30 November, 2009

Ekkehard Knörer:

„Das Autorenkino der letzten Jahrzehnte ist in seiner großen Mehrzahl ein Kino, das Handlung und Plot in den Hintergrund schiebt, um anderes zu betonen. In Plansequenzen und klarer Kadrierung entwickelt dieses neuere, auf Festivals (und ganz sicher nur da) dominierende Kino eine Aufmerksamkeit für die Dauer, eine Offenheit für das Eigengewicht von Körpern, Bewegungen, Figuren in ihrer Beziehung zum Raum. Dieser aktuelle Festivalkino-Mainstream hat ästhetisch viel für sich, ist als Reaktion auf einen ganz anders gearteten kommerziellen Mainstream verständlich und wichtig, ist, versteht sich, in sich noch einmal weit ausdifferenziert - und doch kann sich inzwischen das ungute Gefühl einstellen, dass eine filmsprachliche Monokultur entstanden ist.”

Aus einem Artikel über den Film EL NIÑO PEZ von Lucía Puenzo, für das „Homosexual's Film Quarterly” SISSY.

29 November, 2009

Kinogeschichte


Gesehen auf einer Toilettentür im Babylon Mitte. (Ein kurzer Blick in die Chronik gibt dem Schmierer recht.)

Nachtrag: Wer es genauer wissen will, kann sich hier eine PDF-Brochüre über die Geschichte des Babylon-Kinos herunterladen. Die Mielke-Episode wird dort genau beleuchtet.

27 November, 2009

ER SOLLTE TOT...

Alexander Kluges FRÜCHTE DES VERTRAUENS versammelt (ähnlich wie zuvor NACHRICHTEN AUS DER IDEOLOGISCHEN ANTIKE) elf Stunden sehr unterschiedlichen Materials, um den Zuschauer zum Produzenten eines „Films” über die Gegenwart zu machen. Die Frage, die dem neuen Projekt vorausging, lautete: „Auf wen kann man sich verlassen?”

Unter anderem waren auch Christian Petzold und ich eingeladen, einen kurzen Beitrag beizusteuern. Auf Christians Anregung haben wir zusammen eine Art Szenendiskussion über Dominik Grafs großartigen Polizeiruf ER SOLLTE TOT... veranstaltet. Anhand von Ausdrucken aller Einstellungen der ersten Verhörszene sprachen wir über Unterricht von hinten, dem Zwang zum „Sinn-machen” und warum Rauchen das Sprechen befördert. Hat Spaß gemacht.




(Bilder: Hans Fromm)

Drei Filme von Nicholas Ray

Ich habe mir in den letzten Tagen Filme von Nicholas Ray angesehen - dessen JOHNNY GUITAR (USA 1954) und natürlich REBELS WITHOUT A CAUSE (USA 1955) ich immer geschätzt habe, ohne ihn als Regiepersönlichkeit aber so richtig greifen zu können. Drei Filme später - einer besser als der andere - ist mir unbegreiflich, wie ich so blind sein konnte.

Ich hoffe, ich komme demnächst dazu, mehr über Ray zu schreiben. Vorerst als Anreiz, die Filme zu sehen, ein paar Bilder:



Der von der „Wunderdroge” Cortison aufgepeitschte James Mason in BIGGER THAN LIFE (USA 1956).


Gloria Grahame und Humphrey Bogart in dem herzzerreissendem IN A LONELY PLACE (USA 1950) - ohne Zweifel Bogarts bester Film.


"May I touch your hand?" Die blinde Mary (Ida Lupino) erweicht den harten „Citycop” Jim (Robert Ryan) in ON DANGEROUS GROUNDS (USA 1952). Mit Musik von Bernhard Herrmann!

15 November, 2009

Propagandafragen

Gibt es gute Propaganda? Heiligt der Zweck die Mittel? Alte Fragen, die sich im Alltag selten in dieser Klarheit stellen. Was ist Propaganda überhaupt? Ich versuche eine Definition: Eine mit nackter Wirkungslogik verbreitete Botschaft, die emotional und argumentativ gezielt so eng geführt wird, dass Alternativen unmöglich oder schädlich erscheinen.

