26 Dezember, 2016

Krabbeneimer

Natürlich, man kann auch ganz ohne Preise erfolglos sein, aber die Kombination aus „ausgezeichnet” und „arbeitslos” hat eine schönere Pointe. Sind Preise eine Garantie für Misserfolg? 

Dass es Berührungsängste gibt mit den Ausgezeichneten, eine gewisse Karenzzeit lang, hört man immer wieder. Vielleicht glauben manche, der oder die Geehrte sei mit dem Preis so gefragt oder anspruchsvoll geworden, dass man nur mit ganz besonderen Projekten und überdurchschnittlichen finanziellen Bedingungen anklopfen dürfe.

Aber das stimmt nicht, sagt zum Beispiel ..., der auf einen Anruf wartet, seit er ... und ... in Folge gewonnen hat. Für mich gehört er zu den größten Könnern hierzulande, mehr noch, zu jener Handvoll europäischer Meister, die visuelle Maßstäbe setzen. Wie kann es sein, dass er keine Angebote bekommt? 

Es gibt größere Ungerechtigkeiten. Aber womöglich ist der „Fall” ... symptomatisch: Nicht so sehr für die vielzitierte Deutsche Neidkultur als für jene (scheinbar) demokratische Idylle, die von keiner Hervorhebung gestört werden will. So lange keiner über den Rand des Krabbeneimers kommt, muss sich niemand in seiner Mittelmäßigkeit angegriffen fühlen.

Die Idee eines Siegers in der Kunst sei absurd, hat Maren Ade bei der Verleihung des Europäischen Filmpreises richtig angemerkt - aber das heißt ja nicht, dass es keine schlechte Kunst gäbe. 

Kurz gesagt leidet der deutsche Film noch immer unter falscher Bescheidenheit. Unserem Kino fehlen die feurigen Angeber so sehr wie die strengen Asketen; wir sitzen zu nahe beieinander, mit Beißhemmung aber ohne echte Zuneigung.

01 Dezember, 2016

Bewegung gegen Bewegung (3)

© Barbara Kruger 

Das Kino liebt die Tat, schlägt sich auch dann noch auf die Seite der Bewegung, wenn sie keine guten Gründe hat, vielleicht, weil ein Medium, das auf die Trägheit unserer Augen baut, den Stillstand fürchten muss. 

Im wirklichen Leben fällt uns der Aufbruch schwerer, auch als ungebrannte Kinder scheuen wir das Feuer und sind alle „stark genug, das Unglück anderer zu ertragen”, wie La Rochefoucauld einmal geschrieben hat.

Und dennoch: Wäre die Welt nicht friedlicher, wenn so mancher auf dem Sofa sitzen bleiben würde? Ist Reife nicht oft einfach nur: Trägheit? Und Reflexion die Verteidigung derselben? Demnach wäre der Film ein Friedensbringer, weil die Bewegungsillusion den Bewegungsdrang vermindert.


Ich sehe eher ein Nullsummenspiel. Ein guter Film entfaltet seine Wirkung im Leben, nach dem Sehen. Aber wer dem Film nicht auf halber Strecke entgegenkommt, hat Lebenszeit verloren.

18 November, 2016

Magnetsinn

René Magritte: La Reproduction interdite (1937)

Mein Vater hat einmal einen Erlebnisbericht zu einem Buch beigesteuert, in dem es um das Wirken von Schutzengeln ging. Ganz unironisch. Seine Geschichte handelt davon, wie er als Kind, beim Schlittenfahren auf Münchens Schuttbergen, einer plötzlichen Eingebung folgend sich von seinem Stammberg entfernte, um eine Abfahrt auf einem anderen, eigentlich ungeliebten Hügel zu versuchen. Diese „Entscheidung” hat ihm möglicherweise das Leben gerettet, denn der vertraute Hügel brach nur Momente später in sich zusammen und begrub einige Schlittenfahrer unter sich.

