In einem Telefoninterview heute ist die Frage aufgetaucht, warum die Welt der Wirtschaft, obschon sie unsere Welt so stark bestimmt, so selten in Filmen auftaucht.
Meine Antwort: Das Kino sehne sich nach Verkörperlichung, nach Konflikten, die sich zwischen einer Handvoll von Figuren austragen liessen und sei - „natürlich” - auf Sichtbarkeit angewiesen. Das Wesentliche einer Bank zum Beispiel liege aber im Unsichtbaren.
Auch mein neuer Film rückt das Geschäft in den Hintergrund. Die Bank und ihr konkretes Wirken sind nicht Thema des Films, die Finanzkrise ist eine Art Nebengeräusch in einer Geschichte über Menschen.
Zwar versucht sich UNTER DIR DIE STADT durchaus an einer Versöhnung aus Mikro- und Makroperspektive, aber im Zentrum steht einmal mehr
the formation of a couple (Zizek).
Ist es nicht naiv, noch eine Liebesgeschichte zu erzählen, angesichts der Krise? Betreibt, wer sich heute dem Rätsel der Gefühle widmet (und das im Bankmilieu), nicht eigentlich Ablenkung?

Ein Bild aus UNTER DIR DIE STADT.
Vielleicht. Aber... beginnt Politik nicht im Bett? Und ist es nicht so, dass die Katastrophen der Geschichte nur Vergrößerungen zwischenmenschlicher Probleme sind? Und ist die Perversion der Banker nicht eigentlich unsere?
So oder ähnlich könnte man sich verteidigen. Interessanter fände ich, über Dramaturgien nachzudenken, die den systemischen Zwängen - den Erfahrungen der Moderne - besser Rechnung tragen als die hergebrachten Geschichten.
In einem Film wie
WALL STREET (USA 1987) gibt es noch einen Zweikampf im Central Park, Spekulant und Spekulationsobjekt sind verwandtschaftlich verbunden* und unsere wahren Sympathien gehören (wie immer im Kino) demjenigen, der die Handlung bewegt, statt sie zu bremsen: Gordon Gekko.
Ich bin gespannt, ob sich Oliver Stone, der in Cannes die
Fortsetzung seines Semi-Klassikers präsentieren wird, in Sachen Dramaturgie weiterentwickelt hat. Es würde mich wundern.
Vor zwei Tagen war ich in Luc Percevals Bühnenfassung von Falladas
KLEINER MANN, WAS NUN (Theatertreffen). Die Geschichte des kleinen Mannes Pinneberg, der allen Anstrengungen zum Trotz mit dem Verlust der Arbeit nach und nach einen sozialen Tod stirbt, ist geradezu antidramatisch. Kein Wunder: die Vorlage ist ein Roman.

Paul Herwig
Percevals Kniff liegt darin, die Figuren zugleich subjektiv (im Dialog) und objektiv (über sich erzählend) zu beleuchten. Pinneberg - hinreissend gespielt von Paul Herwig - spricht also romanhaft sowohl über sich („Pinneberg war ausser sich”) als auch mit anderen („Kälbchen - wie kannst du so etwas sagen?”). Die Wirkung ist erstaunlich. Es entsteht eine Art heitere Dialektik, die den langen Abend zu einem komplexen Vergnügen gemacht hat.
Ich weiss nicht, ob man diese Idee direkt auf einen Film übertragen sollte - aber mich hat sie angeregt, neu über Voice-Over nachzudenken. Mehr dazu im nächsten Film? Gut möglich.
Aber jetzt erst mal: Cannes.
*)
Bud Foxs Insiderwissen betrifft die Airline, bei der sein Vater arbeitet - und so ist die „Lösung” des Films dann auch eine der Entscheidung zwischen dem guten und dem schlechten Vater.