Das Beispiel, das sich - buchstäblich - aufdrängt, ist die Werbung. Sie ist so präsent, dass wir sie ausblenden, bewusst, wenn wir weiterblättern, -schalten oder wegschauen, unbewusst, indem wir sie einfach nicht mehr sehen. Wirksam ist sie trotzdem. Procter & Gamble (Gillette, Always, Ariel), diese Zahl habe ich gerade gefunden, hat im Jahr 2004 5,76 Mrd Dollar für Werbung ausgegeben. Das ist ungefähr doppelt so viel, wie der Jahresetat der Vereinten Nationen. Rasierklingen, Billigprodukte ohne Alleinstellungsmerkmal, können nur im Zusammenspiel von Lock-in-Strategie (Billige Rasierhalter, teure Klingen, die nur auf den einen Halter passen, hohe „Wechselkosten”) und massiver Werbung (über 10 Prozent des Umsatzes) so teuer verkauft werden, wie sie es werden. Ohne Agitation wäre die Geschäftsidee Gillette nicht überlebensfähig. Diese Art der Propaganda kostet uns Geld, Nerven, Lebenszeit - und im Nebenbei vernutzt sie auch noch die „heiligen Mitttel” des Kinos für den Effekt. Eine Schande eigentlich, dass wir das alle so geduldig über uns ergehen lassen.


Werbung für Elektrogeräte, 1940 und 2001.

Auch Hollywood betreibt Propaganda. Einmal, indem man Werbung für die Filme macht, klar. Die Werbebudgets entsprechen im Mittel den Produktionsbudgets, gehen also über die 10 Prozent Umsatzanteil bei den Rasierklingen weit hinaus. Aber auch die Filme selbst funktionieren oft genug propagandistisch, ohne deshalb unbedingt eine „Botschaft” zu befördern. Viele Filme wollen nichts, ausser gefallen oder besser: wirken - ohne etwas zu bewirken wohlgemerkt, ausser Konsum natürlich. Das Ziel ist Profit, andere Inhalte („Be yourself”) sind Simulationen, die die „Erzählung” als Traditionskitt dürftig zusammenhalten. Die Amerikaner sagen dazu sehr treffend „rollercoaster ride”, Achterbahnfahrt.

Ist Achterbahnfahren unmoralisch? Ich denke nicht. Aber ich glaube durchaus, dass Story-Surrogate, „falsche Geschichten”, schädlich sind. Welche Macht unzuverlässige Erzählungen haben, lässt sich am Beispiel der Finanzkatastrophe gut diskutieren. Alle beteiligten „Erzähler” - Banken, Analysten, Ratingagenturen, Wirtschaftsprüfer - haben systematisch Desinformation betrieben, in der Hoffnung, so die eigenen Marktchancen zu verbessern. Und sie haben auch dann noch vom Happy End gesprochen, als der Abgrund längst in Sicht war. Aber kann man das vergleichen? TRANSFORMERS und die Subprime-Krise? Nicht, dass ich die Unterschiede nicht sehen würde, aber vielleicht sind die Gemeinsamkeiten wirklich interessanter. Richard S. Fuld jr. und Michael Bay als zwei Seiten einer Medaille der Veranwortungslosigkeit? Warum nicht.



In the business of burning millions: Michael Bay und Richard Fuld.

In den USA macht seit einiger Zeit ein so genanntes „Responsibility Project” von sich reden. So komme ich eigentlich auf das Thema: Propaganda. Dieses Projekt, „angestossen” oder besser: finanziert und betrieben von dem Versicherungsmulti Liberty Mutual, gibt kurze Filme in Auftrag, die sich jeweils einem Aspekt des Themas „Verantwortung” widmen. Renommierte Regisseure aus dem Mittelfeld Hollywoods, Ron Shelton zum Beispiel, oder Michael Apted, wurden eingeladen, „moralische Miniaturen” zu drehen. Apted erzählt in PARTY GUEST zum Beispiel von einer Frau, die sexy ist, aber den Mann ihrer Träume nicht bekommt, weil er sie dabei beobachtet, wie sie bei Freunden eine Uhr mitgehen lässt. Shelton erzählt in THE HOME RUN eine „wahre Geschichte” von besonderer Fairness bei einem Baseballspiel.