Ich glaube nicht an Schutzengel, aber mein Verhältnis zu Wegen, die ich häufig gehe, etwa von der Kita meines Sohnes zu meinem Büro, ist von solchen „Eingebungen” nicht frei. Immer wieder passiert es, dass ich eine bestimmte Route meide, die Straßenseite wechsle, Umwege in Kauf nehme, aus einem nicht näher bestimmbaren Magnetsinn heraus. Ich warte durchaus nicht darauf, dass ein Unglück meine Ahnungen bestätigt, eher fühle ich mich wie ein Schwimmer im Strom der Zeit, der versucht, sich in den sauerstoffreichen Wirbeln zu halten. 

Vielleicht ist mir die Figur des Kutusow in Tolstois geschichtspolitisch so fein schattiertem Roman Krieg und Frieden deshalb so nahe gegangen: sein Genie scheint nichts weiter zu sein als die Fähigkeit, der Vorsehung nicht im Wege zu stehen. Während die brillanten Pläne des Feindes bei Tolstoi an der Trägheit der Wirklichkeit zerschellen, führt Kutusow die in jeder Hinsicht unterlegenen russischen Truppen zum Sieg, indem er sich eben dieser Trägheit ergibt. In der Regiearbeit ist es mitunter ähnlich, glaube ich. Die brillanten Einfälle sind oft zu unbescheiden der Wirklichkeit gegenüber; die größten Geschenke werden einem zu Teil, wenn man aufhört, sie zu fordern.

Über Filmmusik

Filmmusik arbeitet oft wie ein Hirtenhund, der die Herde, das Publikum, ins „richtige” Gefühl hetzen soll. Die meisten Filmmusiken jedenfalls wollen den Zuschauer vorwarnen, abholen, mitnehmen. Viel zu oft handelt es sich um „Muzak”, Gebrauchsklang, wie wir ihn aus Aufzügen oder Hotellobbys kennen.

Ich interessiere mich für Musik, die meinen Film nicht braucht, die nicht von vorne herein in einem dienstbaren Verhältnis zum Bild steht. 

Benedikt Schiefer, mit dem ich seit über 15 Jahren zusammenarbeite, ist ein Schönheitssucher, zur Hälfte aus der Zeit gefallen, zur anderen hypermodern. Dieser Widerspruch verbindet uns. 

Seine Arbeit beginnt lange vor dem Schnitt, ja manchmal bevor es ein fertiges Drehbuch gibt. Er komponiert entlang seiner Fantasie, für meinen Film, inspiriert von einer Geschichte, aber ohne konkrete Hinweise auf die Verwendung. 

Wir sprechen „unterwegs” über Klangfarben, über Instrumentierung, nur selten über Vorbilder. Es kommt vor, dass er mir am Telefon auf dem Klavier ein Motiv vorspielt. Ich besuche ihn in seinem Studio, wir hören uns Musik an, von ihm und von anderen. Am Ende dieses Prozesses steht eine ganze Fülle von Material, in mehr oder weniger roher Form. Mit diesem Material arbeiten wir, das heißt Stefan Stabenow und ich, dann im Schnitt. 

Das ist für mich die aufregendste Phase: wie sich Bilder, Szenen, Sequenzen durch Musik unverhofft verändern, aufladen, wie unsere Aufmerksamkeit verschoben wird. Oft verwenden wir die Musiken ganz anders, als von Benedikt imaginiert. 

Wenn die Auswahl und der Einsatz der Musik sich dann im Schnitt verfestigt hat, geht das Material zurück zu Benedikt und er verfeinert, spielt ein, mischt ab usw. Auch in dieser Phase entsteht noch Neues. Musiken kommen hinzu, andere fallen weg. 

Eine Musik ist dann gut für mich, wenn sich eine Szene, oder besser: unsere Wahrnehmung dieser Szene, durch sie verändert. Meine Maxime heißt: Verführung zur Aufmerksamkeit. Gute Musik hebt unsere Aufmerksamkeit auf ein anderes Niveau. Das Verhältnis der Musik zum Bild kann dabei kontrapunktisch sein oder parallel gehen, wichtig ist nur, dass sie nie das Bild doppelt, im Bild aufgeht, sich zum Sklaven macht. 


(Geschrieben anlässlich einer Veranstaltung des Goethe Institut Paris) 

Une Alchimie particulière

Der Komponist Benedikt Schiefer.

