08 März, 2025

Wunschkonzert


Neben eigenen Kinoträumen habe ich immer wieder auch Fantasien für Andere, stelle mir vor, sie müssten sich einmal diesem oder jenem Stoff widmen, mit einer ganz bestimmten Schauspielerin oder Kameraperson arbeiten; den einen Weg weitergehen und einen anderen aufgeben. Gelegentlich teile ich befreundeten Filmemacher*innen mit, was ich mir für sie vorstelle, und auch wenn die Bilanz meiner Suggestionen bescheiden ist, hören sie mir womöglich in der Hoffnung zu, sich in der Spiegelung zu erkennen. 

Das beste Mäzenatentum ist ein Auftrag, in dem sich erfüllt, was die Künstler noch nicht von sich wussten. Die Kunstgeschichte ist voll von glücklichen Inspirationen. Andererseits ist Kunst eben kein Wunschkonzert. Zuschreibungen dieser Art resultieren weniger aus der Einfühlung als dass sie Ausdruck eigener Bedürfnisse sind. Meine Mutter hat schon vor langer Zeit eine Komödie bei mir bestellt. 

Aufträge habe ich nicht zu vergeben, trotzdem hier ein paar Spinnereien in Bezug auf geschätzte Kolleg*innen: 

Ich wünsche mir einen harten, unromantischen Film von Christian Petzold und eine romantische Komödie von Angela Schanelec, einen richtigen Liebesfilm von Thomas Arslan (vielleicht unter Roadies einer Metal-Band?), einen Sportfilm von Ulrich Köhler, einen Katastrophenfilm von Romuald Karmakar, einen Film über eine Verschwörung von Jockeys von Benjamin Heisenberg, einen Film über klassische Musik von Helge Schneider, ich finde, Eva Trobisch sollte Wolfgang Köppen verfilmen – Tauben im Gras?, Jan Bonny endlich seinen Film über den Dichter machen, den er schon so lange machen will (wer das ist, wird hier nicht verraten), Dominik Graf ein Prequel von DIE KATZE und zu diesem Zweck einen „jungen Götz George” finden, von Maren Ade wünsche ich mir drei Filme über mordende Frauen, von Sophie Kluge einen Politthriller. 

...um hier ein paar mehr oder weniger überraschende Möglichkeiten in den Raum zu werfen. Vielleicht fühlt sich ja Eine oder Einer der Genannten dazu berufen? Für den Fall verspreche ich gerne, eine Komödie zu machen.

02 März, 2025

Masaki Kobayashi

Die japanische Filmgeschichte ist wie ein dichter Wald. Einmal eingetreten ist es schwer, Überblick zu gewinnen. Mitunter stösst man unverhofft auf ein großes Werk und wundert sich, wie man es so lange hat übersehen können. So ist es mir mit den Filmen von Masaki Kobayashi (1916-1996) ergangen. Sie sind gewaltig, auch im Vergleich mit seinen im Westen berühmteren Kollegen.

Masaki Kobayashi im Gespräch über KWAIDAN (1964).

Masaki Kobayashi träumte „den Traum von Widerstand”, wie es Stephen Prince im Titel seiner Monografie formuliert; als Sozialist zur Hochzeit des japanischen Imperialismus, als Pazifist in der Armee, als Moralist im konfliktscheuen Nachkriegsjapan. Aber er träumte nicht nur, seine Filmpraxis war ein Akt des Ungehorsams. Als einer der wenigen hat er die Verbrechen der kaiserlichen japanischen Armee immer wieder thematisiert, trotz starken Gegenwinds. In allen seinen Filmen reflektiert er „Die Bedingungen des Menschseins“, in Gendai-geki (Gegenwartsfilmen) wie Ken-geki (Samurai-Filmen). 

Er tut es nicht hitzköpfig oder pauschalisierend, sondern mit großer Genauigkeit und dem Wunsch, die Zwangslagen seiner Figuren in größtmöglicher Klarheit vor dem Zuschauer auszubreiten. Wir sollen urteilen können, mehr noch: wir sollen urteilen müssen, auch und gerade, wenn die Dilemmata unauflöslich scheinen. Mit Hannah Arendt könnte man über Kobayashis Filme sagen: niemand hat das Recht zu gehorchen, auch wir Zuschauer nicht.

Im Folgenden skizzenhaft ein paar Eindrücke von einigen seiner besten Filme (in chronologischer Reihenfolge):

I WILL BUY YOU (1956)

