28 März, 2017

Digital Gotham

Innenansicht der Maschinenhalle, Paris 1889, Quelle: Wikimedia Commons.
„Es gibt einen Aufsatz von Habermas zum Phänomen des Historismus' in dem er sinngemäß sagt, der Historismus in der Architektur des 19. Jahrhunderts sei das Resultat einer „Überforderung”, der Rückgriff auf die Formensprache der Gothik etwa, wenn es darum ging, Technikkathedralen zu bauen. Neue Funktionen, die noch nicht ganz verstanden, neue Technologien, die in ihren Möglichkeiten noch nicht durchdrungen sind, suchen Zuflucht in der alten Form, die zugleich Legitimierung bringt gegenüber den Skeptikern, weil sie das Profane sakralisieren. Vielleicht könnte man hier eine Analogie ziehen zwischen der gothisch verbrämten Stahl-Glas-Architektur des 19. Jahrhunderts und der sich analog gebenden digitalen Filmtechnik.” (Fragment aus einem Vortrag)

Siehe auch: Prinzip Collage

Die Letzten


Miron Zownir, Berlin 1980.

Das Prinzip der Steigerung ist ein mühsames Geschäft – zumal wenn es um Dramaturgie geht. Blickt man auf die populärsten Hollywoodfilme der letzten Jahre, kann man grob vier Strategien ausmachen: 
1) „Super”, d.h. Helden oder Feinde zu behaupten, die paranormale Fähigkeiten haben (MATRIX, SPIDERMAN, X-MEN, TWILIGHT) und so die Handlungsmöglichkeiten beliebig erweitern. 
2) „Desaster”, d.h. einen grundsätzlich denkbaren Ausnahmezustand (ARMAGEDDON, THE DAY AFTER TOMORROW, 2012) zu benutzen, um die übliche Ereignisökonomie außer Kraft zu setzen. 
3) „Mindfuck”, d.h. mit Strukturspielen (PULP FICTION, FIGHT CLUB, INCEPTION) mehr Ereignisse in einen Bogen zu zwingen, als logischer Weise möglich wären. 
4) „Torture Porn”, d.h. Darstellung und Plotfunktion der Gewalt ins Extrem zu treiben (SAW, HOSTEL etc). 
Alle vier Wege sind inzwischen so oft beschritten worden, dass sich die Rauschwirkung schon wieder zu verflüchtigen droht. Was tun? Man kann sich an einer Fusion versuchen, zusätzlich ältere Rezepte der Steigerung miteinbringen (Serienkiller, Kriegsfilm), zum Beispiel einen mehr oder weniger fragmentierten Alien-Invasion-Horror-Kriegsfilm machen (CLOVERFIELD, BATTLE: LA, SUPER 8) usw. 
So oder so, im Bemühen, möglichst schnell die maximale dramatische Betriebstemperatur zu erreichen, hat sich eine Art Weltuntergangs-Standard herausgebildet. Aber weil jede Filmerzählung neben ihren Produktfunktionen, denen die Steigerungsdramaturgie natürlich huldigt, auch so etwas wie Sinnproduktion betreiben muss, um auf echte Resonanz zu stossen (auf die auch die großen Hollywood-Maschinen nicht verzichten können) – fragt man sich, wie es passieren konnte, dass das Apokalyptische zum Lieblings-Setting des Mainstreamkinos geworden ist.
Passt das noch zu der Idee, die Kulturindustrie würde „Flucht” verkaufen („nicht die Flucht vor der schlechten Realität, sondern vor dem letzten Gedanken an den Widerstand” – Horkheimer & Adorno 1988, S.153)?

