13 Mai, 2010

Das Sichtbare...

In einem Telefoninterview heute ist die Frage aufgetaucht, warum die Welt der Wirtschaft, obschon sie unsere Welt so stark bestimmt, so selten in Filmen auftaucht.

Meine Antwort: Das Kino sehne sich nach Verkörperlichung, nach Konflikten, die sich zwischen einer Handvoll von Figuren austragen liessen und sei - „natürlich” - auf Sichtbarkeit angewiesen. Das Wesentliche einer Bank zum Beispiel liege aber im Unsichtbaren.

Auch mein neuer Film rückt das Geschäft in den Hintergrund. Die Bank und ihr konkretes Wirken sind nicht Thema des Films, die Finanzkrise ist eine Art Nebengeräusch in einer Geschichte über Menschen.

Zwar versucht sich UNTER DIR DIE STADT durchaus an einer Versöhnung aus Mikro- und Makroperspektive, aber im Zentrum steht einmal mehr the formation of a couple (Zizek).

Ist es nicht naiv, noch eine Liebesgeschichte zu erzählen, angesichts der Krise? Betreibt, wer sich heute dem Rätsel der Gefühle widmet (und das im Bankmilieu), nicht eigentlich Ablenkung?


Ein Bild aus UNTER DIR DIE STADT.

Vielleicht. Aber... beginnt Politik nicht im Bett? Und ist es nicht so, dass die Katastrophen der Geschichte nur Vergrößerungen zwischenmenschlicher Probleme sind? Und ist die Perversion der Banker nicht eigentlich unsere?

So oder ähnlich könnte man sich verteidigen. Interessanter fände ich, über Dramaturgien nachzudenken, die den systemischen Zwängen - den Erfahrungen der Moderne - besser Rechnung tragen als die hergebrachten Geschichten.

In einem Film wie WALL STREET (USA 1987) gibt es noch einen Zweikampf im Central Park, Spekulant und Spekulationsobjekt sind verwandtschaftlich verbunden* und unsere wahren Sympathien gehören (wie immer im Kino) demjenigen, der die Handlung bewegt, statt sie zu bremsen: Gordon Gekko.

Ich bin gespannt, ob sich Oliver Stone, der in Cannes die Fortsetzung seines Semi-Klassikers präsentieren wird, in Sachen Dramaturgie weiterentwickelt hat. Es würde mich wundern.

Vor zwei Tagen war ich in Luc Percevals Bühnenfassung von Falladas KLEINER MANN, WAS NUN (Theatertreffen). Die Geschichte des kleinen Mannes Pinneberg, der allen Anstrengungen zum Trotz mit dem Verlust der Arbeit nach und nach einen sozialen Tod stirbt, ist geradezu antidramatisch. Kein Wunder: die Vorlage ist ein Roman.


Paul Herwig

Percevals Kniff liegt darin, die Figuren zugleich subjektiv (im Dialog) und objektiv (über sich erzählend) zu beleuchten. Pinneberg - hinreissend gespielt von Paul Herwig - spricht also romanhaft sowohl über sich („Pinneberg war ausser sich”) als auch mit anderen („Kälbchen - wie kannst du so etwas sagen?”). Die Wirkung ist erstaunlich. Es entsteht eine Art heitere Dialektik, die den langen Abend zu einem komplexen Vergnügen gemacht hat.

Ich weiss nicht, ob man diese Idee direkt auf einen Film übertragen sollte - aber mich hat sie angeregt, neu über Voice-Over nachzudenken. Mehr dazu im nächsten Film? Gut möglich.

Aber jetzt erst mal: Cannes.



*)
Bud Foxs Insiderwissen betrifft die Airline, bei der sein Vater arbeitet - und so ist die „Lösung” des Films dann auch eine der Entscheidung zwischen dem guten und dem schlechten Vater.

6 Kommentare:

  1. Incredible still from Unter dir die Stadt. All the best for Saturday.

    Your post has me wondering: who are the filmmakers who've succeeded in depicting systems? The first, easiest thought is Altman, but this isn't quite right. He does give us a macro view - but of micro-stories, and narrative by nature would seem to require a limited number of characters with which to identify.