Ein „heißes” Baseballtalent und der Mentor, der ihn „gemacht” hat, werden belagert von einem halben Dutzend Talent-Scouts verschiedener konkurrierender Teams. Man überbietet sich gegenseitig mit Gefälligkeiten, unmoralischen Angeboten und geheimen Manövern. Es ist so viel Geld im Spiel, dass alles, was nicht Gold ist, korrodiert. Und was ist schon Gold im sozialen Raum? „Moderner Menschenhandel”, auf diese Formel bringt es die (Ex-) Freundin Fudeko (Keiko Kishi), die nicht mitansehen will, wie die Fliehkräfte des Geldes den Charakter ihres Freundes deformieren. Oder offenbaren sie ihn bloss? Kobayashi interessiert sich – wie Fudeko – nicht für den Sport, sondern dafür, wie sich hier kapitalistische Logik und menschliche Gier zur Kenntlichkeit entstellen. Ein besonderer Augenmerk liegt darauf, wie sich das Geld auf die „letzte Währung” auswirkt, ohne die alles Fiktion ist: Vertrauen. Der Sport-Scout Kishimoto (Keiji Sada), dessen Perspektive den Film bestimmt, sucht früh die Nähe zu dem Mentor des Spielers, Tamaki (Yûnosuke Itô), der allerdings ein Trickser und Täuscher vor dem Herrn ist, und über dessen Vergangenheit als Spion gemunkelt wird. Nichts scheint ihm heilig, auch seine Krankheit setzt er immer wieder strategisch ein, aber krank ist er wirklich. Im Laufe des Films entscheidet sich Kishimoto, und wir mit ihm, Tamaki trotz allem zu vertrauen. Vielleicht auch, weil die sich verschlimmernde Krankheit einen Ernst ins Spiel bringt, der nicht vorgesehen war. Dieses Vertrauen, das dem alten Fuchs beinahe ein religiöses Erlebnis beschert – Yûnosuke Itô spielt das ergreifend, dankbar (ich fühlte mich mehr als einmal an Michel Simon erinnert) – erweist sich letztlich als das einzig reale, das auch noch gilt, als die großen Pläne wie ein Kartenhaus zusammenfallen.

BLACK RIVER (1957)

Im Schatten einer amerikanischen Kaserne kreuzen sich die Schicksale prekärer Existenzen. Die Besitzerin einer baufälligen Baracke schließt einen Pakt mit den lokalen Unterwelt, um ihre Mieter – von der Sexarbeiterin bis zum mittellosen Studenten – zu vertreiben; sie spekuliert auf eine Wertsteigerung des Grundstücks nach Abriß. Gleichzeitig zieht der Anführer der Gang gerade das Mädchen in den Dreck, auf das der Student zu hoffen wagt – mit brutaler sexueller Gewalt und schäbigen Tricks, die ihn zunächst als „Beschützer” erscheinen lassen. Nach und nach überwindet sie ihre Beschämung und der Wunsch nach Rache wird übermächtig – aber die Entladung, die schließlich nicht mehr aufzuhalten ist, bringt keine Befreiung. Die Art, wie hier die Widersprüche der japanischen Nachkriegsgesellschaft zur Aufführung kommen, hat mich an Imamura (1926-2006) und die Filme der japanischen neuen Welle erinnert. Kobayashi schreckt nicht davor zurück, das Hässliche und Gemeine zu filmen, aber man meint zu spüren, dass es ihn Überwindung kostet. Er zwingt sich dazu, weil er es für notwendig hält. Das unterscheidet ihn vielleicht von der jüngeren Generation, die in den neuen Ambivalenzen keine Anomalie, sondern eine zuvor verborgene Konstante erkennen.

Die Film-Trilogie THE HUMAN CONDITION (Deutscher Verleihtitel: „Barfuß durch die Hölle...”, 1959-61)

I

NO GREATER LOVE (1959)

Kaji (Tatsuya Nakadai), Protagonist der Trilogie, lernen wir als einen Mann voller Skrupel kennen, der seine humanistischen Ideale in einer Zeit verteidigen muss, die ganz entgegengesetzte Prioritäten setzt. Als vehementer Gegner des kolonialen Unterwerfungskriegs, den die kaiserliche japanische Armee in weiten Teilen Asiens führt, fürchtet er die baldige Einberufung. Der Auftrag seiner Firma, chinesische Zwangsarbeiter einer Mine zu beaufsichtigen, erscheint ihm deshalb zunächst als das kleinere Übel, zumal er seine frisch vermählte Frau mit in die japanisch besetzte Mandschurei nehmen kann. Dass das Erz, das dort gebrochen wird, wieder den Krieg nährt, ist nicht der letzte Widerspruch. Die Bedingungen der Zwangsarbeit sind horrend und Kajis Hoffnung, sie per Dekret verbessern zu können, erweist sich als vorschnell. Denn zwar ist er formal für die Arbeitsorganisation zuständig, aber die Schergen, die bisher mit äußerster Brutalität gegen jede Abweichung oder Minderleistung vorgegangen sind, fühlen sich von Kajis Ideen abgewertet. Entsprechend brachial ist ihr Widerstand. Nur Kajis Theorie, wonach eine Arbeiterschaft, die man menschlich behandelt, auch produktiver wäre – darüber hat er promoviert – sorgt dafür, dass die Spitze des Unternehmens ihn zunächst protegiert; die hohen Quoten sind mit Gewalt allein kaum zu erfüllen. 

So gerät er in eine völlig hoffnungslose Lage: die wenigen Verbesserungen, die er erreichen kann, nutzen dem Krieg, den er ablehnt. Gleichzeitig kostet die Durchsetzung dieser „humanen” Maßnahmen Menschenleben, weil die Schinder auf Rache aus sind. Vollends unerreichbar werden seine Ideale, als die Armee halb verhungerte Kriegsgefangene schickt, die ebenfalls zur Arbeit gepresst werden sollen. Kaji muss einsehen, dass es in diesem falschen Leben kein richtiges Tun gibt, ja dass er, der Menschlichkeit bringen wollte, mitverantwortlich ist für diese Hölle der Sklavenarbeiter, die wie die Fliegen sterben. Am Ende ist es sein größtes Verdienst, die Widersprüche sichtbar gemacht zu haben. Weil an dieser Sichtbarkeit aber natürlich kein Interesse besteht, überstellt man ihn nun doch zum Militärdienst.

