17 Juli, 2025

Werner Penzel (1950-2024)


2011 hat uns Werner Penzel dieses Bild geschickt mit den Worten: 


another east-west-cinematopraphic-manifesto:


von wiederkehrender schwalbenfamilie

verschissene hose

walking on a deserted japanese balkony

towards moss…


Als ich von Werners (Frei-) Tod gehört habe, musste ich an das Bild denken. 


Es hängt jetzt an meiner Wand.


*

Wir trafen uns im Garten. Die Sonne motivierte das faltenreiche Zukneifen der Augen, eine typische mimische Eigenheit, die Werner auch in dunklen Räumen zeigte und die seinem Gesicht etwas Strahlendes gab, aus seinen Augen Sterne machte. Wir waren verabredet, um über das Drehbuch zu sprechen, das Benjamin Heisenberg und ich geschrieben hatten und das die Grundlage für meinen Debütfilm bilden sollte. Der Arbeitstitel lautete „Verloren”, ein „Märchen in Angst und Farbe”, wie ich damals gerne sagte. Es handelte sich um eine freie Bearbeitung von Hänsel und Gretel, die ich bei Halle und in Polen drehen wollte. Ich hatte Werner gefragt, ob er sich vorstellen könne, Kamera zu machen für das Projekt, und er hatte sich gefreut über das Angebot; wir mochten uns, ich mochte seine Kameraarbeit und sah in ihm überhaupt ein Vorbild. So eine Einheit von Leben und Arbeit, so ein Miteinander, wie er es in der Zusammenarbeit mit Nicolas Humbert entwickelt hatte, schien mir ein erstrebenswertes Rollenmodell, jenseits des Profi-Getues der Branche. Ich war also gespannt auf seine Eindrücke und freute mich auf den Prozess, mit ihm über den Text zu Bildern zu kommen. Aber Werner sagte nein. Er meinte, in seiner leicht verschleppten und auf Wiederholungen setzenden Art zu sprechen, er wolle Filme in und über Freiheit machen, mein Projekt aber erzähle vom Gegenteil. Ich versuchte meinen Film zu verteidigen, aber die zugegeben grausame und traurige Geschichte meines Drehbuchs schien ihn viel mehr zu bedrücken als mich; es war zu ahnen in diesem Moment, dass die Wärme, Solidarität und Offenheit, die er lebte und ausstrahlte, über einem Abgrund gebaut war, dessen anziehende Schwärze er nie ganz vergessen konnte. Vielleicht, dachte ich damals, ist sein Prophetenleben keine Wahl, sondern Notwehr gegen die ererbten Zwänge. 

Wir blieben in sporadischem, herzlichen Kontakt, aber sein Nein zu Angst und Unfreiheit hat mich über die Jahre immer wieder beschäftigt. Was heißt es, frei zu sein im Leben und in der Kunst? Werner hat die Frage gut erforscht. Am 1.12.2024 hat er sich die letzte Freiheit genommen. Danke für alles, Chili. Ich werde dich vermissen.


*


Hier findet man die Todesanzeige für Werner Penzel.

08 Juli, 2025

Wiener Blut

Am Samstag, den 9. August 2025 wird mein Film LA MORT VIENDRA im Rahmen des Frame Out Open Air Cinema zu sehen sein, und zwar um 20.30 h im Museumsquartier Wien, Hof 8, im frz. Original mit Untertiteln. Der Eintritt ist frei.

02 Juli, 2025

Spektakel

Die Brunnenszene in David Leans LAWRENCE OF ARABIA (GB 1962)

Ich habe einen plötzlichen Appetit auf Spektakel entwickelt, sehne mich nach filmischen Erzählungen, in denen Wagnis, Geschicklichkeit und Strapaze Platz haben, ersehne den Anblick einer überlebensgroßen Landschaft als Bühne existenzieller Prüfungen, mit einer wüstenhaften Klarheit des Für und Wider.

Vielleicht geht diese Sehnsucht aus meinem gelebten Gegenteil hervor? In jedem Fall würde ich dieser Lust gerne nachgeben und bald einen „unverblümten“ Abenteuerfilm machen.


