Dreharbeiten zu UNTER DIR DIE STADT.
Die Strapaze des Drehens wird gerne besungen, und natürlich hat es seinen Reiz, mit einer eingeschworenen Gemeinschaft und schwerem Gerät auszuziehen, um „große Bilder” zu schiessen... Gleichzeitig ist es mir zuwider, die logistischen Fesseln, die Trägheit des Apparats, kurz: die tausend Kompromisse, die mit der klassischen Arbeitsweise einhergehen, im Namen der Romantik einfach zu schlucken. Wie könnten Alternativen aussehen?
Ich fürchte, ich muss kurz auf das ewigjunge Modewort Improvisation zu sprechen kommen, einfach, weil wir alle die Reklame dafür im Ohr haben. Fraglos ist, dass jeder künstlerische Prozess spontane, unwillkürliche, unberechenbare Anteile hat und haben muss. Ich glaube nicht an „Zuverlässigkeit” im Kino. Die Filmgeschichte hat gezeigt, dass mit improvisatorischen Techniken - in den Filmen von Jean Renoir, John Cassavetes oder Mike Leigh etwa - aufregende szenische Erfindungen gemacht werden können, vorausgesetzt, man verwechselt Spontanität nicht mit Planlosigkeit oder mangelnder Vorbereitung.
Prototyp „freien” Schauspiels: Gena Rowlands in A WOMAN UNDER THE INFLUENCE von John Cassavetes (USA, 1974)
Die Betonung auf die schauspielerische Befreiung - die man immer auch als Ausdruck sich wandelnder Realismuskonventionen verstehen muss - hat aus meiner Sicht aber auch Nachteile. Zum Beispiel zwingt sie die Kamera automatisch in einen „dokumentarischen” Gestus, gibt damit also eine große Bandbreite an filmischen Erzählmitteln auf. Fast könnte man sagen, das „unberechenbare” Schauspiel erzwinge eine berechenbare, unterkomplexe Kamerasprache.
Natürlich hat es seit der ersten Blüte eines prozesshaft angereicherten Spiels zahllose Versuche der Hybridisierung gegeben. Martin Scorsese ist vielleicht das beste Beispiel für diese Tendenz. Ein Film wie der auch von mir verehrte GOODFELLAS (USA 1990) ist eben zugleich beobachtend und behauptend, er führt die Erzählung einerseits ungeheuer eng, andererseits lässt er den Schauspielern immer wieder Freiraum zu Improvisation, wovon viele Szenen sichtlich profitieren. So sehr ich diese Umarmungsstrategie im Ergebnis schätze (alles in einem Film: Cassavetes und Hitchcock, Bresson und Ophüls, Rossellini und Minelli), den Drehprozess macht sie nicht organischer, eher im Gegenteil. Darüber hinaus kostet die Vereinnahmung so gegensätzlicher Methoden sichtlich Kraft und steht einer - für mich letztlich immer erstrebenswerten - Einfachheit im Wege.
Höhepunkt eines hybriden Kinos: GOODFELLAS (USA, 1990) von Martin Scorsese.
An anderer Stelle habe ich über Francis Ford Coppolas (alte) Vision eines neuen, elektronischen Studiokinos im Sinne eines „update cinema” geschrieben. Seine Idee, alle Prozesse der Vorbereitung nahtlos in eine technische, zeitbasierte Matrix zu integrieren, in der dann der Film kontinuierlich entsteht, ist bis heute allenfalls bei special-effects-lastigen Filmen gebräuchlich. Auch wenn die Übergänge zwischen Produktion und Postproduktion zweifellos fliessender geworden sind, ist der Schneideraum die Endstation geblieben, in der Bilanz gezogen wird und wo man sich mit dem Nicht-mehr-Änderbaren herumschlägt. Dieser Kampf mit dem „Schicksal” bringt oft erstaunliche Lösungen hervor, Not macht auch im Schneideraum erfinderisch, aber oft verwaltet auch der beste Cutter nur den Mangel.