II

ROAD TO ETERNITY (1959)

Ironischerweise erweist sich Kaji trotz oder wegen seiner sozialistischen Ansichten, die ihn zunächst vor einer Beförderung bewahren, als guter Soldat. Seine Konstitution und Selbstbeherrschung erlauben es ihm nicht nur, dem Drill Folge zu leisten, sondern auch, Schwächeren zu helfen. Aber die Ausbilder sind nicht auf Ausgleich aus. Sie brauchen „Versager”, um die Gewalt abzuleiten. Die Armee zeigt Kobayashi als ein System der Erniedrigung und Entmenschlichung, das Feinde produziert, ganz nebensächlich, ob es sich um innere oder äußere handelt: Gewalt und „Verbrauch” sind ihr Selbstzweck. Als das lange Martyrium eines Rekruten, dem Kaji zu helfen bemüht war, schließlich im Selbstmord endet, versucht er unter Berufung auf die Dienstvorschriften eine Bestrafung des Verantwortlichen durchzusetzen. Wieder hat er ein Projekt gefunden, für das er bis ans Äusserste geht, und das doch unerreichbar bleibt: Gerechtigkeit, inmitten des Unrechts.

Eine so kluge, tief empfundene Generalabrechnung mit der eigenen Armee als einem System der Abrichtung und Zerstörung hätte es für die deutsche Wehrmacht auch geben müssen. Das deutsche Kino hat nicht nur damals nichts annähernd vergleichbares hervorgebracht, sondern krankt bis heute an einer unterkomplexen Kriegserzählung – wobei es bestimmt kein Zufall war, dass man Bernhard Wicki für die deutsche Synchronregie gewonnen hat, denn sein Film DIE BRÜCKE ist vermutlich der beste deutsche Film zum Thema.

III

A SOLDIER'S PRAYER (1961)

Ein Gutteil des Filmes spielt in unbarmherziger Natur. Eine Gruppe versprengter Japaner, darunter auch die Soldaten um Kaji (Tatsuya Nakadai)die sich unverhofft hinter feindlichen Linien wiederfinden, versucht einen Urwald zu durchdringen, um auf der anderen Seite womöglich einen Weg zurück ins Mutterland zu finden. Bald schwinden Vorräte und Kräfte, Zweifel jeder Art nagen. Der Wald wird zu einer Vorhölle, in der Hunger und Täuschung, Verzweiflung und Grausamkeit lauern, ein beinahe mythischer Raum, der in einer betörend-sinnlichen Chiaroscuro-Photographie plastisch wird. Ein Häuflein überlebt und überwindet den Wald, nur um auf der anderen Seite in Kriegsgefangenschaft zu geraten. Jetzt ist es Kaji, den man zur Zwangsarbeit presst – und es sind dieselben japanischen Schinder, die nun als Aufseher ihrer eigenen Landsleute das Leben zur Hölle machen... 

Im dritten und für mich stärksten Teil der Trilogie bekommt Kajis Kampf metaphysische Obertöne. In einer Szene versucht er sich zu rechtfertigen vor der russisch-kommunistischen Lagerleitung. Aber der Dolmetscher ist korrupt und übersetzt ihn absichtlich falsch, keine seiner sorgfältig gewählten Worte erreichen sein Gegenüber. Gerade weil ihm die Vergeblichkeit seines Kampfes in diesem Moment verborgen bleibt, hat sie mich ungemein berührt. Zusammengenommen ist diese Trilogie ein „schwarzer Monolith” nicht nur in Kobayashis Werk, sondern auch im Weltkino ohne Vergleich.

Hans Hillmanns Plakat für den 3. Teil der Kriegstrilogie.

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THE INHERITANCE (1962)


Nach einer Krebsdiagnose entfesselt ein zunehmend haltloser, übergriffiger Machtmensch mit der Aussicht auf sein großes Erbe einen Sturm der Gier, der alle noch bestehenden Beziehungen herausfordert und schliesslich hinwegfegt. Wie in I WILL BUY YOU geht es um Geld als Medium der Zerstörung, hier aber in einer viel bitteren Tonart und auch stilistisch extremer, Anschluss suchend an das Kino seiner Zeit, zwischen Jazz-Noir und existenzieller Moderne. Dass das Intrigenspiel etwas Forciertes hat, gehört zum Konzept; der Materialismus deformiert mit der japanischen Gesellschaft auch die Dramaturgie, denn: „Geld ist immer Blutgeld.” (C. Donovan)




HARAKIRI (Masaki Kobayashi, Japan 1962)


Eine komplexe Reflexion über Ehre und ihre Bedingungen. Kobayashi entlarvt die Arroganz der Tugendstolzen, die ihre eigenen Privilegien nicht reflektieren, die keinen Sinn dafür haben, dass man sich die „schöne” Ehre, die sie formstreng zelebrieren, leisten können muss; der Film ist als Prüfung angelegt, in der sich letztlich die noblesten der Samurai als Heuchler erweisen. Tsugumo Hanshirō, die Hauptfigur des Films, mit donnernder Empörung gespielt von Tatsuya Nakadai, ist Erzähler, Lehrer und Vollstrecker zugleich. Seine Kampfkunst, aber auch sein Sinn für Gerechtigkeit scheint vom Schmerz geschärft; es geht ihm nicht (mehr) um seine Person, sondern um das Beispiel. 