Die Filme sind konservativ in Mitteln und Moral, ohne übertriebene Propagandaeffekte übrigens, und auch wenn klar ist, dass Liberty Mutual wie andere Firmen zuvor über den Umweg eines Themas unser Vertrauen kaufen möchte (ein Vertrauen, das tiefer reicht als die Wirkung normaler Werbung), so habe ich doch keinen Zweifel, dass es Apted und Shelton ernst meinen. Sie sehen sich im Dienst einer „guten Sache”. Die Kommentare auf der Projektseite scheinen auch zu belegen, dass die User, Besucher, Menschen die Filme ernst nehmen, sie nutzen, um über ihr Leben zu reflektieren - und das kann ja nicht schlecht sein, oder? Ist es also „gute Propaganda”?

Das ist die Frage. Ich glaube nicht daran. Und das nicht etwa, weil ich auf Avantgarde abonniert bin oder eine pessimistischere Weltsicht habe. Sondern weil ich glaube, dass jeder seine Kunst verrät, der sie vor den Karren eines Beweises spannen will. Die Filme stellen keine Fragen, folgen keiner lebendigen Neugier, sondern illustrieren eine Antwort, die von Vorneherein feststeht. Das ist zu wenig für die Kunst, zu wenig für das Leben - und qualifiziert sie als Propaganda. Ich glaube „gute Propaganda” kann es nicht geben, allerhöchstens: gut gemachte. Und damit wären wir wieder bei Gillette. „Für das Beste im Mann”. Mindestens.

14 November, 2009

Der Zettel




Gefunden auf der Straße, am 8.11.09 in Berlin.

Thessaloniki Boykott

Das Filmland Griechenland befindet sich in Aufruhr. Eine breite Initiative von Filmemachern quer durch alle Lager, die sich FoG nennt („Filmmakers of Greece”), hat - offenbar erfolgreich - zum Boykott des staatlichen Filmpreises und des Festivals in Thessaloniki aufgerufen. Ziel ist es, die Filmförderpraxis auf eine neue und vor allem transparente Basis zu stellen. Gegenwärtig scheint ein Großteil des (ohnehin sehr begrenzten) Budgets in der Bürokratie zu versickern; bei der Verteilung herrscht Vetternwirtschaft. Deutsche Filmemacher, die nach Thessaloniki reisen, sind aufgerufen, die griechischen Kollegen zu unterstützen.

Hier geht es zur Website der Gruppe - die Mehrzahl der Texte ist auf griechisch.

Update: Regisseur Filipos Tsitos schreibt über die Hintergründe der Bewegung auf Cargo.

12 November, 2009

Einmal um die Welt...

Zum vierten Mal: Around the World in 14 Films im Babylon Mitte (27.11. - 5.12.2009). Bernhard Karls Auswahl seines kleinen „Festivals der Festivals” ist wie jedes Jahr einigermassen willkürlich - und unbedingt sehenswert.

Gezeigt werden neue Filme von Abbas Kiarostami (SHIRIN, Iran 2008), Albert Serra ( EL CANT DEL OCELLS / BIRDSONG, Spanien 2008), Brillante Mendoza ( KINATAY , Phillippinen 2009), Ramin Bahrani (GOODBYE SOLO, USA 2008), Yorgos Lanthimos (DOOGTOOTH, Griechenland 2009) und anderen.

Ausserdem wird Romuald Karmakars VILLALOBOS im Rahmen eines „Spezial Deutschland” (am 3.12.) seine Berlin-Premiere dort feiern.



Ein Bild aus Serras minimalistischer Drei-Königs-Geschichte. Hier der Trailer auf Youtube.

11 November, 2009

Schall und Rauch

Weil wir gerade bei Preisen sind: Kennen Sie den „Club der Berliner Filmjournalisten”? Ich auch nicht, aber dieser Club, der keine Website hat, verleiht jährlich den „Ernst-Lubitsch-Preis”. Markus Tschiedert, laut Tagesspiegel eines der Mitglieder des Vereins, hält dann knappe Laudatios („durch und durch Komödiant”) und überreicht eine „Pan-Statuette” für die „beste komödiantische Leistung im deutschsprachigen Film”. Unter den Gewinnern findet man Namen wie Sönke Wortmann, Harald Juhnke oder Katja Riemann, was erst mal, sagen wir, Geschmackssache ist. Zufällig war ich anwesend, wie der Preis im Februar (im Rahmen des Berlinale-Medienboard-Empfangs) an Til Schweiger verliehen wurde, für KEINOHRHASEN. Um es also kurz zu machen: Der Name ist ein Etikett, das einfach nicht zum Inhalt passen will. Als Verehrer der Filme von Ernst Lubitsch tut mir das weh, um es vornehm auszudrücken. Schmerzen dieser Art haben in Deutschland aber Tradition. Auch die Bernhard-Wicki-, Friedrich-Wilhelm-Murnau- und Max-Ophüls-Preise machen ihren Namen selten Ehre. Warum? Wahrscheinlich ist das Erbe des deutschen Films einfach nicht lebendig. Die große Mehrheit kennt Lubitsch, Ophüls, Murnau gar nicht, weiss nichts von dem Besten, was der deutsche Film je hervorgebracht hat - und kann deshalb auch nicht „Einspruch” schreien...

