Ein Haus zu bewohnen heißt, es zu kritisieren (etwa, indem man sich den Kopf stößt).
Einen Film zu sehen heißt, ihn zu kritisieren (etwa, indem man an der falschen Stelle lacht).
22 Februar, 2014
Schön gedacht
Man liest so oft davon, dass berühmte Regisseure einer bestimmten Generation für Jahre jede Vorstellung der Cinémathèque française (zum Beispiel) besucht hätten. Der verklärende Tonfall einer „magischen” Autobiografie verlangt die Behauptung, „keine Vorstellung jemals” versäumt zu haben. Nicht nur habe ich Schwierigkeiten, das zu glauben - das Wahllose erscheint mir auch als abschreckendes Ideal. Eher würde ich lesen wollen: „wir sind vor lauter Sprechen nicht dazu gekommen, die Filme zu sehen, und haben sie uns schön gedacht.”
16 Februar, 2014
Zement
Ich war heute im Konzerthaus und habe mir, vor der Vorstellung, die Gipsbüsten der „ewigen” (deutschen) Komponisten angesehen. Bach, Haydn, Telemann ... Übertragen aufs Kino würden da also hängen: Lang, Murnau, Pabst ... Was für ein Unsinn, diese Art der Zementierung. Wer die Unordnung der Kunst nicht erträgt, tut ihr Gewalt an.
(Wieder-) Gesehen [5]
O SOM AO REDOR (Kleber Mendonça Filho, Brasilien 2012)
Bei der Arbeit an UNTER DIR DIE STADT sprachen Ulrich Peltzer und ich immer wieder von dem Wunsch nach einer panoramischen Erzählung, in der Individualgeschichten nur als „die zufälligen Vergrößerungen” eines größeren Geflechts erscheinen, ohne deshalb ins Episodische auszufransen. Filho verfolgt in seinem beeindruckenden Debüt einen verwandten Ansatz. Er interessiert sich für ein bestimmtes Segment der brasilianischen Gesellschaft, die gehobene städtische Mittelklasse in Recife und ihr Verhältnis zur Unterschicht. Die Angst erscheint zugleich als sozialer Kitt und Sprengstoff, und sinniger Weise ist es der Sicherheitsmann, der sich schliesslich als Racheengel erweist. Trotzdem hat mich der Film unbefriedigt zurückgelassen, vielleicht weil die Einzelteile – mit Ausnahme der Geschichte des wohlhabenden Liebhabers – nicht weit genug über ihre Beispielhaftigkeit hinausgehen.
THE INNOCENTS (Jack Clayton, GB 1961)
Faszinierend, wie rasch man trotz der Überfülle „gothischer” Klischees – das einsame Schloß, die verschwundene Vorgängerin, das verbotene Zimmer usw. – zusammen mit der Hauptfigur in das Reich der Vorstellung gelangt, sehenden Auges. Und obwohl ihre Version der Ereignisse alles andere als zuverlässig ist, habe ich mich von der Angst so anstecken lassen, dass ich zwei, drei Mal wirklich tief erschrocken bin.
SERPICO (Sydney Lumet, USA 1973)
Lumet gelingt das Kunststück, einen Film zu machen, der beinahe nur aus Exposition besteht, ohne dass ich je die Sehnsucht hatte, der Plot möge „zum Punkt” kommen. Thema ist das System der (Polizei-) Korruption, wobei die widerständige Hauptfigur beinahe unberührt von den Ereignissen zu bleiben scheint. Figurenzeichnung und Handlungsgefüge widersprechen sich an dieser Stelle, der Charakter ist künstlicher als sein Leben, vielleicht weil Lumet sein Schicksal – das auf wahren Begebenheiten beruht – in eine politischen Utopie umformen möchte. Zugleich hält ihn Pacinos Spiel überaus lebendig. In seiner „seriellen” Dramaturgie wie auch thematisch erinnert der Film an THE WIRE, hat visuell allerdings eine erheblich größere Tiefe.
SECONDS (John Frankenheimer, USA 1966)
Hier ist die Paranoia Form geworden: Extreme Brennweiten, körperlose Bewegungen, Kontrastmontagen, gleissendes Licht. SECONDS – der Titel bezieht sich auf die Möglichkeit eines zweiten Lebens – schillert zwischen existenzieller Innenansicht und spekulativer Genreübung; Frankenheimer erzählt die Gegenwart als Science Fiction, bleibt im Dekor jedoch ganz naturalistisch. Der Film hatte offenbar Vorbildcharakter für BEING JOHN MALKOVICH (der sich in vielen Details, bis hin zu bestimmten Besetzungsentscheidungen, an den Film angelehnt hat), aber anders als bei Kaufman / Jonze läuft die Sache nicht auf einen Witz hinaus, sondern wird zum blanken Horror. Wenn gegen Ende die Steigerungslogik einbricht, habe ich das fast als Trost empfunden, weil das Unbehagen zuvor so groß war.
WAKE IN FRIGHT (Ted Kotcheff, Australien 1971)
Eine Australien-Horrorshow mit erwartbaren Zutaten aber in überraschender Ausführung. Der junge Lehrer, eine typische Stellvertreterfigur, den die Schulbehörde irgendwo ins outback beordert hat, hofft, wenigstens seine Ferien in der Zivilisation verbringen zu können. Aber je größer sein Drang, dem staubigen Nichts zu entkommen, desto unmöglicher scheint die Flucht. Der Kontrast zwischen „Weißbrot” und Rednecks ist gesucht, aber die verwilderten Männer, mit denen der Lehrer es zu tun bekommt – allen voran Doc, Arzt und Alkoholiker (Donald Pleasence) - werden erschreckend plastisch als Verzweifelte, die sich in seelischer Notwehr in den Stumpfsinn flüchten. Der Film kulminiert in einer sinnlosen Känguru-Jagd, die an (realer) Grausamkeit schwer zu überbieten ist.
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Wake in Fright
14 Februar, 2014
Trauner
Bilder:
1 + 5: QUAI DES BRUMES, 1938 (Regie: Marcel Carné)
2 + 3 (Detail): SUBWAY, 1984 (Regie: Luc Besson)
4: DU RIFIFI CHEZ LES HOMMES, 1954 (Regie: Jules Dassin)
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