Das Goethe Institut Paris veranstaltet aktuell eine kleine Reihe zum Thema Filmmusik: „FILM ET MUSIQUE – UNE ALCHIMIE PARTICULIÈRE”. Im Mittelpunkt stehen Filmmusiken der legendären deutschen Formationen Tangerine Dream, Popul Vuh und The Can.


Am 8.12.2016 wird der Komponist und Musiker Benedikt Schiefer Motive seiner Musik für mein Debüt MILCHWALD in einem DJ-Set neu arrangieren. Anschliessend wird der Film selbst (auf 35 mm) zu sehen sein, gefolgt von einem Gespräch über Benedikts Arbeitsweise.

12 November, 2016

Augen der Angst



Ben Rivers' schöne Horror-Montage, TERROR betitelt, haben wir im UdK-Seminar gezeigt vor ein paar Wochen. Mir gefällt, wie das Alltägliche durch die Augen der Angst seine Selbstverständlichkeit verliert – was in der Wiederholung nicht nur unheimlich, sondern auch komisch wirkt. Lichtschalter, Anlasser, Türgriffe versagen reihenweise ihren Dienst, Kommunikation überhaupt scheitert. Wunderschön die Galerie ins Leere gesprochener Namen...
Wenn der „Terror” dann endlich kommt, wohnt auch der Gewalt etwas zutiefst Lächerliches inne; sie erschreckt uns vielleicht, löst zugleich aber die Anspannung und zerstört in der Konkretion unsere Phantasmen der Angst.

10 November, 2016

the man we love to hate

Hat als Man you love to hate Karriere gemacht: Erich von Stroheim, 
hier in FOOLISH WIFES, 1922.

Der Witz einer Wahl ist Wechsel. HRCs 'more of the same'-Message – aus der zunehmend ein 'not Trump' wurde - war viel weniger zur Mobilisierung geeignet als Trumps deftiges und zugleich ausgesprochen vages 'Fuck you' (oder auch Sanders' sozialdemokratisches Projekt). Dann waren da noch: das FBI, Putin und Wikileaks. Und nicht zuletzt die Darstellungsprobleme weiblicher Autorität in den USA. Kurz: HRC hatte es denkbar schwer. Ausschlaggebend für Trumps Sieg war glaube ich trotzdem etwas anderes. Ich spreche jetzt nicht von der 'Wut abstiegsbedrohter weißer Männer'. Auch das Narrativ von der 'unheilvollen Macht der Filterblasen' halte ich für leicht überschätzt, auch wenn die Verstärkereffekte der sozialen Netzwerke wichtig sind. Mir schien diese US-Wahl als ein Novum insofern, als die Verschmelzung von Unterhaltung und Information noch nie so nahtlos war. In dieser neuen Aufmerksamkeitsökonomie war beinahe alles an Trump „newsworthy”, (d.h. dreist, lustig, makaber, peinlich, empörend, kurz: teilbar, und zwar ganz unabhängig von der eigenen politischen Haltung), aber kaum etwas von dem, was HRC je gesagt oder getan hat. Trump, das Schwein, der Protofaschist, der Lügner und Knallkopf wurde zum man we love to hate, weil er uns unterhalten hat, weil er noch nach Monaten seiner Horrorclownroutine in der Lage war, unsere Erwartungen zu unterbieten. Was im Kontext des alten Modells von Information disqualifizierend gewesen wäre, war jetzt Futter einer so unterhaltungshungrigen wie unterhaltungsseligen Welt. Neil Postman, anyone?

04 November, 2016

01 November, 2016

Goldene Regel (17)




„TRÄNEN ENTSPRINGEN NICHT DEM SCHMERZ, SONDERN SEINER GESCHICHTE” 
(Italo Svevo, „Zenos Gewissen”)

*)

Dirk Bogarde in MORTE A VENEZIA (Luchino Visconti, Italien 1971)
Mickey Rourke in THE WRESTLER (Darren Aronofsky, USA 2008)
Johnny Depp in CRY-BABY (John Waters, USA 1990)


Die Bilder stammen aus Leonie Seibolds Facebook-Album „Boys don't”.

31 Oktober, 2016

Eine Szene ...




