17 Februar, 2020

J'accuse

Notizen zu Roman Polanskis J'ACCUSE (Frankreich 2019). 

Bei der Arbeit: Polanski, Dujardin.

Die erste Merkwürdigkeit: dass sich Polanski nicht für das Leid der Opfer interessiert. Ich verstehe, er will nicht, dass wir aus Sympathie für die richtige Sache sind, wir sollen lernen, das Prinzip zu lieben. Aber warum gibt er sich so große Mühe, Dreyfus als unsympathischen Pedanten zu zeichnen, während er der Ermittlerfigur jede Menge Rabatt gibt? Sein Picquard jedenfalls ist ein allzu fehlerloser Held, und Dujardin hat nicht dass Zeug dazu, die brave Anlage herauszufordern. Er spielt ihn als Denkmal in der Art des Hollywood-Biopics, aber ohne den Charme eines Errol Flynn, und sogar der Antisemitismus der historischen Figur (der gut belegt ist) wird uns so schonend wie möglich beigebracht. Dabei könnte seine Prinzipienfestigkeit dem selben Rassedünkel entsprungen sein wie die antisemitische Korruption seiner Vorgesetzten.* Das würde sein historisches Verdienst nicht schmälern, aber die Erzählung auf einen schmaleren Grat führen, was der Sache gut getan hätte.

Was die filmischen Mittel betrifft, ist Polanski einmal mehr auf Klassizismus aus, manchmal dachte ich, er sucht das filmische Äquivalent zur Salonmalerei, aber dieser Wunsch ergibt nur Sinn, wenn die „Antike“ lebendig wird, finde ich. Hier scheint es sich um ein nostalgisches Projekt zu handeln, das hinter den Spitzen der Vergangenheit auch deshalb zurückbleiben muss, weil der Sauerstoff der Gegenwart fehlt. Und da, wo moderne Mittel zum Einsatz kommen - vor allem in Form digitaler Bildbearbeitung - verstärkt das den reaktionären ästhetischen Charakter noch. Viele Bilder geben ohne Not das Vertrauen auf, das der dokumentarische Gestus sich unwillkürlich erwirbt, etwa wenn die Eröffnungseinstellung zwar möglicherweise wirklich tausend Soldaten als Komparserie aufbietet, aber eine Unzahl an Retuschen die Wirklichkeit der Situation sofort in Frage stellt. Die Regelmässigkeit, mit der sich in dieser Sequenz der wolkenverhangene Himmel in den Fenstern der Militärakademie spiegelt, beleidigt die Erfahrung des Zuschauers. Immer wieder verletzt die digitale Kontrollfreude so die „Ökologie“ des Bildes, ist das Gleichgewicht von belebten und unbelebten Elementen gestört.

Das Kostümbild ist über weite Strecken ein trauriges Nachäffen von Vorbildern, nie wird man das Gefühl los, verkleidete Schauspieler in einem Kostümfilm zu sehen. Anders als bei Tosi oder Canonero scheint es auch nie um das Kostüm als Skulptur zu gehen, die innere Vorgänge sichtbar macht. Ein großes Versäumnis, gerade weil ein großer Teil des Filmes uniformierte Männer in Räumen sitzen und reden lässt, wir also nach Offenbarungen jenseits des gesprochenen Wortes hungern. Und auch das Szenenbild ist vor allem beschäftigt, Postkartenansichten nachzubauen. Das funktioniert mal mehr und mal weniger gut, eine Sequenz in einem Revuetheater gelingt ganz wunderbar, aber nie habe ich das Gefühl, dass sich die gezeigte Welt im Off fortsetzen würde. 

Und wie sauber dieses Paris ist! Fast bin ich geneigt (frei nach Sarkozy) von einer „gekärcherten” Vergangenheit zu sprechen, auch in sozialer Hinsicht übrigens. Die Elenden, Gemeinen, Armen haben keinen Platz in dem Film, den es – und das ist vielleicht sein schlimmstes Versäumnis – nicht wirklich interessiert, einen gesellschaftlichen Zusammenhang zu zeigen, in dem es eben auch Profiteure des Antisemitismus’ gibt zum Beispiel. Zu keinem Zeitpunkt kommen Zweifel darüber auf, dass alles wieder in Ordnung kommen wird, und daran, dass die aufrechten Männer sich durchsetzen werden - was ein seltsames Fazit der historischen Affäre ist, kurz vor Ausbruch des 1. Weltkriegs, in dem die selbe Klasse von „Ehrenmännern” den Kontinent ins Verderben gestürzt hat.

Vor dem Film habe ich mich über das große Orchester gefreut, rein handwerklich gibt es Wenige, die auf diesem Niveau spielen können, zumal in Europa. Aber während (und nach) der Vorstellung kommt mir zu vieles rhetorisch, dekorativ und in seiner politischen Perspektive wohlfeil vor. Der Film ist sehr sehenswert (und ich will ihn bald noch einmal schauen), aber er hätte so viel mehr sein können...

Womöglich hat meine sanfte Enttäuschung nicht nur mit der harten Konkurrenz durch die Erinnerung an den jüngeren Polanski zu tun, sondern auch mit der Begeisterung für einen anderen aktuellen Vorschlag filmischer Geschichtsdeutung, über den ich vielleicht noch Gelegenheit haben werde, ausführlicher zu schreiben: Marco Bellocchios IL TRADITORE (deutscher Kinostart 23.04.), der mich gerade durch die Risiken bewegt hat, die er mit und für seine Hauptfigur eingeht. Auch ein Whistleblower als Held, auch ein Gerichtsfilm, und ein ähnlicher langer Zeitraum, aber Bellocchio verbindet die „große” Geschichte mit der „kleinen” eines ganz spezifischen, empfindsamen Charakters, dem es auf wundersame Weise zu gelingen scheint, mitten im falschen Leben ein richtiges zu finden. Bellocchio, der Modernist, traut sich, die historischen Linien ganz in die Gegenwart des Kinos zu transponieren, und erlaubt es seinem Schauspieler Pierfrancesco Favino, sich die Figur zu eigen zu machen, sie zu erfinden. Es ist diese Freiheit, die Polanskis Film im Vergleich etwas angestaubt wirken lässt.


* (Im Sinne eines „Gerade weil wir besser sind, müssen wir höhere Ansprüche an uns selbst stellen.“)


Edit: Zur 50. Jubiläumsausgabe (6/2021) von Cargo habe ich genau 100 Worte zu IL TRADITORE geschrieben.

Wuchernde wahre Geschichten. Die Fiktion ist die Machete in diesem Dschungel. Sie schlägt Schneisen, damit sich der „Verräter” frei bewegen kann, als könnte man den Wald der falschen Abzweigungen zu einem Garten machen, in dem die Schlange nur eine Frage stellt: „Warum?” Die Regie verbirgt die Anstrengung nicht, die diese Reduktion kostet und nicht immer gelingt es, die Fülle der Tatsachen in Schach zu halten, aber es sind gerade die Narben der Form, die sie beglaubigen. Bellocchio ist Europas letzter Modernist, er fährt im Gefängnis mit dem Fahrrad eine Acht und ich würde ihm nur zu gerne folgen.”