08 November, 2009

Revolver gewinnt...

Die Filmzeitschrift Revolver , die ich mitherausgebe, hat den DEFA-Preis „zur Förderung des künstlerischen Nachwuchses” gewonnen - wie man hier nachlesen kann. Die Verleihung findet am 20. November im Kino Babylon statt. Wir freuen uns sehr über den Preis - und über jeden, der mit uns feiern will.




P.S.:
Heft 21, das Anfang Dezember erscheint, enthält Beiträge von / mit Thomas Heise, Christophe Gargot, dem Performance-Kollektiv Gob Squad, Apichatpong Weerasethakul und Mark Peranson.

Jean-Pierre + Luc Dardenne in Berlin.

Hinweis:

Am Mittwoch, den 18. November 2009 findet um 20 h im Berliner Arsenal ein Revolver Live!-Gespräch mit Jean-Pierre + Luc Dardenne statt. Die Kollegen Jens Börner und Nicolas Wackerbarth moderieren den Abend unter der Überschrift "Physis, Drama, Märchen”.

Hier der Arsenal-Programmhinweis, dort der Arsenal-Kalender.

(Eintritt: 3 Euro)




Ein Bild aus dem dritten Spielfilm der Brüder Dardenne, dem wunderbaren DER SOHN (LE FILS, B/F, 2002), der auch als Revolver DVD erschienen ist.

07 November, 2009

(Wieder-) Gesehen [1]


POLICE (Maurice Pialat, F 1985)

Eine Empfehlung von Dominik Graf. Unglaublich, die Intensität, das Schauspiel, die Mischung aus Realismus und emotionaler Überhöhung. Depardieu ist hier wirklich ein Gott, gewalttätig, empfindsam, am Leben. Und noch nie habe ich im Kino eine „undurchsichtige” Frau so differenziert gesehen: Sophie Marceau ist fantastisch als pathologische Lügnerin. Für mich eine erschütternde Entdeckung. Unbedingt ansehen!

Auf Youtube gibt es einen sehenswerten Film über die Dreharbeiten: PIALAT, 17 è JOUR DE TOURNAGE, in zwei Teilen: 1 und 2.


HALF NELSON (Ryan Fleck, USA 2006)

Ein ganz neuer Typ von Mann, aus dem Ryan Gosling ein Ereignis macht. Süchtig, klug, auf eine existenzielle Weise einsam - und sehr witzig. Auf eine seltsame Art erinnert mich Gosling an Eroll Flynn (der mich in Walshs SILVER RIVER so begeistert hat).


IL BIDONE (Frederico Fellini, Italien 1955)

Der unversöhnlichste Fellini-Film, den ich kenne. Das Übervorteilen erweist sich als das schäbige Grundprinzip einer ganzen Gesellschaft. Bitter - und überzeugend.


ACCIDENT (Joseph Losey, GB 1967)

Loseys elegantester Film, ganz nahe am Nichts und damit mit Antonionis BLOWUP verwandt; genial montiert von Reginald Beck. Dirk Bogarde ist sensationell. Für mich einer der größten Schauspieler des 20. Jahrhunderts.


THE RECKLESS MOMENT (Max Ophüls, USA 1949)

James Mason, für den ich mich ähnlich begeistern kann wie für Bogarde, spielt hier einen Erpresser, der Gefühle für sein Opfer, Joan Bennett, entwickelt. Ophüls erzählt das zwingend und subtil; aus der Gefahr, die in das Leben der Hausfrau hineinbricht, wird mehr und mehr eine Chance zur Selbsterkenntnis. Am Ende ist es der Erpresser, der unser Mitleid hat. Mit LETTER FROM AN UNKNOWN WOMAN mein Lieblings-Ophüls.