Meine Vermutung ist, dass wir uns berauschen an der Vorstellung, die Letzten zu sein (SILENT HILL, I AM LEGEND, THE ROAD, THE BOOK OF ELI) – ähnlich vielleicht, wie es die Adventisten getan haben, die Jesu Wiederkehr dreimal vergeblich errechnet hatten, bevor sie sich auf ein „bald” verständigt haben. Der narzisstische Kick läge demnach darin, nicht mehr Teil des ewigen Werdens und Vergehens zu sein, sondern tatsächlich einem signifikanten Punkt der Geschichte – nämlich ihrem Ende – beizuwohnen. Diese süße Endlichkeit, den Tod der Tode, zu feiern und zugleich wider alle Wahrscheinlichkeit, deus ex machina, an der finalen Rettung festzuhalten – das ist der Widerspruch, der das Kino der Apokalypse so attraktiv macht.
Was daran seltsam berührt ist die gelegentlich unheimliche Doppelung der Katastrophen-Fiktionen mit den wirklichen Krisen unserer Zeit. Warner Bros., so war heute zu lesen, hat Clint Eastwoods HEREAFTER aus den japanischen Kinos genommen, weil der fiktive Tsunami angesichts des realen frivol wirken musste. Die „Übertreibung” in der Wirklichkeit kränkt die Erfindung, die ihre Masslosigkeit („noch schlimmer als die Wirklichkeit”) als Trost verkauft…
(Geschrieben am 16.03.2011 für das Revolver Blog)

16 März, 2017

Double Feature (3)



KRYLYA (Larisa Shepitko, UdSSR 1966)
LA MUJER SIN CABEZA (Lucrecia Martel, Argentinien 2008)

Double Feature: Im Kopf einer Frau ohne Kopf. Zwei Abwesende im Spiegel ihrer Trabanten.


Vom Leben selbst erzählen - ohne Plot, alltäglich, konzentriert auf Menschen, Gesichter, Momente. Nah an den Gefühlen der Hauptfigur, aber ohne Zuspitzung - davor fürchte ich mich als Erzähler. Wenn ich dann Filme wie LA MUJER SIN CABEZA oder KRYLYA sehe - beides introspektive Meisterwerke, vielleicht nicht zufällig von Regisseurinen - verstehe ich diese Angst nicht mehr. 

15 März, 2017

Glück leuchtet

Ein glücklicher Tag ist der Tag nach der Erschöpfung, alle Glieder schmerzen bei Bewegung, und erinnern dich: du lebst. 

Die Luft ist klar und kühl, man sieht ganz weit, hört das Gras flüstern, die Gedanken reisen. Überhaupt heißt das für mich Glück: Pläne schmieden, die möglich werden könnten, Ideen wie Kometen, mit einem Schweif der Machbarkeit. 

Glück, das ist zielloses Streunen, den Wind im Rücken. Ein endloses Wannenbad, so heiß, dass man vergeht. Das Raunen der Stimmen. Jemandem etwas erzählen, jemandem, den man liebt. Etwas erzählt bekommen, am besten ein Märchen von meinem Vater (oder von meinem Onkel hören, wie Prinz Eisenherz als einziger aus dem sinkenden Atlantis entkam). 

Glück ist ein Kuss. 

Ich will Hände sehen, die wissen, was sie tun. Meine Mutter und mein Vater, bei der Teamarbeit „Schwarzwälderkirschtorte”. Sie ist für Geschmack und Architektur, er für die Dekoration zuständig. Mit einem Messer schnitzt er Schokoladensplitter auf den weißen Schnee der Sahne. 

Glück, das ist Musik hören, die für einen Augenblick Sprache ist, die man schon immer konnte, aber heute zum ersten Mal gebraucht. Glück ist Mies van der Rohe, sein Sinn für Proportion, der mich körperlich überwältigt. Oder Francois Cuvilliés, und seine Fassadenschöpfung für St. Kajetan, die Theatinerkirche: ein Strömen der Form, wie man es sonst nur in Rom findet. 

Glück ist Konzentration, ganz bei sich sein, und zugleich außer sich, in der Arbeit. Eine Szene gelingt und es ist wie ein Wunder. Man flösst und flüstert einer Schauspielerin eine Idee ein, und sie macht sie zu ihrer. 