Das Ergebnis ist ein Lehrstück, das sich nie didaktisch anfühlt; auch die Tatsache, dass der Film in der Vergangenheit spielt, nimmt ihm nichts von seiner Wucht, im Gegenteil akzeptiert man die Reduktion so als „gegeben”, während sie sich in einem Gegenwartssetting stärker thematisiert hätte. Über weite Strecken ist der Films statisch, spielt in geschlossenen Räumen, weshalb die dynamischen, großartig choreografierten Kampfszenen umso eindringlicher wirken. Ein Film, der aufs Ganze geht, wirklich versucht, Aussagen über das Leben zu treffen, ohne die Genre-Tropen als Ausreden gelten zu lassen. Ein Höhepunkt in Kobayashis Filmographie.



KWAIDAN (Masaki Kobayashi, Japan 1964)


Ein Studio-Japan, das die Künstlichkeit sucht. Jeder Himmel gemalt, jeder Grashalm gesetzt, jede Einstellung gebaut - die Sets wirken wie lebensgroße Dioramen. Kobayashi kommt so zu faszinierenden Tableaus, gegen die es die Handlung anfangs schwer hat – es braucht eine Weile, bis die Spielregeln etabliert sind. Von Episode zu Episode aber steigert sich die Intensität und insbesondere die letzten beiden („Die Geschichte vom ohrlosen Hōichi“, „In einer Schale Tee“) habe ich als Offenbarung empfunden. 


Besonders gefällt mir, wie der Film über die „Brücke der Fiktion” geht, für übernatürliche Erzählungen ein besonders heikler Akt. Denn einerseits ist die Künstlichkeit, das Irreale Programm, andererseits zwingt uns Kobayashi nie größere Schritte auf, so dass wir uns einigermaßen überrascht auf der anderen Seite wiederfinden und die Welt der Geister schließlich nicht nur für denkbar, sondern für mindestens so real halten wie die beweisbare Welt.




SAMURAI REBELLION (Masaki Kobayashi, Japan 1967)


Ein Film über die Grenzen der Loyalität, und wozu man einen Menschen zwingen kann und darf. Der Fürst verstösst seine Konkubine Ichi (Yoko Tsukasa) und verlangt von einem seiner Untergebenen, dem Samurai Isaburo (Toshiro Mifune), sie mit seinem ältesten Sohn Yogoro (Go Kato) zu verheiraten. Das geht gegen Isaburos Ehre, aber er fügt sich – aus Mitleid mit der Frau und weil der Sohn seinen Widerstand nicht will. Unverhofft blüht in der Zwangsehe zwischen Ichi und Yogoro Liebe. Aber kaum ist dem Paar eine Tochter geboren, revidiert der Fürst seine Entscheidung. Weil sein direkter Nachkomme zu Tode gekommen ist, soll Ichi – die man zu Beginn von ihrem Sohn getrennt hatte – ihre neue Ehe annullieren und an den Hof zurückkehren, um ihre Mutterrolle wieder einzunehmen. Große Teile der Familie, darunter Isaburos Frau und sein jüngerer Sohn, drängen darauf, dem Fürsten auch dieses Mal nachzugeben. Aber das Paar und Isaburo weigern sich – und beschliessen zu kämpfen.


Kobayashi erweist sich hier einmal mehr als großer Moralist. Er erzählt den komplexen Stoff über Willkür und Gerechtigkeit so zwingend, dass man sich mit den Figuren entscheiden, Haltung zeigen muss. Diese humanistische „Aktivierung” des Zuschauers begeistert mich; die Konflikte erscheinen trotz der fremden Formen der Vergangenheit als aktuelle Fragen. 

27 Februar, 2025

Gene Hackman (1930-2025)

Als Detective ‘Popeye’ Doyle in THE FRENCH CONNECTION.

Ein Schauspieler, der ganz unmittelbar Kontakt zu seinem Publikum aufnimmt, der selbst nicht zu wissen scheint, wohin ihn sein Spiel führen wird, weshalb man mit allem rechnen muss. Einer, der zärtlich ist, und grausam, verletzlich und verletzend und manchmal alles zugleich. Ein Schalk, listig, brachial, sprunghaft, man kann ihm beim Denken zusehen, glaubt ihm aber auch das Tier, den Wahn, den Irrwitz. Kein im klassischen Sinne schöner Mann, aber einer, dessen Charisma und Energie die ungeschlachte, stolpernde Körperlichkeit immer wieder überholt. Unvergesslich ist mir seine scheppernde Stimme, die es immer ein bisschen zu eilig hat, zu Explosionen neigt, zu Zoten und Witzen, deren Timbre aber auch verführt. In allen seinen Rollen ist er jemand, dessen Präsenz die Gleichung verändert, ein Everyman, der einen Unterschied macht, mit mindestens zwei Seelen in der Brust.

Als Privatdetektiv Harry Moseby in NIGHT MOVES.