    Second thought would be documentarians such as Nikolaus Geyrhalter et al, but the question you were asked wasn't really about essay films.

    Third thought: Horror, disaster and war movies in which groups must coordinate their actions in order to ward off an outside threat (a monster, a swarm) or escape a life-threatening situation (e.g., reaching the top/bottom of an overturned ocean liner or surviving in the trenches long enough to see one side call a truce).

    I'm not convinced that an engaging narrative about the crashes of 1929 or 2008 couldn't be made.

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  2. Was Luk Perceval mit Fallada gemacht hat, erinnert ja ganz stark an Brecht und V-Effekt. So etwas hat doch aber auch im Film schon öfter gut funktioniert, ob jetzt im Kunstkino bei Godard oder im Mainstream bei meinetwegen High Fidelity. Obwohl das vielleicht meistens einzelne Experimente waren und sich irgendwie nie ein konsistentes Stilmittel draus entwickelt hat.
    Aber ein Berliner-Schule-Film mit Off-Erzähler klingt ziemlich verlockend!

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  3. @David

    THE WIRE might be a good example to depict a system within an engaging narrative --- but then, it is a series. CHINATOWN? THE GODFATHER? IL GATTOPARDO?

    @Philipp

    Klar gibt es eine ganze Reihe toller Voice-Over-Filme... BARRY LYNDON, THE MAGNIFICENT AMBERSONS, LA JETÉE, GOODFELLAS usw. Auch Resnais neuester Streich LES HERBES FOLLES war in dieser Hinsicht interessant... Es geht nur darum, die ganze Breite der Mittel für sich zu entdecken...

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  4. Das sind gleich viel zu viele spannende Fragen, die sich da für mich als Zuschauer auftun, um sie überschaubar kommentieren zu können.

    Ein paar Gedanken dazu:
    1) Ich glaube nicht so recht, dass das Wesentliche einer Bank im Unsichtbaren liegt. Ich bin recht sicher, dass es sehr gut machbar wäre, von den Bankern als Profisportern zu erzählen. Von Sucht nach Anerkennung, Leistungsdruck, Loyalität zum Team und Verrat, von Konkurrenz, von Herdentrieb, von den Spielregeln, der eigenen Sprache, Sicht auf die Welt, von den Entscheidungsgrundlagen und Plänen, die schon so weit abstrahiert sind, dass reales Leben nicht mehr erkennbar ist - und natürlich von den Menschen, die als Zuschauer, Berichterstatter, Kunden (insofern Wettende) das System befeuern, mitfiebern, unterhalten werden wollen, davon leben, träumen ...

    2) "beginnt Politik nicht Bett" Ich wünschte mir oft, das Bett, der Aufzug, der Küchentisch - oder wo auch immer das Paar es treiben darf, würden mal für einige Zeit von der Leinwand verbannt, bis mir jemand wirklich etwas mit diesen Szenen erzählen kann. Ich bin sie satt und würde in der Regel wesentlich mehr über die Menschen und die Natur ihrer Beziehung erfahren, wenn ich Ihnen mal 3 Minuten in Ruhe beim Tanzen zuschauen dürfte.

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  5. Lieber C. Hochhäusler, könnte man nicht auch kritisch fragen, ob es nicht eine Mutlosigkeit ist, sich der größeren Zusammenhänge anzunehmen. Nicht nur in der sog. Berliner Schule, im gesamten deutschen Film geht es entweder um Geschichte oder um die kleinen Dinge. Das sind eben Dinge, die sich leicht evozieren und verbildlichen lassen, während die Globalisierung oder die Krise einiges an großer Erzählkunst abverlangen, die nicht gerade von selbst aus einem Menschen und seinem Alltag herausfließt.

    Ist der deutsche Film nicht zu bequem, in dem er das Politische immer wieder ins Bett zurückzieht?

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  6. Lieber J.,

    Ich finde ja schon immer, dass es „um alles” gehen muss. Ganz alter Blog-Eintrag:
    http://parallelfilm.blogspot.com/2006/08/mglich.html

    Grüße,

    C.H.

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