Glück, das ist ein Film, der mich erhellt. Ein Film von Ernst Lubitsch zum Beispiel: TROUBLE IN PARADISE. SHARASÔJU von Naomi Kawase. SUD PRALAD von Apichatpong Weerasethakul. Die Begegnung in der Kneipe in Angela Schanelecs MARSEILLE

Der Geruch einer Orange an den Händen, die man vor Stunden geschält hat. 

Ihr Lächeln. Ihre Stimme. Sie singt ein Lied für mich, aus ihrer Heimat, ihre Hand in meiner...


(2006 bin ich gebeten worden, einen „glücklichen Tag” zu beschreiben, für die Süddeutsche Zeitung)

10 März, 2017

The Shock of the Real


Seit Januar 2017 bin ich – der eine oder andere wird das mitbekommen haben – „Leitender Dozent Regie” an der DFFB. Eine meiner ersten „Baustellen”: THE SHOCK OF THE REALein Symposium zum 50. Geburtstag der Akademie, das vom 24-26.03.2017 im Kino Arsenal stattfindet, eingebettet in eine große Retrospektive von DFFB-Filmen.


Das Symposium entsteht als Kooperation mit Revolver, federführend waren Nicolas Wackerbarth (Revolver) und ich, tatkräftig unterstützt von Susanne Zöchling (DFFB). 


Thema sind neue Wirklichkeitsbegriffe: 


„Jeder Film ist eine Annäherung an die Frage: 'Was ist wirklich?', aber um zum titelgebenden 'Erschrecken vor dem Wirklichen' zu kommen, muss der Abstand zwischen Vorstellung und Erfahrung forciert, filmisch thematisiert werden. Diese Wunde zu suchen gehört zu den Herausforderungen jeder neuen 'realistischen' Ästhetik.” habe ich im Arsenal-Programm geschrieben.


Zu Gast sind u.a. Veronika Franz, Thomas Heise, Till Kleinert, Ekkehard Knörer, Gertrud Koch, Sergei Loznitsa, Pia Marais, Nina Menkes, Athina Rachel Tsangari und Amie Siegel. 

Ich moderiere zusammen mit den Revolver-Kollegen Nicolas Wackerbarth, Marcus Seibert und Saskia Walker. Direktor Ben Gibson bestreitet das Eröffnungsgespräch.

Ich hoffe, wir sehen uns!


Programm:

Fr 24.3., 16h, Kino Arsenal
Nina Menkes wird zum Start des Symposiums eine dreistündige Public-Masterclass zum Thema Cinematic Images of Women
: Power and Gender in Shot Design abhalten, indem sie Frauenbilder des Kinos aus feministischer Perspektive diskutiert.


Fr 24.3., 20h, Kino Arsenal
Filmproduzent und Direktor der dffb Ben Gibson spricht mit der griechischen Regisseurin und Produzentin Athina Rachel Tsangari über die neue Politik des Bildes in ihrem Werk und wie sich ästhetischer Widerstand gegen prekäre Produktionsbedingungen organisieren lässt.

Sa 25.3., 13h, Filmhaus 4. Stock
Das Kino des Fantastischen im deutschsprachigen Raum steht im Mittelpunkt der Diskussion Gegen die Wirklichkeit? Till Kleinert und Veronika Franz sprechen mit Christoph Hochhäusler und Marcus Seibert darüber, wie Fantasie, Begehren, (Tag- und Alb-)Traum, also Dinge, die ganz wesentlich zu unserer Welt gehören, im Kino zu ihrem Recht kommen und welche Rolle in diesem Zusammenhang die bestehenden Mythen, Konventionen, Genres unserer Filmkultur spielen.