Als Erstes fällt mir Clydes Bruder ein, in BONNIE AND CLYDE (Arthur Penn, 1967), diese Mischung aus Witzbold und Urvieh, die Lunte, die Bonnie und Clyde erst zur Zündung bringt. Natürlich „Popeye”, in THE FRENCH CONNECTION (William Friedkin, 1971), den Hackman als einen Grobian und Besessenen spielt, als einen, der in der Kälte fluchend Hotdogs verdrückt, während Fernando Rey als Drogenbaron sich mit Genuss der Raffinesse der französischen Küche hingibt. Dieses Gefälle ist Ansporn für Popeye, er ist die Rache der Arbeiterklasse, ungehobelt, bauernschlau, all American. Zurecht sein bekanntester Film. In THE CONVERSATION (Francis Coppola, 1972) spielt er den scheuen Abhörmann voller Skrupel, obsessiv in seiner Geheimniskrämerei, ein Spezialist der Spezialisten, der verlernt hat, Mensch zu sein. Vielleicht meine Lieblingsrolle ist sein Detektiv mit Eheproblemen in NIGHT MOVES (Arthur Penn, 1975). Nachdenklicher, sinnlicher und sanfter als in seinen Paraderollen lernt man ihn als Einsamen kennen, dem man gerne ein Freund wäre. In UNFORGIVEN (Clint Eastwood, 1992) spielt er einen Sheriff als Kleinbürger, dem das Gesetz die Lizenz zum Sadismus gibt, ein schönes Echo auf Brandos einzige Regiearbeit ONE EYED JACKS (in dem Karl Malden eine verwandte Figur gibt) und vielleicht Hackmans furchterregendste Rolle. Und so könnte man weitermachen: THE ROYAL TENENBAUMS (Wes Anderson, 2001), SCARECROW (Jerry Schatzberg, 1973), THE FIRM (Sydney Pollack, 1993), CISCO PIKE (Bill Norton, 1972), EUREKA (Nicolas Roeg, 1983), TWILIGHT (Robert Benton, 1998), u.v.a. 

Er war ohne Zweifel einer der Großen.

06 Februar, 2025

(Wieder-) Gesehen [25]

Vom Zufall kuratiert: sieben Liebesfilme.


DARK PASSAGE (Delmer Daves, USA 1947)

Wie schön diese Kette von Unglaubwürdigkeiten glitzert!

DUE SOLDI DI SPERANZA (Renato Castellani, Italien 1952)

Ungezähmtes Leben.

CHRONACHE DI POVERI AMANTI (Carlo Lizzani, Italien 1954)

Zum Beispiel diese Straße.


THE MAD FOX (Tomu Uchida, Japan 1962)

Realismus der Maske.


MES PETITES AMOUREUSES (Jean Eustache, F 1974)

Die soziale Mechanik der Liebe.


WIFE OF A SPY (Kyoshi Kurosawa, Japan 2020)

Gefahr als Druckverband für in Zweifel gezogene Gefühle.


WE LIVE IN TIME (John Crowley, GB 2024)

Gut kalkuliertes Rührstück, gut durchgerührt.

Panel Genrekino @ Deutsche Kinemathek


Ich freue mich, am Samstag, den 15.02.2025, um 18:30 h in der Deutschen Kinemathek (E-Werk) zusammen mit Jan Bonny, Annika Haupts und Rainer Rother über deutsches Genrekino zu diskutieren.
 Kommt vorbei, der Eintritt ist frei.

02 Februar, 2025

Die Zukunft als Feind

Die große Erzählung der Nachkriegszeit - mit dem Sieg über Nazi-Deutschland als Nullpunkt komplementärer Fortschrittsvarianten in West und Ost - hat ihre Wirkmacht verloren. Das Rumoren entlang der geopolitischen Nahtstellen ist Folge dieses langen Abschieds, der mit dem Fall der Mauer begonnen hatte, aber erst heute und wohl nicht zufällig mit dem Tod der letzten Zeugen zum Abschluss kommt. Die Gründe sind vielfältig, die Summe großer und kleiner Verschiebungen, darunter natürlich die Zumutung eines direkten „Feedbacks” unseres Planeten auf unser Handeln (die immer offensichtlichere Klimakrise), der relative Abstieg der USA als Führungsmacht und der (unaufhaltsame?) Aufstieg Chinas.

Entsprechend kracht es im Gebälk der Garanten der alten Ordnung: Brexit, Trump (1), der russische Überfall auf die Ukraine und Trump (2) sind dafür ebenso Ausdruck wie das Erstarken diverser autoritärer Regimes, die Morgenluft wittern. Und während alle Wetten darauf abschließen, wer die nächste Erzählung schreiben wird – und die Frage offen ist, ob eine neue Ordnung noch einmal so dominant werden kann, – verformen sich auch die Innenräume der europäischen Parteienlandschaft. Die Volksparteien sind auf dem Rückzug, vor allem die rechtsextremen Ränder erstarken, deren Reizwörter die Debatten dominieren.
Gleichzeitig stehen die westlichen Demokratien vor der Aufgabe, Antworten auf eine Vielzahl von (realen) Problemen zu finden, die in der Kombination Politik und Bürger überfordern. Von den (noch lange nicht bewältigten) Folgen der Corona Pandemie über den schon erwähnten Krieg Russlands gegen die Ukraine (und dem Dämon verschieblicher Grenzen), von der demographischen Krise bis zur technologischen Transformation (KI), von Irans Proxy-Krieg gegen Israel (Gaza, Lebanon usw.) bis hin eben zur Klimakatastrophe als „unüberwindliches” Problem scheint unsere Gegenwart von Krisen umstellt.
Viele können sich deshalb eine bessere oder auch nur lebenswerte Zukunft nicht mehr vorstellen - und wenden den Blick ab. Sie identifizieren die Zukunft als Feind und wählen antirealistisch. Belohnt werden politische Akteure, die Illusionen verkaufen. In Deutschland besorgt dieses Geschäft längst nicht mehr nur die AfD. Auch (Teile der) CSU, CDU, FPD und BSW sind dabei, ihre Politik in einem argumentativen Unterbietungswettbewerb zu „modernisieren”. Sie haben in der Hauptsache drei Produkte im Angebot.
1. Verleugnung. Die Klimakatastrophe: ein Hoax. Gender: gaga. Putin: will Frieden. Und ähnlichen Unsinn mehr. 2. Schuldprojektion. Die Ausländer / der Islam / die Grünen / die „Kartellparteien“ / LGBTQ+ sind an allem Schuld, was nicht mehr „normal” ist. 3. Verklärung. Früher war alles besser. Wann genau muss vorerst vage bleiben, wobei die Projekte „Ehrenrettung der NS-Zeit“ und „Ehrenrettung der DDR” immer neue Blüten treiben.
Blick zurück nach vorn: Ein Bild aus Peter Watkins retrofuturistischer „Reportage” LA COMMUNE (PARIS, 1871).