Als „Single-Auskoppelung” eines Dokumentarfilms über die „Berliner Schule” (Regie: André Hörmann und Nadya Lueg) – der am 11. Januar 2017 auf ARTE zu sehen sein wird – hier ein Clip, in dem Christian Petzold und ich über eine Szene aus Michael Manns Kinodebüt THIEF sprechen (wie wir das in ähnlicher Form einmal mit einer Szene von Dominik Graf gemacht haben)
Danke, André Hörmann, Josephine Lange (Schnitt).

27 Oktober, 2016

Manfred Krug (1937-2016)

In der Rolle seines Lebens: Manfred Krug als Hannes Balla.

Der tolle Manfred Krug ist tot. „Mit dir würde ich mir sogar nen DEFA-Film ansehen.” sagt er, unnachahmlich frech, zu seiner „kleinen Chefin”, in Frank Beyers großem SPUR DER STEINE. Umgekehrt wird ein Schuh daraus: er war es, der uns für das Kino der DDR gewonnen hat – mit einer Leichtigkeit, die für Deutsche eigentlich nicht vorgesehen war.

Kein Wunder, dass er auch als Musiker schwebte. Schlager, hat er einmal gesagt, sei „Musik zum Verzehr”. Seine swingenden Süßigkeiten standen nicht nur im Osten hoch im Kurs. Für meinen DREILEBEN-Film, EINE MINUTE DUNKEL, wollte ich ein Lied von ihm verwenden: „Vor einem Jahr”, in einer Liveaufnahme des polnischen Fernsehens aus dem Jahr 1963. Die Rechte lagen bei Krug selbst. Er meldete sich per Fax und wollte wissen, warum gerade dieses Stück.

Ich schrieb ihm: „Zuerst, weil es schön ist. Und weil es dem, der es hört, Gefühle zuspricht. In der betreffenden Szene geht es um einen Kommissar (gespielt von Eberhard Kirchberg), der wörtlich und sprichwörtlich das Gleichgewicht verliert - und zum ersten Mal die Methoden der Ermittlung in Frage stellt. Der Film aber ist kein Krimi. Eher ein Doppelportrait - der Flüchtige, der Ermittler, zwei Männer in der Krise, die auch Freiheit bedeutet. Das Lied führt ihn zu seinen Gefühlen zurück. Es soll das einzige Stück im Film sein, das nicht identisch ist mit der Filmmusik (die Bert Wrede gemacht hat), das einzige Stück, das eine eigene Geschichte hat sozusagen. Es ist mir also sehr wichtig.”

Er rief mich dann an und erlaubte die Verwendung, obwohl er die Studioversion des Liedes „viel schöner” fand. Die rhythmischen Geräusche in der TV-Aufnahme, klärte er mich auf, gingen auf seine „idiotischen” Manschettenknöpfe zurück, die immer wieder in Konflikt mit der Gitarre gekommen waren. Aber das störte mich nicht. Die Live-Version rührte mich tiefer, vielleicht, weil einer Stimme, die sich ohne Orchesterbegleitung behaupten muss, eine andere Erregung inne wohnt. 

Wir unterhielten uns ein paar Takte. Ich habe ihm sofort vorgeschlagen, ein Gespräch für Revolver aufzunehmen. Der heimliche Plan aber war es, ihn eines Tages noch einmal vor die Kamera zu bringen (Benjamin Heisenberg hat es wenig später auch versucht). Er war durchaus neugierig, liess sich das Heft schicken, aber sein Beschluss, keine Interviews mehr zu geben, war so unverrückbar wie der Rückzug aus dem Schauspiel. Schade. 

Er war ein Gigant und wir – waren zu spät geboren, um ihn noch einmal aus der Reserve zu locken. Mach's gut, zärtlicher Riese! Und danke für alles.

20 Oktober, 2016

Laudatio für Claire Denis

Good evening, ladies and gentlemen
Dear Claire






William S. Burroughs once famously wrote:
“After one look at this planet 
any visitor from outer space would say 
'I want to see the manager.” 

If we look at the state of things 
on this planet today, 
Burroughs’ line has lost nothing of it’s punch
but really Mr. Burroughs
what’s the use to speak to the manager?