Sa 25.3., 15h, Kino Arsenal
QUEEN OF DIAMANDS   Nina Menkes   USA 1991   OF 77’
In QUEEN OF DIAMONDS arbeitet die Protagonistin Firdaus (das arabische Wort für Paradies) als Croupière am Spieltisch in Las Vegas und pflegt außerdem einen alten Mann.

Sa 25.3., 17h, Kino Arsenal
Im Werkstattgespräch Myth/Document wird Nina Menkes mit Nicolas Wackerbarth über ihre Arbeit zwischen Experiment und Hypnose sprechen.

Sa 25.3., 19.30h, Kino Arsenal
PROVENANCE   Amie Siegel   USA 2013   OF 41’
Die stillschweigenden Protagonisten in PROVENANCE sind Möbelstücke von Le Corbusier, die inzwischen auf dem globalen Kunstmarkt als Raritäten für Rekordsummen gehandelt werden.

Sa 25.3., 20.30h, Kino Arsenal
Amie Siegel wird sich mit Christoph Hochhäusler in Possible Images über „kapitalistischen Realismus” und Strategien der Visualisierung im Zeitalter des Immateriellen unterhalten.

So 26.3., 13h, Filmhaus 4. Stock
Thomas Heise gibt im Gespräch mit Saskia Walker Aufschluss über Realität als Material und die Realität des Materials.

So 26.3., 15h, Filmhaus 4. Stock
Realismus ist immer ... Ein Gespräch zwischen der Filmtheoretikerin Gertrud Koch und dem Filmkritiker Ekkehard Knörer über die Realismen des Kinos im Zeitalter totaler Medialisierung.

So 26.3., 18h, Filmhaus 4. Stock
Unter dem Titel Nomad Cinema? diskutieren Sergei Loznitsa, Pia Marais und Asli Özge mit Nicolas Wackerbarth und Christoph Hochhäusler darüber, 
welchen Stellenwert nationale Identitäten im Kino heute haben, welche Wirklichkeitsbegriffe die Exilerfahrung produziert und wie ein post-nationales Kino (im positiven Sinne) aussehen könnte.




Biopic

Helmut Berger in Luchino Viscontis LUDWIG (1972) 
– für mich einer der besten biografischen Filme überhaupt.

Der Grundwiderspruch jeder biografischen Erzählung:

Einerseits darf man nicht der Versuchung erlegen, alle Lebensereignisse im Lichte eines Fixpunktes (das den Erinnerungswert bestimmt) „zentralperspektivisch” auszubeuten und gleichzuschalten. Andererseits macht das Gegenteil – das Hü-und-Hott des Lebens ohne Gewichtung nachzuerzählen – unter Umständen noch weniger Sinn, gerade im Rahmen eines Spielfilmes.

Ich denke, es muss darum gehen, anhand des verfügbaren spezifischen Materials eine Figur zu erfinden, mit der sich etwas viel Allgemeineres zeigen lässt und deren Geschichte – selbst wenn das gegen die historische Wahrheit steht – in den bekannten Elementen Erfüllung erfährt und damit gewissermassen „wahr” wird. 

Zugleich steht es jedem Erzähler gut zu Gesicht, die Grenzen der eigenen Erzählung, die Möglichkeit eines alternativen Verlaufs anzudeuten, d.h. der Dialektik des (erzählten) Schicksals Rechnung zu tragen: Es musste so kommen, aber beinahe wäre alles ganz anders verlaufen.

(Siehe auch: mein kleiner Text über Imamuras INSECT WOMAN)

09 März, 2017

Warme Körper, kalte Blicke


Richard Mosse hat Flüchtlinge auf dem Mittelmeer mit einer Wärmebildkamera fotografiert. Vielleicht ist es kein Zufall, dass die technischen Augen, einer anderen Logik gehorchend, den unsagbaren Schrecken der Ereignisse so plastisch werden lassen.


(Mosses Buch, INCOMING, wird zum Beispiel im Perlentaucher besprochen.)