Schon weil die Bestseller unter diesen Fiktionen nicht nur unbrauchbar, sondern in ihrer autoritären Menschenfeindlichkeit auch gefährlich sind, kann uns diese Entwicklung nicht egal sein. Aber was können wir tun, Zuversicht in die Gestaltungsmöglichkeiten „klassischer“ d.h. lösungsorientierter Politik aufzubauen? Wie können wir alle ohne Angst, aber auch ohne uns Illusionen hinzugeben, nach vorne schauen? Wie könnte ein „realistischer Optimismus“ aussehen?
Viele antworten darauf derzeit mit der Forderung, man müsse eben „konsequenter regieren” oder „entschlossener handeln”, womit fast immer symbolpolitische „Machtwörter” oder andere autoritäre Gesten gemeint sind. Merz hat seine Vorstellung davon gerade zum Schaden aller Demokraten zur Aufführung gebracht. Trotz einer großen Fülle an warnenden Beispielen hält er es immer noch für eine brauchbare „Strategie”, die radikale Rechte einzudämmen, indem er ihre Positionen übernimmt, vermeintlich um ihre Themen „abzuräumen”. Selten war eine taktische Fehlkalkulation so offensichtlich, von der praktischen Untauglichkeit der Vorschläge ganz zu schweigen.
Ich glaube, weil wir zunehmend in einem Post-Informationszeitalter leben, das von Social Media als einer Daten- und Gefühlsindustrie, die in der Wut zu sich kommt, getrieben wird, müssen sich politische Kommunikation und politisches Handeln grundsätzlich verändern. Eine neue Vision von der Zukunft, gegen die der Blick in den Abgrund und die verklärende Rückschau alt aussehen, wird sich nur durchsetzen können, wenn wir der digitalen Illusion eines Empowerments (mit der Flut an falschen plebiszitären Elementen) eine echte Beteiligung an politischen Prozessen gegenüberstellen, die es erlaubt, nicht nur Debatten sondern auch Lösungen mitzugestalten. Politik muss zu einer viel breiter zugänglichen Erfahrung werden, an der Lösung konkreter Probleme mitwirken zu können.
Weil unsere Zeit angeblich „zu komplex” geworden ist, haben wir es zugelassen, dass große Bereiche der politischen Sphäre von expertokratischen Strukturen gekapert wurden, die als anonyme und elitäre Black Boxes erlebt werden. Eben weil sich die „User“ heute Illusionen machen über ihren Durchblick, müssen wir sie einbinden und mit den Mühen der Ebene vertraut machen. Ziel muss ein größerer Realismus sein, auf allen Seiten. Der Zugang zu Politik als Aufgabe muss demokratisiert werden. Aleatorische Elemente – zum Beispiel eine Art politisches Schöffensystem – könnten dabei eine wichtige Rolle spielen. Die Vereinfachung von Prozessen wäre wichtig. Die Abstraktion muss abnehmen, nicht nur im Bürgeramt und bei der Steuererklärung, sondern in allen Interaktionen zwischen Bürger und Staat.
Politik muss als „gutes Handwerk” mit praktischem Nutzen sichtbar werden, braucht aber vielleicht auch neue „Lieder”. Könnte es sein, dass wir (links der Mitte) nicht weniger, sondern mehr Ideologie wagen müssten, im Sinne einer die Welt und ihre Möglichkeiten beschreibenden Programmatik? Kooperation, Solidarität und Fantasie muss in die Mitte der Debatte getragen werden. Dafür braucht es neue Erzählungen.
Weil allenthalben über die Qualität des politischen Personals gejammert wird: Wir haben nicht die Zeit, auf Akteure zu warten, deren Charisma die Enge der aktuellen Spielräume transzendieren könnte (was nebenbei bemerkt wieder andere Probleme schaffen würde). Eine neue politische Kultur durchzusetzen wird also in jedem Falle harte Arbeit. Keine der Koalitionen, die aktuell eine realistische Chance auf eine parlamentarische Mehrheit haben, sind Selbstläufer in diese Richtung. Es wird auf uns alle ankommen, den Wandel zu fordern, fördern und mitzugestalten.

22 Januar, 2025

Und oder oder?

Schizophrene Kontroverse. Ein Selbstgespräch.



C: Du hast gerade einen französischsprachigen Film gemacht. Warum?


H: Ich wollte einen Film in Brüssel machen. Und ich habe Anschluss gesucht an den film polar. Der Gangsterfilm hat keine Tradition im deutschen Kino, der Krimi ist nur im Fernsehen zuhause.