If you don’t want to hear excuses, 
if you really want to know what time it is,
if you want to know 
whatever holds the world together in its inmost folds

the visitor from outer space 
should go to the movies instead
and see Claire Denis’ films
and you should, too.

I will tell you why:
To learn about beauty.

'But what is beauty?' the visitor from outer space might ask.
Does it even matter in light of all this violence and ugliness?

I will try to give you a simple answer. 

(I have been told I have five minutes)

Beauty is a conspiracy.
It goes beyond reason.

We don’t know why we know 
that something is beautiful.

We just know.

Beauty seduces us to attention
for the fragility of life
it seduces us to tenderness.

Beauty is not pretty.

There is beauty in danger and
there is danger in beauty

and that’s what Claires films are all about for me.

A seduction 
to walk on the wild side of 
our imagination

in order to see 

beauty in danger and
danger in beauty,

the ambivalence of our existence.

19 Oktober, 2016

Heimkommen

Auf Einladung von Cristina Nord habe ich eine Filmreihe zusammengestellt über das „Heimkommen” als einer „Tendenz in deutschen Filmen”, die im Dezember 2016 in der Cinematek Brüssel zu sehen sein wird. Einige der insgesamt 16 Filme werde ich persönlich vorstellen, vier meiner eigenen Filme werden außerdem gezeigt.

Die Filme der Reihe, die zwischen 1934 und 2014 entstanden sind, behandeln auf höchst unterschiedliche Weise die Sehnsucht, Angst oder Hoffnung des Heimkommens. Aber Rückkehr in der deutschen Geschichte bedeutet eben immer auch das Risiko, nichts von dem Erwarteten wiederzufinden, und sei es, weil die „Heimat” von Vorne herein Fiktion oder Konstruktion war.


In der Zusammenstellung der Filme bin ich von „gegenmagnetischen” Filmpaaren ausgegangen, die die Kraft- und Bruchlinien deutscher Geschichte besonders deutlich sichtbar werden lassen. Das sind meine (imaginierten) Paare:


DER VERLORENE SOHN (Trenker) / STROZEK (Herzog)

Zwei Deutsche in den USA, auf der Suche nach dem Glück.


Der verlorene Sohn von Luis Trenker (DR / USA 1934) – spielt 1934

Trenker spielt Tonio, der nach einem Bergunglück nach New York geht, im Schatten der Hochhäuser aber erkennt, dass die Dolomiten seine wahre Heimat sind. Die mit versteckter Kamera gedrehten Elendsszenen waren laut Rossellini „wegbereitend” für den Neorealismo und Grund für das Verbot des Films ’45.

&

Stroszek von Werner Herzog (1977) – spielt 1977

Bruno Stroszek (in Variation seiner selbst), Straßensänger, verläßt Berlin, um sein Glück in Amerika zu suchen. Zusammen mit der Prostituierten Eva (Eva Mattes) und seinem Nachbarn landet er in Wisconsin. Doch das Glück bleibt aus. Karge, herzzerreissende Moritat zwischen Dokument und Erfindung.



DECISION BEFORE DAWN (Litvak) / ICH WAR NEUNZEHN (Wolf)

Zwei Deutsche, die mit dem Feind, als Feinde, nach Deutschland zurückkehren.


Decision before dawn von Anatole Litvak (1951) — spielt 1944

Oskar Werner lyrisch ernst als Kriegsgefangener, der sich der US-Army zur Verfügung stellt, Stellungen in der Heimat auszukundschaften. Der Blick auf Deutschland, der so entsteht, ähnelt einem Tauchgang. Gerade weil die äussere Handlung eher unspektakulär bleibt, erscheint jeder Blick gefährlich.

&

Ich war neunzehn von Konrad Wolf (1968) — spielt 1945

Konrad Wolf erzählt entlang ähnlicher, eigener Erfahrungen, wie ein junger Deutscher mit der Roten Armee nach Deutschland zurückkehrt. Jaeckie Schwarz gibt „Gregor Hecker” überzeugend brüchig als eine Art kulturelles Waisenkind, das nur zögernd begreift, was ihn dieses verheerte Land angeht.


DER VERLORENE (Lorre) / PHOENIX (Petzold)

Wie das Überleben überleben?

