26 Februar, 2018

Romane für Ameisen

Jetzt würde er ihn sicher gleich bemerken. Eine Frage von wenigen Atemzügen. Er nahm sich vor, noch eine Weile unsichtbar zu sein, als könnte man sich entscheiden dazu. Zehn. 'Mach dich nicht so schwer' hatte ihm seine Mutter immer ins Ohr geflüstert, wenn sie ihn nach der Arbeit, seine Geduld belohnend, oder jedenfalls in Anerkennung der langen Wartezeit, nach Hause trug, aber dafür hatte er keine Begabung gehabt scheinbar, immer wieder flüsterte sie diesen Satz. Fünf. Nun, er konnte sich vielleicht nicht leicht machen, aber wie man in einer Menge verschwindet, das hatte er gelernt. Oder hatte Zaglau ihn längst bemerkt und wusste dieses Bewusstsein seinerseits unsichtbar zu machen? Eins. Jetzt streifte er wie zufällig den Ärmel seiner Windjacke. 'Verzeihen Sie.'

Manchmal schreibe ich in der S-Bahn oder bevor das Licht im Kino verlöscht Splitter wie diesen, ohne zu wissen, wohin sie noch führen könnten. Romane für die Ameisen in meinem Kopf.

Logik des Verdachts



Auf der Seite des Centre Pompidou ist jetzt ein kurzer Film online, indem Christian Petzold und ich über eine Szene aus Hitchcocks THE WRONG MAN sprechen. 

P.S.: 
Mit Christian Petzold habe ich auf ähnliche Art auch über jeweils eine Szene in Michael Manns THIEF und Dominik Grafs ER SOLLTE TOT gesprochen. Mit einer anderen Szene aus THE WRONG MAN habe ich mich ausserdem hier beschäftigt.

25 Februar, 2018

Lebenszeichen

André De Toths großartiger Schneewestern DAY OF THE OUTLAW.

Es wird mir jetzt klar, dass ich, einerseits, vom Kino die Aufzeichnung von Lebenszeichen erwarte, die jenseits des Kinos liegen. Das wäre das dokumentarische Moment. Das Spiel muss sich zu diesem Zweck immer wieder von den Anweisungen (und Regieideen) emanzipieren, aber auch von den Spielern selbst. 

Zugleich will ich in Dekor, Licht und Kostüm über das Beweisbare weiter hinaus als bisher. Die resultierende Künstlichkeit darf aber nicht (nur) Ausdruck eigener Vorlieben sein, sondern muss letztlich einer vertieften Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit entspringen. Jedes Kunstwerk ein Modell von Welt. 

Der Western ist in diesem Sinne brauchbares Vorbild: das Reiten, die Hitze, der Staub (die Kälte, der Schnee), überhaupt die körperliche Mühsal betont das dokumentarische Moment, während im Dekor ein modellhaftes Ringen um Welt kenntlich wird. Im Idealfall versetzen diese beiden Pole den Film so in Spannung, dass der Plot zweitrangig wird.

24 Februar, 2018

Geschichten vom Gegenwind

(1)
Die Fernsehredakteurin, die mir nach Lektüre des Drehbuchs ganz ernst und besorgt abrät, den Beruf weiterzuverfolgen, wegen „Mangels an filmischer Fantasie”.

(2)
Die Förderreferentin, die mich auf unserer improvisierten Premierenparty in Cannes zu sich winkt – ich muss mich tief zu ihr herabbeugen –, um mir zu sagen, dass mein Film „Scheiße” sei.

(3)
Der Verbandsfunktionär, der mir sagt, die Franzosen liebten meine Filme, weil sie bewiesen, was die Franzosen schon immer glaubten: „dass wir Deutsche keine Filme machen können.“

(4)
Der Branchenmensch, der mir Wasser ins Gesicht schüttet, nachdem er mich (zu meiner Begleitung) sagen hörte, die Deutschen würden Filmindustrie nur spielen.

(5)
Der Radiomoderator, der mich fragt, warum ich es „als Deutscher” den Leuten mit meinem Film so schwer machen wolle, gerade als die Welt anfange zu akzeptieren, dass wir auch „locker” sein können.

(6)
Die Journalistin, die mir vor dem Interview „der Ehrlichkeit halber” sagt, dass sie alle meine Filme gehasst habe, und nur wegen des Schauspielers hier sei.

(7)
Die Zuschauerin, die nach der Premiere meines ersten Filmes aufsteht und schreit: „Warum tun Sie uns das an?”

(8)
Der in der Branche gescheiterte Dozent, der zu uns versammelten Studenten sagt: „Glaubt bloss nicht, ihr schafft es.”

(9)
Der berühmte Produzent, der mir, nachdem er meinen Namen gehört hat, die schon gegebene Hand entreißt und sich eilig entfernt.

(10)
Der Festivalleiter, der nach einer kritischen Frage aus dem Publikum sagt, man müsse bedenken, dass das mein erster Film sei und der nächste vielleicht besser werde.

(11)
Ein Filmpreiskommittee, das uns anreisen lässt, um einen Preis entgegenzunehmen. An der Sitzordnung merken wir, dass die Entscheidung revidiert wurde.

(12)
Die Dolmetscherin, die mich mitten im Satz unterbricht, um zu sagen, dass sie meinen Film nicht gesehen habe, aber dass sie ihn auch nicht sehen wolle.

(13)
Der weltberühmte Filmwissenschaftler, der mir ungefragt verrät, dass er über meine Filme nicht schreiben werde, weil sich die Analyse nicht lohne.

(Geschrieben 2016)

21 Februar, 2018

Thesen zum Publikum



- Das Publikum ist ein Wesen, das mit Erlöschen des Saallichts erwacht.

- Das Publikum ist mehr als die Summe einzelner Zuschauer. 

- Das Publikum weiss nicht, was es will, es sei denn, es bekommt es.

- Das Publikum hört besser als es sieht.

- Das Publikum bewegt sich tänzerisch durch einen Film: sinnlose Texte fechten es nicht an, aber wehe man bringt es aus dem Takt.

- Wenn man das Publikum nicht hören kann, geht es ihm gut. 

- Lachen hebt diese Regel auf, oder bestätigt sie.

- Das Publikum ist Intelligenzbestie und Mob zugleich. Es versteht mehr als ein Einzelner, sieht aber schnell rot.

- Das Publikum ist unmoralisch, hat aber ein ausgeprägtes Unrechtsbewusstsein.

- Langeweile wirkt auf ein Publikum wie eine Unterversorgung mit Sauerstoff: es sterben Gehirnzellen ab. Je langweiliger ein Film, desto dümmer das Publikum.

- Das Publikum täuscht sich nicht, aber weil es nur im Dunkeln lebt, kann es im Licht keine Auskunft geben.

- Mit jeder Vorstellung wird ein neues Publikum geboren.

- Kein Publikum gleicht dem Anderen.

- Das Saallicht nach dem Film vereinzelt das Publikum in Zuschauer.

- Je größer der kollektive Taumel gewesen ist, desto verschämter sieht man dem Nachbarn ins Auge.

- Äusserungen nach einem Film verleugnen das Publikum, und das kann nicht anders sein.