C: Brüssel fasziniert dich, aber gelebt hast du dort nie. Dein Französisch lässt zu wünschen übrig. Läge es nicht näher, von Dingen zu erzählen, die dir wirklich vertraut sind?


H: Ich hätte mir nicht ohne weiteres zugetraut, einen alltagsrealistischen Film in Brüssel zu machen. Aber dieser Film spielt gewissermaßen in „Movieland”. Dort fühle ich mich durchaus zuhause.


Delphine Bibet in LA MORT VIENDRA (D/LUX/B 2024).


C: Aber gibst du da nicht ohne Not ein Pfund aus der Hand?


H: Welches Pfund wäre das?


C: Das intime Wissen, das du hast, über die Art, wie wir sprechen und leben, über deine kulturelle Sphäre.


H: Das kann entscheidend sein, aber nicht für jedes Projekt auf die gleiche Weise. Im Übrigen hat es mich immer gereizt, in fremden Städten Filme zu machen. Es geht mir oft so, dass sich Fiktionen müheloser verbinden mit Orten, die ich nicht so gut kenne. Ich habe auch nie in Mönchen-Gladbach oder Frankfurt gelebt. Spekulation ist die kleine Schwester der Fiktion. 


C: Ich sehe da schon Unterschiede. Die Spekulation ist ein Gerücht, das sich verselbständigt. Je weniger informiert die Spekulation ist, desto mehr. Die Fiktion dagegen versucht Erfahrungen zu verdichten, sucht also nach einer mindestens metaphorischen Wahrheit. 


H: Aber die Frage ist doch, auf welcher Ebene das geschieht. Das ist noch kein Plädoyer für einen realistischen Film oder einen Film in der eigenen Sprache.


C: Würdest du sagen, du hast einen deutschen Film gemacht?


H: Das ist keine Frage, die mich um den Schlaf bringt. Im juristischen Sinne ist es ein deutscher Film. Ich bin ein deutscher Regisseur. Mit anderen deutschen Filmen haben meine Filme womöglich ein paar Gemeinsamkeiten. Ich könnte sie aber nicht benennen. Du?


C: Was deine Filme mit anderen gemeinsam haben, ist vielleicht nicht die interessanteste Frage.


H: Sondern?


C: Wie du dich so herausfordern kannst, dass du deine Möglichkeiten ausschöpfst.


H: Ich bin ziemlich glücklich mit dem Ergebnis.


C: Das will ich dir nicht ausreden, aber ich finde, du solltest versuchen, ein spezifisch deutsches Kino zu machen, ein Kino als Spiegel, in dem sich dieses Land auf eine Weise erkennt, dass es den Wiederschein auch annehmen kann. 


H: Puh. Es stimmt auf jeden Fall, dass die guten deutschen Nachkriegsfilme selten wirklich angenommen wurden. Vielleicht ja, weil das deutsche Publikum sich nicht erkennen möchte.


C: Jedes Publikum möchte sich erkennen.


H: Womöglich hat die Katastrophe unserer Geschichte da etwas beschädigt? Die 100 erfolgreichsten deutschen Filme der Nachkriegszeit sind jedenfalls nicht nur nicht identisch mit den 100 besten – es scheint kaum eine Berührung zu geben, so subjektiv jedes Qualitätsurteil auch sein mag. Das ist in anderen nationalen Kinematografien deutlich anders, finde ich.


C: Dann waren es noch nicht die richtigen Filme. Vielleicht, weil sie nicht den mythischen Kern getroffen haben, so wie es dem französischen, italienischen oder amerikanischen Kino immer wieder gelungen ist. Für das amerikanische Kino könnte man John Ford oder Steven Spielberg nennen. Im französischen Kino gehen Jacques Becker, Jean-Pierre Melville und François Truffaut in diese Richtung zum Beispiel.


Hanna Schygulla in RW Fassbinders DIE EHE DER MARIA BRAUN (BRD 1979).


H: Es gab aber doch auch sehr gute deutsche Filme nach 1945. Nehmen wir Fassbinders DIE EHE DER MARIA BRAUN (BRD 1979). Einer seiner erfolgreichsten Filme, er hatte 1,8 Millionen Zuschauer in Deutschland, heute völlig undenkbar für einen anspruchsvollen deutschen Film. Im Ausland, insbesondere in Frankreich, ist der Film ein Klassiker, der das Bild mitprägt, das sich die Franzosen von uns machen. Aber hierzulande ist er eher nicht Teil der kollektiven Erinnerung geworden. Man hat sich in diesem Spiegel, um in deinem Bild zu bleiben, nicht erkennen wollen.


C: Das ist ein toller Film, finde ich auch. Und dass er erfolgreich war, ist doch ein gutes Zeichen. Aber mythisch ist er ja gerade nicht. Eher: anti-mythisch. Ein gebrochener Spiegel.


H: Definiere „mythisch”.


C: Ein Kino, das auf Archetypen setzt und dabei lebensbejahend ist. Ein Kino, das Geschichte als Heldengeschichte denkt. Ein Kino, das als positive Selbstvergewisserung funktioniert. 


H: Klingt reaktionär.


C: „Heldengeschichten” heißt nicht Siegfried. 


H: Aber ich möchte doch über die nationale Perspektive hinaus!


C: Nach Hollywood?