Phoenix von Christian Petzold (2014) — spielt 1945

Wie das Überleben überleben? Die Jüdin Nelly kehrt aus dem Lager mit einem anderen Gesicht zurück in ihre alte Welt. In einer Art Frankenstein-Technik setzt der Film seine Fragen an die Geschichte zusammen, so dass die Geister anderer Geschichten, realer, geträumter, gefilmter, in ihr aufscheinen.

&

Der Verlorene von Peter Lorre (1951) — spielt 1943/1945

Peter Lorre spielt in seiner einzigen Regiearbeit Dr. Rothe, einen Serumforscher, der seine Verlobte im Affekt tötet, aber nicht verurteilt wird, weil seine Arbeit als „kriegswichtig” gilt. Sein quälendes Schuldgefühl überlebt den Krieg – und wird umso mehr als ansteckend und unerwünscht empfunden.


ALICE IN DEN STÄDTEN (Wenders) / SABINE KLEIST, 7 JAHRE (Dziuba)

Kann man sein Zuhause wählen?


Alice in den Städten von Wim Wenders (1974) – spielt 1974

Wim Wenders’ zärtlichster Film beschreibt die Rückkehr von Philip Winter (Rüdiger Vogler) nach Deutschland als eine tastende Bewegung. Das ihm anvertraute Kind – und dessen nur ungefähre Kenntnis der Heimat, auf der Suche nach dem Haus ihrer Großmutter – ist dabei Katalysator der (Selbst-) Findung.

&

Sabine Kleist, 7 Jahre von Helmut Dziuba (DDR 1982) – spielt 1982

Bei einem Unfall verliert Sabine ihre Eltern. Im Kinderheim wird die Erzieherin Edith ihre wichtigste Bezugsperson. Als Edith schwanger wird und den Beruf aufgibt, reagiert Sabine verzweifelt und reißt aus dem Heim aus. Was Dziubas Kinderfilme hervorhebt ist ihre Offenheit für die Möglichkeiten seiner Darsteller.


URLAUB AUF EHRENWORT (Ritter) / BUNGALOW (Köhler)

Soldaten auf der Suche nach einem Grund, zurückzugehen.

Urlaub auf Ehrenwort (DR 1938) von Karl Ritter — spielt 1918


Ende des 1. Weltkriegs: Ein Zug deutscher Soldaten passiert die Stadt Berlin. Vier Ortsansässige erhalten „auf Ehrenwort” Urlaub. Jeder der Männer muss einen Grund finden, das Versprechen zu halten. Propagandistischer Episodenfilm, in der die Abstraktion „Heimat” über die Konkretion „Zuhause” siegt.

&

Bungalow von Ulrich Köhler(2002) – spielt 2002

Köhlers Debüt hat die Schönheit eines Popsongs. Wie Bartleby bei Melville ist auch Paul weniger Verweigerer als Verzögerer. Er entfernt sich „unerlaubt von der Truppe”, aber geht nicht nur dem Kriegsdienst, sondern jeder Festlegung aus dem Weg. Doch auch Zuhause ist kein Platz für Ausweichbewegungen.



ABSCHIED VON GESTERN (Kluge) / PAUL (Lemke)

Zwei Misfits, die die Klassenfrage stellen.


Abschied von gestern von Alexander Kluge (1966) – spielt 1966

Ein Kaleidoskop der Widersprüche: Anita G. (Alexandra Kluge), als Kind jüdischer Eltern in Leipzig geboren und in der DDR aufgewachsen, versucht in der Bundesrepublik Fuß zu fassen. Doch das Land spricht eine andere Sprache. „Uns trennt von gestern kein Abgrund, sondern die veränderte Lage“ (Kluge).

&

Paul von Klaus Lemke (1974) – spielt 1974

Aus einer ganz und gar formelhaften Situation – ein Gangster wird aus dem Knast entlassen und will alte Rechnungen begleichen – entwickeln Klaus Lemke und sein wunderbarer (Selbst-) Darsteller Paul Lyss das Maximum an lustvoller, wahnsinniger Unberechenbarkeit. 

