010)
INCEPTION, ein rollendes Wunder in Sachen Technik, Marketing und Erfolg, hat mich ziemlich kalt gelassen. Nach einiger Vorfreude habe ich mich in einem Film wiedergefunden, der sich eine extravagante Struktur leistet, um dann doch nur das Übliche zu servieren (und das wieder und wieder). Der Film delektiert sich an seinen Komplikationen, ohne die Konsequenzen seiner Prämisse wirklich auszuloten, ohne komplex zu werden. Und weil es um nichts geht, weil das Zentrum leer bleibt, scheint der Aufwand an Exposition unverhältnismässig, nimmt man das erschreckend funktionale Personal mit Missvergnügen hin. Ja es drängt sich der Verdacht auf, die Vervielfachung der Handlungsebenen sei nur ein Vorwand, drei (sehr) konventionelle Actionplots unter einem Dach zu vereinen. Die Amerikaner nennen das Genre treffend „Mindfuck”: Der Preis für die Maximierung der Effektereignisse besteht in der Relativierung unserer Einfühlung. Wenn man sich nicht sicher sein kann, wie oft jemand sterben muss, um tot zu sein, geizt man mit den Tränen.
Trotzdem, die Grundidee ist faszinierend: die Welt des Traums als ein von der allesfressenden Maschine, die Kapitalismus heisst, gerade neu erschlossener Markt. In diesem Markt, an der neuen Grenze: Pioniere, die Risiken eingehen und damit mit ihrer eigenen Identität spielen. Das Problem ist, dass dieses neue Territorium, ganz entgegen unserer eigenen Erfahrung, schon von vorne herein gezähmt wirkt. Die sogenannte Traumlogik wird ja oft bemüht, wenn es ums Kino geht. Hier regiert weit und breit nur Plot. Das irrationale Moment, das sich der Markt- und Erzähllogik verweigert (und „erobert” werden müsste), hat bei Nolan keinen Platz - ist aber doch die Hauptsache beim Träumen, wie mir scheint. Der Traum im Film, muss man folgern, wurde schon kolonialisiert, lange vor Eintreffen unseres Helden. Entsprechend simuliert und second hand wirkt das Abenteuer. Schade.
Skizze: (via)
Aufregend: Aktuelle Traumforschung.
04 Dezember, 2010
Warten
Kinotour in Frankreich. Ich warte im Dunkeln den Abspann ab, das Mikrofon schon in der Hand. Es leuchtet grün. Besucher, die es eilig haben, drängen sich an mir vorbei. „Kritischer” Körperkontakt.
Flughafen Charles De Gaulle. Ich warte auf meinen Flug, nach diversen Umbuchungen: „Wintereinbruch”. Neben mir schläft ein Schicksalsgenosse, verkrümmt. Er trägt Pelzhausschuhe.
Der Computer auf meinem Schoss. Ich warte, bis er hochgefahren ist. Als sich die vertraute Bildschirmoberfläche aufgebaut hat, habe ich warme Beine.
Flughafen Charles De Gaulle. Ich warte auf meinen Flug, nach diversen Umbuchungen: „Wintereinbruch”. Neben mir schläft ein Schicksalsgenosse, verkrümmt. Er trägt Pelzhausschuhe.
Der Computer auf meinem Schoss. Ich warte, bis er hochgefahren ist. Als sich die vertraute Bildschirmoberfläche aufgebaut hat, habe ich warme Beine.
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