H: Nein, aber hin zu einer europäischen Form, in der Art, wie das im Hollywood der späten 20er und bis in 50er Jahre möglich war. Da haben Exilanten – Deutsche, Österreicher, Ungarn usw., eine Form gefunden, globales Kino zu machen, in dem ihre kontinentale und individuelle Erfahrung aufgehoben war. Jenseits der Realismen. Also FW Murnau, Ernst Lubitsch, Josef von Sternberg, Otto Preminger, Fritz Lang, Billy Wilder, Douglas Sirk und all die anderen.


C: Und wie kommen wir in dieses Paradies?


H: Nicht über Nacht, das ist klar. Aber ich glaube wir brauchen dafür endlich einen integrierten europäischen Markt, eine europäische Filmindustrie.


C: „Europudding” nannte man das früher.


Danielle Darrieux in Max Ophüls' MADAME DE... (F 1953).

H: Ein böses Wort, das den Filmen nicht gerecht wird. Viele der besten Filme aller Zeiten waren „transnational” europäisch, ich denke jetzt an Max Ophüls’ französische Filme zum Beispiel, auch wenn mit „Europudding” meistens Filme aus späteren Jahren gemeint sind. 


C: Ich würde die Tatsache, dass Ophüls und andere ins Exil gezwungen wurden, nicht vermischen wollen mit der Frage nach der kulturellen Identität. 


H: Aber ganz sicher hat das Exil die betroffenen Regisseure gezwungen, über eine Form jenseits nationaler Kategorien nachzudenken. Und es ist ja nicht so, dass es keine guten Beispiele für transnationale Projekte jenseits des Exils gibt. Bernardo Bertoluccis ULTIMO TANGO A PARIGI (I, F 1972) oder Istvan Szabós OBERST REDL (Ungarn, Ö, D, 1985) fallen mir ein.


C: Sind das nicht eher die rühmlichen Ausnahmen? Wikipedia definiert „Europudding” so: „international produzierte europäische Filme (...), die alle kulturellen Eigenheiten eingebüßt haben, um eine möglichst große Anpassung an unterschiedlichste Märkte zu gewährleisten”. Aber du plädierst trotzdem für einen weniger individuellen, paneuropäischen Film?


H: Wieso weniger indiviuell? Nur weil ich nicht die nationale Karte spiele?


C: Ich fühle mich mißverstanden. Ich halte den Nationalstaat nicht für das relevante „kulturelle Gefäß”. Es geht mir um eine spezifische Kultur, die sich in Sprache, Mentalität, sozialer Praxis niederschlägt. Das macht doch den Reichtum von Film aus. 


H: Ich glaube, du musst konkreter werden.


Manfred Krug in Frank Beyers SPUR DER STEINE (DDR 1966).


C: Nehmen wir einen Film wie SPUR DER STEINE von Frank Beyer (DDR 1966). Dem Film gelingt es, Geschichte und Mythos zu versöhnen und ein glaubwürdiges „Wir” zu konstruieren, finde ich.


H: Wurde er deshalb verboten?


C: Vielleicht. Mythos war ja das letzte, was die DDR produzieren wollte.


H: Okay, SPUR DER STEINE ist super, und bestimmt auch, weil er so spezifisch ist in Bezug auf das Leben in der DDR damals. Aber was leiten wir daraus ab? Dass alle Filme so sein sollten?


C: Nein, nicht alle Filme. Aber ich glaube, das amerikanische und auch das französische Kino ist so stark, weil es auf dem breiten Rücken mythischer Filme eine Tradition des Erfolges begründen konnte. Daneben ist natürlich auch Platz für Häresien, für Außenseiter und Subversive.


H: Würdest du Max Ophüls zu den Häretikern zählen?


C: Eher ja. Seine Filme sind ja so etwas wie geträumte Psychoanalyse – und das Analytische in seinem Kino ist womöglich stärker als der Traum.


H: Dann wäre das geklärt. Wenn ich dich richtig verstehe, möchtest du mich auf die „mythische” Seite ziehen. Meine bisherigen Filme sind aber eher keine Bewerbungen für so ein Kino, oder?


C: Das nicht, aber ich glaube, dass deine eigentlichen Talente im mythischen Spektrum liegen. Du weißt es nur noch nicht.


H: Interessant. Aber mal im Ernst. Für ein mythisches Kino, wie du es beschreibst, fehlen in unserer „Zufallsgärtnerei” die Voraussetzungen. Das Publikum meidet den deutschen Film, die Förderstrukturen sind passiv, die Branche – von einer Industrie müssen wir nicht reden – hat nicht die Ressourcen und die Professionalität, zu fordern und zu fördern, und so bleibt den Filmemacher*innen nur, Ansprüche an sich selbst zu formulieren, was regelmäßig zu wenig ist.


C: Um die Beschreibung der Talsohle zu vervollständigen, zitiere ich dich: „Wir haben eine Filmkultur, die in ihren besten Momenten bescheiden ist, während das Unbescheidene fast immer ohne Ambition bleibt.” Daher meine Forderung, den deutschen Film auf eine neue Basis zu stellen und endlich den albernen Gegensatz von U und E zu überwinden. 


H: Jetzt bin ich gespannt auf deinen Plan.


C: Es gibt noch keinen Plan. Solange du nicht überzeugt bist, wäre das auch schwierig.


H: Ich schlaf mal drüber, würde ich sagen.


C: Mehr wollte ich nicht erreichen.



Das Selbstgespräch fand virtuell am 22.01.2025 statt. Protokoll: C & H.