HEIMKEHR (Ucicky) / UNTER DEN BRÜCKEN (Käutner)

Die Gewalt der Konstruktion gegen das Fliessende: Gegensätze im NS-Kino.

Heimkehr (1941) von Gustav Ucicky — spielt 1939


Die besondere Infamie dieses Films liegt in seinem antisymmetrischen Verhältnis zur Wirklichkeit: fanatische Polen verfolgen unschuldige Deutsche. Die so konstruierte „Sehnsucht nach Heimkehr” sollte die Zwangsumsiedlung der Wolhyniendeutschen, Folge des Hitler-Stalin-Paktes, rechtfertigen.


&

Unter den Brücken von Helmut Käutner (1944) – spielt 1944

Der Film handelt von der Unmöglichkeit der Heimkehr auch insofern, als die deutschen Städte während der Dreharbeiten schon Ruinen waren, was sich aus der Perspektive „unter den Brücken” gerade noch verbergen liess. Man drehte weiter, um gegen den Krieg zu träumen und um nicht kämpfen zu müssen.


DIE EHE DER MARIA BRAUN (Fassbinder) / DIE UNERZOGENEN (Marais)

Gesellschaft als ein Rahmen, in dem Gefühle stören.


Die Ehe der Maria Braun von Rainer Werner Fassbinder (1979) — spielt 1943-1954

„Es ist eine schlechte Zeit für Gefühle“ sagt Maria Braun (Hanna Schygulla). Im Glauben, ihr Mann sei gefallen, geht sie pragmatische Allianzen ein, die sie materiell absichern. Aber Herrmann kommt zurück. Fassbinders Geschichten sind immer schon Historienfilme: sie interessieren sich dafür, woher die Gewalt kommt – und wie sie sich fortsetzt.

&

Die Unerzogenen von Pia Marais (2007) – spielt 2007

Stevie (C. Chuh) wächst ohne festes Zuhause auf. Mit wechselnden Freunden driftet ihre Familie durch Europa. In einem Kölner Vorort kommt die Karawane plötzlich zum Stehen. Ein Film über Eltern, deren Rebellion von Tag zu Tag kindischer, und über ein Kind, deren Sehnsüchte immer erwachsener werden.


26 September, 2016

Der Schatz

Toma Cuzin, Adrian Purcarescu

Am Sonntag, den 9.10.2016 werde ich mit dem rumänischen Regisseur und Autor Corneliu Porumboiu über seinen neuen Film COMOARA („Der Schatz”, 2015) sprechen. Beginn: 18 h. Gespräch nach dem Film. Ort: FSK Kino Berlin. Danke: Grandfilm und Rumänisches Kulturinstitut.

14 September, 2016

Spyder

„Jack und Bill”, so hiess das karge Drehbuch, das Generationen von HFF-Studenten umzusetzen hatten. Dieser erste gemeinsame Film sollte nach Möglichkeit die ganze Welt filmischer Mittel enthalten, von der Schärfeverlagerung bis zur Schienenfahrt. Die Positionen wurden gelost. Ich war Grip, auf deutsch: Kamerabühne, und also für Schiene und Dolly zuständig. Die Enttäuschung, nicht das Regie-Los gezogen zu haben, zerstreute sich bald angesichts des sinnreich konstruierten Kamerawagens, einem Elemack Spyder, der angeblich aus alten Cinecittà-Beständen stammte – aber vielleicht habe ich diese Herkunft auch nur geträumt. Die Vorstellung jedenfalls, ein Gerät zu bedienen, mit dem zuvor vielleicht Giuseppe Rotunno, Pasqualino de Santis oder Carlo Di Palma gearbeitet hatten, Kameragötter des von mir so verehrten italienischen Kinos, verlieh meiner Aufgabe utopischen Glanz.

