Die Unwirklichkeit ihrer Liebe verschafft der Hauptfigur „Lisa” (Joan Fontaine) jedenfalls immer wieder Freiräume. Ihr Insistieren darauf, bereits „vergeben“ zu sein, erlaubt es ihr, die von ihren Eltern arrangierte Ehe zurückzuweisen. Am Arbeitsplatz hilft dasselbe Phantom, die Zudringlichkeiten der Kundschaft abzuwehren. Und nachdem es endlich doch zu einer körperlichen Begegnung mit „Stefan” (Louis Jourdan) gekommen ist, gibt ihr die Entscheidung, ihre Schwangerschaft nicht mitzuteilen und den Namen des Vaters nicht preiszugeben – neben vielen Nachteilen, die „unverfilmt” bleiben – die Möglichkeit, den Liebsten zu ihren Bedingungen zu adressieren. So gesehen heben ihre Projektionen emanzipatorisches oder vielleicht besser: gestalterisches Potenzial. Da Lisa diejenige ist, die sich erinnert, und erzählt, kann sie nicht nur ihre Gefühle modellieren, sondern kontrolliert gewissermaßen auch die Zeit.
Über Jahre lebt sie mit ihrem Sohn im Komfort einer Vernunftehe, in der sich, gerade weil sie emotional steril bleibt, der Liebestraum fortsetzen und einhegen lässt. Erst nach dem „Unfall” einer Wiederbegegnung mit Stefan in der Oper kann sie die Trennung der Sphären nicht mehr verteidigen. Sie bietet dem „Traummann” in Folge ihr ganzes Leben an, unter Wölfen würde man sagen: sie zeigt ihren Hals, ohne ihn allerdings über Identität und Vorgeschichte aufzuklären. Der Geliebte reagiert blind, versteht nicht, wer sie ist und welchen Preis sie zu zahlen bereit ist; stattdessen fährt er seine bei Frauenbesuch übliche Champagner-Routine. Statt ihm aber die Augen zu öffnen, das Erkennen einzufordern, geht sie wieder, und stellt ihr Ideal in der Distanz wieder her. In gewisser Weise muss sie so handeln, wenn sie ihre langgehegte Fiktion nicht entwerten möchte. Ihre Erfindung ist besser, als es der wirkliche Stefan je sein könnte.
Wie Mirjam Schaub richtig angemerkt hat, kann man LETTER auch als einen Kommentar zum Mythos von Echo und Narziss verstehen. Von Hera der Sprache beraubt und dazu verdammt, die letzten an sie gerichteten Worte zu wiederholen, kann Echo dem Jüngling Narziss ihre Liebe nicht gestehen. Als sie nach dem vergeblichen Versuch einer Zwiesprache hinter Bäumen mit ausgestreckten Armen vor ihm auftaucht, zeigt sich Narziss, der von dem Fluch nichts weiß, abweisend. Er versteht nicht und ist also nicht würdig. Echo zieht sich gedemütigt zurück und ist am Ende nur mehr Stimme, während sich der schöne Mann – als Strafe für seine Blindheit – in sein Spiegelbild verlieben muss. Sie kann nur spiegeln, er kann nur sich selbst sehen. Dazu passt, was Herbert Linder in der Filmkritik (5/1967) schreibt: „das Grundmuster der Verdoppelung, das immer wiederkehrt (...) bewirkt, dass Ophüls‘ Filme wie ein Spiegelkabinett anzusehen, wie ein Echotal anzuhören sind“.
Spiegel und Echo, Narziss und Nymphe, das gegenseitige Verfehlen und Verkennen ist bei Ophüls aber eben nicht ausschließlich tragisch, sondern Voraussetzung für eine Ermächtigung durch die Fantasie. Aus der beobachtenden Distanz, zu der Echo durch den Fluch gezwungen wird, ist mindestens vorübergehend ein Vorteil geworden. Ophüls' Filme sind Reflexionen über die Zeit als unfassbare Substanz, und die Erinnerung als das Gefäß, ohne das sie nicht erlebt werden, und also existieren kann. Lisa beobachtet und erzählt und gewinnt dadurch Handlungsmöglichkeiten. Im Mythos war Echo von Zeus als Heras Erzählerin bestimmt, um die Gemahlin von seinen Eskapaden abzulenken – als sich Hera dieser Täuschung bewusst wird, verflucht sie die Nymphe. Bei Ophüls erzählt sie weiter, und ist immer auch ihr eigenes Publikum.
Ophüls hat sich in der Figur der Lisa sicher wiedererkannt; auch seine Filme sind Liebesträume gegen die Widrigkeiten ihrer Zeit. Auch er wurde immer wieder „vergessen” und musste sich nach der Vertreibung aus Deutschland mehrfach neu erfinden. In der legendären Prater-Sequenz des Films, in der die Dialektik der Illusion schelmisch auf den Punkt kommt, erklärt Lisa, dass Stefan den Winter wohl deshalb so liebe, weil der ihn zwinge, sich den Frühling vorzustellen. Stefan, nicht nur blind für andere, sondern eben auch für sich selbst, muss ihr recht geben. Die Fantasie braucht die Lücke. „...ein treffenderes Argument für den Film in Schwarzweiß [kann es kaum] geben” schreibt Peter W. Jansen über diesen Moment. Touché. Ophüls' Kino wartet wie Lisa an der Straßenecke (oder hinter der Türe), in der Hoffnung, erkannt und „verwirklicht” zu werden. Fassen wir uns ein Herz.