Wozu? Als Utopie eines Lebens, in dem nichts Ersatz ist und jeder Moment mit jeder Faser gelebt werden muss. Als Spielanordnung, um komplexe moralische Probleme sicht- und verhandelbar zu machen.

14 Juni, 2025

Einfach

THE MAGNIFICENT AMBERSONS (Orson Welles, USA 1942).

Es gibt die politische Pflicht, Dinge, die sich einfach sagen lassen, auch einfach zu sagen. Aber: Nicht einfacher. Dieser kategorische Imperativ leuchtet mir ein – und ich wünschte, Robert Habeck hätte ihn öfter beherzigt. Aber gilt er auch für ästhetische Fragen? Ist es die Pflicht des Filmemachers, Dinge, die sich einfach zeigen lassen, einfach zu zeigen?

Lange dachte ich, Reife sei gleichbedeutend mit Zurückhaltung, Angemessenheit, einem funktionalen Verhältnis von Erzählabsicht und den gewählten Mitteln. Aber wie arm wäre die Filmgeschichte ohne stilistische Exuberanzen, ohne barockes Spiel, ohne Jauchzer. Und die „Einfachheit der Meister”, von der man manchmal liest, ist ohnehin trügerisch. Welches Kino liesse sich so beschreiben? Ford? Ozu? Kiarostami? Kaurismaki? Das Wort „Einfachheit” scheint mir nicht das Wesentliche ihrer Filme zu treffen. 

Viele Filme, die ich besonders verehre, sagen wir Fritz Langs M (1931), Orson Welles’ THE MAGNIFICENT AMBERSONS (1942), Max Ophüls’ MADAME DE… (1953), Luchino Viscontis IL GATTOPARDO (1963), Joseph Loseys MR KLEIN (1976), Akira Kurosawa RAN (1985), Martin Scorseses GOODFELLAS (1990), David Lynchs MULHOLLAND DRIVE (2001) oder Lucrecia Martels LA MUJER SIN CABEZA (2008) sind vielteilige, raffinierte, dialektische Maschinen. Auf formaler, narrativer, politischer Ebene komplizierte Artefakte. Aber sind sie „komplizierter als nötig”? Weniger „tief” als formal zurückhaltendere Filme, die weniger Einstellungen „verbrauchen”? 

Ich denke, das sind keine produktiven Kategorien. Jeder Film bringt seine eigene Dramaturgie, sein eigenes ästhetisches Gesetz hervor. Jede Filmemacher*in muss sich immer wieder neu ins Verhältnis zur Welt setzen. Ich kann die Kolleg*innen gut verstehen, die sich von einem Streben nach Einfachheit Reinigung und Reife erhoffen – aber eine künstlerische Hierarchie würde ich davon nicht ableiten.

04 Juni, 2025

Sieben Jahre alte Zukunftsmusik

Liest uns die KI bald jeden Wunsch von den Lippen ab?

2018 wurde ich gefragt *, „welche Rolle der Konsument in der Filmindustrie der Zukunft” einnehmen könnte. Meine Antwort ist – auch im Lichte der jüngsten technologischen Entwicklungen – gar nicht so schlecht gealtert. Vielleicht sollte ich hinzufügen: Leider.

„Ich glaube es wird immer „geschlossene” Erzählungen geben, mit einer klaren Autorenschaft, aber daneben kann ich mir adaptive Modelle vorstellen, die aus großen individualisierten Datenströmen (über die z.B. Netflix, Youtube oder Facebook schon heute verfügen) und KI-gestützt eine Art anschmiegsame Unterhaltung schneidern – gewissermaßen auf den Konsumenten individuell abgestimmte Social Media Streams – möglicherweise in Echtzeit angepasst an bestimmte messbare Größen wie Augenbewegung, Herz- und Atemfrequenz.”

*) Der Fragebogen entstand im Rahmen des Masterseminars „Strategische Vorausschau in Theorie und Praxis“ an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg.