Der Elemack Spyder, 1962 von Sante Zelli entworfen, war ein revolutionäres Gerät. Er brach mit der schweren Tradition der alten Dollys, die ihre Abstammung von Bombenhebern nicht leugnen konnten und in Originalmotiven nur mit Mühe einsetzbar waren. Aber der Spyder war nicht nur leichter, ohne weiteres von zwei Personen zu tragen, er war vor allem schnell und flexibel. Die Säule zur Aufnahme der Kamera liess sich hydraulisch, mit einer Fußtaste, heben und senken. Die Gummiräder konnten mit wenigen Handgriffen auf Schienenräder umgerüstet werden. Die Beine liessen sich, von einer Kette synchronisiert, in verschiedene Positionen bringen, etwa wenn man nicht die volle Schienenbreite zur Verfügung hatte. Auch die Steuerung der Räder, ihre Lenkbarkeit, war variabel: Allrad- oder Zweiradlenkung. All diese Eigenschaften scheinen heute selbstverständlich, weil sie in den Produkten von Panther, Chapman, Movietech & Co weiterleben. Aber begonnen haben sie mit Sante Zelli und anderen erfinderischen Geistern seiner Zeit.


    
Elemack Spyder bei Storaro/Coppola (APOCALYPSE NOW, Key Grip: Alfredo Marchetti) ...
Alcott/Kubrick (BARRY LYNDONKey Grip: Tony Cridlin & Luke Quigley) ...
Chapman/Scorsese (TAXI DRIVER, Key Grip: Robert Ward) ...
Nykvist/Tarkowski (OFFRET, Key Grip: Daniel Bergman) ...
Di Venanzo/Fellini (8 1/2, Key Grip: ?) ...
... und Rescher/Newman (RACHEL, RACHEL, Key Grip: Larry Barr).

Natürlich muss ein Regisseur, wenn es um die Werkzeuge der verschiedenen Gewerke geht, nicht bis ins Detail Bescheid wissen. Aber Filmgeschichte ist immer auch Technikgeschichte. Der Spyder steht in einer Reihe mit vielen anderen Innovationen der 60er Jahre, die es erlaubten, mit dem Kino „auf die Straße” oder on location zu gehen. Tragbare Kameras und Tonaufnahmegeräte, kleine, bewegliche Leuchten oder auch nur: Funkgeräte haben das Kino damals stark verändert – und prägen unseren Realismusbegriff bis heute. Noch immer erscheinen uns zum Beispiel die Artefakte, die der direkte Lichteinfall in die Linse hervorbringt, „lens flares”, als authentisch, weil die mobile Handkamera mit kleinem Kompendium in den 60ern diesen Fehler als Ausweis besonderer Unmittelbarkeit durchgesetzt hat.

Und so finden sich in meinem letzten Film nicht nur lens flares, auch schienengeführte Kamerafahrten spielen, zum ersten Mal bei mir, eine zentrale Rolle. Die oben erwähnte „ganze Welt filmischer Mittel” will erarbeitet sein. Meine Erfahrungen am Dolly, die sich während des Studiums in einigen anderen Hochschulfilmen fortgesetzt hatten, reichten bei weitem nicht aus, um unserem hervorragenden Bühnenmann, Kenneth Cornils, hilfreiche Ratschläge zu geben. Aber mein Respekt für seine Arbeit wäre wohl nicht der gleiche gewesen ohne die Faszination für den Spyder. Danke, Sante Zelli.

04 September, 2016

höchst lebendig begraben?

„In der Redewendung von Papas Kino, das tot sei, steckte schon die Vorfreude auf eine Verdrängungsleistung. Der Vatermord konnte ausbleiben. Denn nicht die Vaterrolle galt es einzunehmen, sondern die Stelle des Erziehers zum Besseren. So haben Filmemacher in Deutschland ihr finanzielles Auskommen heute nur als Unterrichtende an einer Filmhochschule, als Lehrer, Lektor, Dozent oder Rektor.

Die Liebe zum Vater/Staat ist der blinde Fleck des deutschen Vergangenheitsbewältigungsstolzes. Dahinter verbirgt sich noch ein zweites Geheimnis. Das alte Kino war nicht Papas Kino, es war Mamas Kino. Und als das junge Kino das Neue sein wollte, war das alte noch längst nicht tot. Mamas Kino wurde höchst lebendig begraben.”

... schreibt Rainer Knepperges in seinem Beitrag „Mamas Kino lebt!” im Katalog zur Locarno-Retro „Geliebt und verdrängt”. Guter Text (auch wenn mir das Pendel inzwischen zu sehr ins Anti-Oberhausenerische schlägt).

31 August, 2016