Das klingt bitterer als ich es meine; trotzdem finde ich, dass die klassische Produktionsweise eine unnötige Barriere darstellt, das Medium weiterzuentwickeln. Heute ist es so, dass ich in jahrelanger Arbeit ein weitgehend theoretisches Buch schreibe, soll heissen: ich kenne weder die Besetzung noch die Schauplätze, weiss nicht, wie viel Geld ich haben werde, welche technischen Bedingungen. Man versucht, ein gut lesbares, als Lektüre unterhaltsames Buch zu schreiben, konzentriert sich wie im Drama auf Charaktere, Dialog und Struktur, auch wenn man weiss, dass es im Kino unter Umständen auf ganz andere Dinge ankommt. Dieses hypothetische Papier dient dann als Grundlage der Finanzierung, die ebenfalls Jahre dauern kann.
Geht das Projekt dann in Produktion, verändern sich in kürzester Zeit so viele Parameter, dass sich das kunstvoll tarierte Gleichgewicht des Drehbuchs zwangsläufig relativiert. Unter großem Druck wird gedreht, logistische Fragen schieben sich in den Vordergrund, tausend Unwägbarkeiten verändern die Konzeption immer weiter, ohne dass man die Folgen realistisch abschätzen könnte. Im Schneideraum ist dann „Bescherung”; Abweichungen von der Konzeption durch Nachdrehs auszugleichen findet schon aus Budgetgründen selten in nennenswerten Umfang statt, es sei denn, gravierende technische Gründe zwingen dazu - usw. usw.
Es gibt unendliche viele Möglichkeiten, mit diesen Problemen umzugehen. Der eine setzt auf die totale Vorbereitung, der andere auf autodynamische Prozesse, der dritte sucht in Konventionen Trost. Wie die meisten Regisseure variiere ich bislang die Werkzeuge ständig, ohne mich auf eine Methode festzulegen.
Wonach ich mich aber sehne, durchaus im Sinne von Coppolas Idee, technisch weniger hochgezüchtet vielleicht, wäre ein sukzessives Arbeiten an einem Film. Ich würde gerne Prototypen von Szenen bauen, sie überprüfen, verbessern, verwerfen (mit verschiedenen Schauspielern zum Beispiel, verschiedenen Kameraleuten etc), also so vorgehen, wie in jedem anderen Designprozess auch. Ich hätte gerne die Möglichkeit, an dem einen Problem geduldig und in kleinen Schritten zu arbeiten, das andere aber spontan und roh zu bearbeiten. Die Hoffnung wäre, das Medium so tiefer zu durchdringen und die Chance zu haben, die eigene Konzeption immer wieder zu überprüfen, ohne ständig die Produktionslogistik im Nacken zu haben. Diese Erforschung könnte auch mehr oder weniger experimentelle Züge annehmen, etwa wenn es darum geht, wie sich Identifikation (de-) konstruieren lässt usw. - aber wichtig wäre mir dabei ein Geist, der sich deutlich von der Tuning-Mentalität der Spezialeffekt-Spezialisten unterscheidet. Was mir vorschwebt wäre kurz gesagt eine neue Art des Studio-Kinos, eine Art permanenter Werkstatt, mit deutlich entzerrten Zeithorizonten und flexibleren Hierarchien, im Sinne eines persönlichen, formal herausfordernden Erzählens. Ein neues Bauhaus des Films? Alexander Kluges 'Ulmer Dramaturgien' lassen grüssen.
It's only a test: SÉANCE.
Für meinen Kurzfilm SÉANCE habe ich einen kleinen Vorstoss in diese Produktionsweise unternommen; eine gute Erfahrung. Natürlich, das war ein Film ohne Darsteller, und der einzige Schauplatz war eine Wohnung. Wir waren die meiste Zeit zu dritt, gelegentlich zu viert oder fünft. Bernhard Keller und ich haben gedreht, Beatrice Schultz hat die Einrichtung besorgt, Bilder und Objekte beschafft, Anja Conrad sass nebenan, in der selben Wohnung, und hat die Bilder vorläufig zusammengesetzt, geschnitten. Einen Tag lang habe ich mit Andreas Mücke Töne gesucht. Man konnte jederzeit in den Plan eingreifen, das Gefilmte überprüfen, das Set verändern - und die Mittagspause spontan bestimmen. Es war ein selbständiges Arbeiten, in Teilen experimentell, in anderen genau vorgeplant, voller Entdeckungen. Ein großer Spaß. Könnte man so einen Spielfilm drehen?
UNTER DIR DIE STADT, der Film, den wir gerade schneiden, hätte sicher nicht so entstehen können. Jedenfalls nicht nicht an Originalschauplätzen. Nicht mit diesem Budget. Nicht in dieser Form. Aber natürlich hätte man diesen Stoff anders, dreister, minimalistischer erzählen können.
Ich habe gestern Satyajit Rays THE CHESS PLAYERS (Indien, 1977) gesehen, ein Film, der mich in seiner uneitlen Einfachheit sehr begeistert hat. Die Besetzung des engstirnigen englischen Generals Outram mit Richard Attenborough wirkt wie ein ironischer Wink - dessen Superproduktionen à la GANDHI stellt der Film mit poetischer Leichtigkeit in den Schatten. Ray braucht nicht viel mehr als eine Handvoll Schauspieler in historischen Kostümen, vier, fünf Innenräume, um die komplexe Geschichte des letzten freien Herrschers Indiens zu erzählen. Mühelos integriert er Ausschnitte aus Gemälden, Stichen und sogar Zeichentrick-Sequenzen, um einen Punkt zu machen, übrigens ohne deshalb in einen pädagogischen Ton zu fallen. Rays Vorgehen erscheint mir verführerisch auch und gerade angesichts der sich gerade vollziehenden totalen „Verflüssigung” der visuellen Archive. Warum sollte man für eine Szene den Londoner Kristallpalast nachbauen?
Satyaijt Rays THE CHESS PLAYERS.
1999 habe ich geschrieben:
„Der große Skandal des "Ready Made" war es, den Kontext zu verrücken. Viele Bilderstürme später ist uns der inspirierte Schöpfergott noch immer näher als der Mann, der ein Pissoir zur Kunst erklärte. So auch im Film, der Kunst, die den Gottesdienst beerbt hat. In musealen Zeiten scheint indes die Idee des Cinema Stylo nicht mehr am Platz. Längst stößt die Bilderjagd an ihre Grenzen und Explosionen, Wolken, Zeitgeschichte leiht man in der Bilderbank. Wäre es nicht an der Zeit, die Kompilation zur Autorenform zu machen? Statt in der selbstgejagten Beutekunst Ressourcen zu verschwenden, könnte die Verdichtung "fremden" Materials zur persönlichen Montage die neue Freiheit für das Medium sein. Das Copyright würde Verfallsdatum heißen und mit Hilfe digitaler Animation würde der Film zur emotionalen Baukunst: kuleshov'sche Gefühle in potemkinschen Dörfern.”
In der Phalanx eines grossen Teams sehnt man sich danach, berittener Bogenschütze zu werden. Filmemacher wie Chris Marker, Hans-Jürgen Syberberg, Alexander Kluge oder Jean-Luc Godard haben diesen flinken Gaul längst bestiegen - und sind nie wieder zur grossen Truppe zurückgekehrt...
Ich habe nicht die leiseste Ahnung, welche Konsequenzen ich für meine eigene Arbeit ziehen werde. Ich denke laut sozusagen. Wer mitdenken möchte, ist herzlich eingeladen.
Fortsetzung folgt.