La Mort viendra @ SIFF

Mein Gangsterfilm LA MORT VIENDRA („Der Tod wird kommen”, 2024) wird auf dem Shanghai International Film Festival in der Reihe „Focus Germany” zu sehen sein, und zwar am 13.06. (@ Palace Cinema / Raffles City ChangNing, Hall 3), 16.06. (@ Baiyang Cinker Pictures Luxe), 17.06. (@ SFC Shangying Cinema / GuoHua, Hall Luxe) sowie am 21.06.2025 (@ CMG Convergent Media Cinema, House 4), jeweils um 20.40 h.

P.S.: Die Kinos sind alle ziemlich neu und für ihr Design ausgezeichnet – auf den verlinkten Seiten finden sich Bilder und Architekturdetails, Zeugnisse eines Kino-Baubooms, von dem wir hierzulande nur träumen können.

31 Mai, 2025

(Wieder-) Gesehen [26]

Männerbilder, Männerwelten.

GENTLEMEN JIM (Raoul Walsh, USA 1942) 

In der an Wundern reichen Filmografie Raoul Walshs ist dieser Boxfilm eine Klasse für sich. Errol Flynn spielt James „Jim" Corbett, einen „überirdisch” selbstbewussten Mann auf dem Weg nach oben. Das Erstaunliche ist: nichts kann ihn aufhalten, und der Film versucht erst gar nicht, die Steine und Steinchen auf seinem Weg zu dramatisieren. Es gibt keinen Konflikt im engeren Sinne, die Dramaturgie ist die einer Wunscherfüllungsmaschine und als solche unerhört vergnüglich. Warum gönnen wir ihm den Erfolg eigentlich? Das ist gar nicht so einfach zu beantworten. Sicher, Flynn hat Charme für zwei, und sein Jim ist wirklich besser als die Konkurrenz – obwohl „Rückschläge” beim Boxen doch eigentlich zum Genre gehören. Ich glaube letztlich ist es der Flirt des Schauspielers mit den Zuschauern, der jeden Vorbehalt schmelzen lässt, Flynns Charisma scheint sich regelrecht von der Leinwand zu lösen, er meint uns, nicht seine Mitspieler: PURPLE ROSE OF CAIRO lässt grüßen. Jims love interest Viktoria (Alexis Smith) gibt ihm diesen Rabatt übrigens nicht – im Gegenteil steigert sich ihre Wut auf den Glückspilz immer weiter, sie will ihn scheitern sehen und macht das gewissermaßen zur Vorbedingung ihrer Liebe – weil sie erlebt, dass Frauen nichts geschenkt wird in dieser Welt, aber vielleicht auch aus Eifersucht auf uns Zuschauer. Allein: Jim scheitert nicht...



THERE ONCE WAS A SINGING BLACKBIRD (Otar Iosseliani, Georgien 1970) 


Was ist gutes Timing? Die Frage stellt sich Gia (Gela Kandelaki) mit zunehmender Dringlichkeit; er ist Musiker, und kommt immer zu spät. Vorerst nicht zu spät für seinen Einsatz im Orchester, aber eben doch stets so knapp, dass andere für und mit ihm die Nerven verlieren, und das nicht nur im Konzerthaus. Ihm scheint das strenge Zeitmaß der Welt nicht einzuleuchten, alles ist leicht für ihn, leicht und vorläufig; wie eine Wolke zieht es ihn gerade dann weiter, wenn er versprochen hat zu bleiben. Iosseliani zeichnet sanft satirisch das wunderbar komische Porträt eines Mannes, der lange der Schwerkraft enthoben scheint, sich nicht entscheiden kann, das Leben ernst zu nehmen – bis es eines Tages eben doch zu spät ist.



WAIT TILL THE SUN SHINES, NELLIE (Henry King, USA 1952) 


Das Porträt eines durchschnittlichen Mannes und die Geschichte einer Ehe, herausgefordert von Asymmetrien der Wahrnehmung: was Nellie (Jean Peters) als eine Kette verpasster Chancen erlebt, versteht Ben (David Wayne) als gelebte Bodenständigkeit. Sie fügt sich dem braven Schicksal lange, bis sie eines Tages erfährt, dass er ihr das volle Ausmaß seiner Ambitionslosigkeit bewusst vorenthalten hat. Empört vom Verrat an ihren Hoffnungen bäumt sie sich auf, um zu leben... aber auch tragische Ereignisse bringen Ben nicht dazu, sein Leben zu ändern, er bleibt als Provinzbarbier ewiger Zuschauer, einverstanden mit seiner Mittelmäßigkeit. Henry King sieht die Fehler seiner Hauptfigur, aber sein Blick ist milde, und es stimmt ja auch, dass die Menschen das Wollen überschätzen, und mit der Dauer schon das Über-Wasser-bleiben im Strom des Lebens als Leistung erscheint. Dem Film gelingt eine fein schattierte Zeichnung eines Lebensbogen, an dem wenig besonderes ist, und das auf eine so ergreifende Weise, dass mir Mitreisende (im Zug von Berlin nach München) während der Sichtung Taschentücher zuschoben. Ich habe sie gebraucht.


Lesenswert: Imogen Sara Smiths kluger Il Cinema Ritrovato-Bericht, der diesem Film eine längere Passage widmet.


DER HERR KARL (Erich Neuberg, Österreich 1961)


Ein Mann, ein Vorratskeller, ein Monolog: die Anordnung ist denkbar einfach, aber die Abrechnung mit dem „unpolitischen” Kleinbürgertum könnte schärfer nicht sein. Dieser „Herr Karl” ist bequem bis zur Verkommenheit, feige, rückgratlos, wendig im Umdeuten der eigenen Schwächen, denen er sich jederzeit ergibt. Helmut Qualtingers Genie besteht darin, aus dem abgefeimten Spießer ein Kunstwerk mimischer und moralischer Flexibilität zu machen. Man kann sich nicht sattsehen an diesem kleinen schwitzenden Mann, den „Radfahrer”, der nach oben buckelt und nach unten tritt, den Gelegenheitstäter, der sich zuverlässig als Opfer sieht. Ohne Leute wie ihn ist kein (faschistischer) Staat zu machen, und das weiß er. Auch als Beitrag zu der Frage, warum das antifaschistische „nie wieder” durchaus kein Selbstläufer ist, von erschreckender Aktualität.


EIGHTEEN YEARS OF PRISON (Tai Katō, Japan 1967) 


Aufwühlend gewalttätig. In der Art, wie sich hier reale Konflikte und Widersprüche der Gesellschaft zu entladen scheinen, gewinnt er eine seltene Unmittelbarkeit. Das ist Kino: sichtbar machen, was in der Wirklichkeit vorhanden, aber noch ohne Form ist. 



TARDES DE SOLEDAD (Albert Serra, Spanien 2024)


Bildnis eines professionellen Toreros, der im Angesicht des Todes – der Stiere, aber potentiell auch des eigenen – Posen der Verachtung zeigt, tänzerisch und maskenhaft. Ein leeres Zentrum, das auch und gerade in den Backstage-Szenen, davor, danach, nicht an Tiefe gewinnt, aber als Fläche ungemein faszinierend ist. Serra stellt Andrés Roca Reys Photogenie in den Mittelpunkt seines schönen, grausamen Films, der hunderte Stunden dokumentarischer Beobachtung zu nur einer Handvoll von Kämpfen verdichtet, in denen wir mit diesem Todbringer und seinen Helfern allein sind (denn das Publikum sehen wir nie). Es ist ein Sehen ohne Verstehen, ein Kino der Attraktion, auf das Serra aus ist, und darin liegt seine Qualität und vielleicht auch Begrenzung.



A LETTER TO DAVID (Tom Shoval, Israel 2025) 


Ein filmischer „Brief” an einen geliebten Menschen, der bis heute Geisel der Hamas ist und zugleich ein Film über die Möglichkeiten des Kinos – als Medium der Vergegenwärtigung, der Anrufung, der menschlichen Verbindung. David Cunio war Darsteller in Shovals Debütfilm YOUTH, und hat dort zusammen mit seinem Zwillingsbruder Eitan ausgerechnet einen Entführer gespielt. Der Bruder ist den Häschern der Hamas zufällig entgangen, und sieht in jedem Spiegel den Abwesenden. Es sei ein Film auch über die „vampiristische Wirklichkeit, die an der Fiktion saugt” (wörtlich: „reality's capacity to vampirise fiction") schrieb die Kritikerin Cristina Álvarez López und trifft einen wichtigen Punkt: Jede Geschichte macht etwas denkbar, zeichnet Wirklichkeit nicht nur nach, sondern bahnt sie auch an. Indem wir David dabei zusehen, die Szene einer Entführung einzuüben, können wir über das Menschenmögliche nachdenken, das was geschehen ist und das, was vielleicht noch geschehen wird. Tom Shovals Blick der Liebe traut dem Kino viel zu, und meidet gerade deshalb jede Politisierung: auf dass ein Mensch sichtbar wird.



HENRY FONDA FOR PRESIDENT (Alexander Horwath, Österreich 2024) 


Ein Film, der mit Henry Fonda über die USA nachdenkt und dabei so etwas wie eine politische Topografie des Landes nachzeichnet. Dieses Vorhaben gelingt, weil Fondas Lebens- und Drehorte verblüffend oft mit Kreuzungspunkten der amerikanischen Geschichte zusammenfallen und Horwaths Kommentar einen scharfen Sinn für die wechselseitige Verzauberung von Politik und (Kino-) Mythos hat. Trotzdem ist die Fülle an Verbindungen, Parallelen und vielsagenden Zufällen erstaunlich, die er in den Filmen, on location oder in Ton-Archiven zu Tage fördert. Unvermeidlich (und zu meiner Freude!) wird der Film dabei über weite Strecken auch zur Hommage an John Ford, dessen Fonda-Zusammenarbeiten beinahe alle Schlüsselfilme der politischen Autobiografie der Vereinigten Staaten sind. Besonderes Augenmerk gilt Fords GRAPES OF WRATH und YOUNG MR LINCOLN, sowie DRUMS ALONG THE MOKAWK (in dem Fonda seinen eigenen Vorfahren spielt), MY DARLING CLEMENTINE und FORT APACHE, aber natürlich kommen auch LADY EVE (Preston Sturges), THE WRONG MAN (Alfred Hitchcock), THE OX-BOW INCIDENT (William Wellman), YOU ONLY LIVE ONCE (Fritz Lang), THE BEST MAN (Franklin Schaffner), ONCE UPON A TIME IN THE WEST (Sergio Leone) u.a. zu ihrem Recht. Ich habe drei Stunden selten kürzer empfunden.

26 Mai, 2025

Marcel Ophüls (1927-2025)

Marcel Ophüls hat etwas völlig Unwahrscheinliches geschafft: den Vater, ein Jahrhundertgenie des Kinos, im eigenen Feld herauszufordern – und dabei auf Augenhöhe zu bleiben. Dass ihm das „nur” im Dokumentarfilm gelungen ist, nicht im Spielfilm, hat Ophüls jr. ein Leben lang geschmerzt. Seine Spielfilme – das von seinem Freund François Truffaut beförderte Debüt PEAU DE BANANE (1963) war mit Belmondo und Jeanne Moreau prominent besetzt – blieben die Ausnahme, obwohl er bis ins hohe Alter davon träumte, zur Fiktion zurückzukehren. 

Als ich ihn einmal für ein Interview in München traf – im Hotel Vier Jahreszeiten, wo mich schon die Getränke an die Grenze meiner finanziellen Möglichkeiten brachten – wollte er partout nicht über seine Dokumentarfilme oder seinen Arbeitsprozess sprechen; meine glühende Bewunderung für seinen (Oscar-prämierten) Film HOTEL TERMINUS (1988; eine atemberaubende Recherche über Klaus Barbie, den „Schlächter von Lyon”) wehrte er ab, als hätte ich ihn beleidigt. Im Versuch, den Film vor seinem Regisseur in Schutz zu nehmen, meinte ich, die Spannung des Films würde Hitchcock übertreffen, worauf er erwiderte, jeder Hitchcock-Film sei ihm lieber. Das Interview, das ein Auftrag war, führte letztlich nicht zu einem druckfähigen Ergebnis. 

Seinen berühmtesten Film, LE CHAGRIN ET LA PITIÉ (1969; ungefähr: „Leid und Mitleid” – deutscher Titel: DAS HAUS NEBENAN), der in Frankreich erst zehn Jahre nach seiner umstrittenen Kinopremiere im Fernsehen gezeigt werden durfte, hat mein Menschenbild erschüttert und erweitert. Warum sind die einen so grausam wie möglich, warum riskieren die anderen ihr Leben für ihnen unbekannte Menschen? Die Fragen sind bohrend, auch wenn sie manchmal ganz harmlos klingen, die Antworten bestenfalls vorläufig, auch weil die Beweggründe oft weniger eindeutig sind, als erhofft. Ophüls ist in diesem Meisterwerk nicht – wie ihm oft unterstellt wurde – Ankläger, eher schon personifiziertes, verdrängtes Gewissen, das keine Ruhe geben will. So treten Ambivalenzen zu Tage, die viele Franzosen als Salz auf dem Zuckerkuchen der Nachkriegserzählung von einem ganzen Volk im Widerstand empfunden haben. Der Film war auch ein wichtiges Vorbild in der Entwicklung eines meiner (letztlich nicht verwirklichten) Projekte, das während der deutschen Besatzung in Frankreich spielt. Mein einstmaliger französischer Produzent wies diese Referenz übrigens empört zurück; Marcel Ophüls’ Film schien ihm „polemisch und schmutzig”, vielleicht weil er – wie es der Senderverantwortliche des ORTF, ursprünglicher Auftraggeber des Films, einmal formuliert hat – „einen Mythos [zerstört], den das französische Volk immer noch braucht”. Ich glaube überhaupt: „anti-mythisch" ist ein wichtiges Stichwort für Marcel Ophüls' Arbeit, als hätte ihm das Wissen, das er Backstage, als Assistent seines Vaters zum Beispiel, bei der Fabrikation von Mythen erworben hat, den Glauben ausgetrieben.

NOVEMBER DAYS (1991), Marcel Ophüls’ trügerisch leichthändigen Essay über die neu errungene Freiheit der Ostdeutschen und den möglichen Preis, der für den Untergang der DDR zu zahlen ist, habe ich als unglaublich hellsichtig empfunden. Ophüls war nie gewitzter oder schlagfertiger, nicht zuletzt im Interview mit dem Neonazi Michael Kühnen, den er prophetisch als Teil der neu zu verhandelnden „Gleichung Deutschland” identifiziert hat.

Unbedingt empfehlen kann ich auch THE MEMORY OF JUSTICE (1976; über Kriegsverbrechen und ihre juristische Aufarbeitung, am Beispiel der Nürnberger Prozesse, aber auch dem Vietnamkrieg; das fesselnde, entlarvende Gespräch mit Albert Speer ist ein Höhepunkt) und VEILLÉES D'ARMES (1994; über Kriegsberichterstattung im Jugoslawienkrieg und die „Feigheit der Neutralisten”). Den Film über seinen Vater, MAX PAR MARCEL (2009) und auch sein filmisches Memoir UN VOYAGEUR (2013) möchte ich bald nachholen.

Mit Marcel Ophüls am 28.01.2017 in Saarbrücken. Schnappschuss: Denis Kundic.

Zuletzt traf ich Marcel Ophüls 2017 zufällig auf dem Filmfestival Saarbrücken, das bekanntlich den Namen seines Vaters trägt. Zu meiner Überraschung – und Freude – kam er zu meinem kleinen Vortrag über MADAME DE… (Max Ophüls, F 1953) – nur um mir hinterher zu sagen, dass er mich leider wegen seiner Schwerhörigkeit nicht habe verstehen können. Wir haben uns dann noch ein paar Takte vor Publikum unterhalten über den Film, den er bewundernd-kritisch und anekdotisch zugleich in Beziehung setzte zur Film- und Geistesgeschichte, der er entstammt. Mit seinem Tod verschwindet ein großer Künstler und unruhiger Geist, ein Bindeglied zwischen Deutschland, Frankreich und den USA; es bleiben seine Filme, geprägt von Aberwitz, tiefem Erinnern und verstörender Ambivalenz.