12 März, 2008

Alexander Kluge:

„Eine sog. Liebesszene ist z.B. eine solche Real-Erfindung. Wir sind alle gewohnt, in einem Film – oder in Wirklichkeit – eine solche Szene an 'realistischen Maßstäben' zu messen, die angeblich in der Szene selber enthalten sind. Die Liebesszene ist aber nur dann realistisch, wenn z.B. die künftige Abtreibung gleich in sie eingeschnitten wird. Aber auch die Geschichte aller früheren Abtreibungen. Das ist in einer wirklichen Liebesszene nicht anders, gleich, ob die beiden an die Abtreibung denken, ob diese überhaupt in dem konkreten Falle aktuell ist. Die gesamte vorangegangene Erfahrung, auch die durch Verhütung ausgesparte, auch die der Voreltern und die aller fremden Liebesszenen, ist in der konkreten Szene gegenwärtig. Der Konflikt zwischen Zärtlichkeit und den unzärtlichen Folgen, der rabiaten Erwartung und dem, was sich davon erfüllen läßt, genau dies ist der Real-Gehalt. An der Schärfe dieses Konflikts messen sich alle anderen Wahrnehmungen. Isoliert davon, nur 'gegenwärtig', wird die Liebesszene ideologisch. Die Szene wird aber auch ideologisch, wenn man ihr die Illusionen austreibt. Sie fände dann gar nicht statt.”

Aus: Kommentare zum antagonistischen Wirklichkeitsbegriff, 4. Kapitel: „Die schärfste Ideologie: daß die Realität sich auf ihren realistischen Charakter beruft”, gefunden in dem Suhrkamp Band zum Film „Gelegenheitsarbeit einer Sklavin” (S.215)

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen