08 November, 2018

Fragebogen (2006)

Bavarotainment:
Berliner Kitschiers:
DDR-Legenden:
Einsame:
Eitle Ikonen:
Engagierte:
Existenzialisten:
Hipster:
Intellektuelle:
Kalte Populisten:
Leute-Regisseure:
Münchner Kitschiers:
Musterschüler:
Naive Populisten:
Realisten:
Routiniers:
Singuläre:
Stilisten:
Übriggebliebene:
Verblasste:
Wilde vom Dienst:
Zerrissene:

Das deutsche Kino, alphabetisch. 2006 (unveröffentlicht).

Lebendiger Zusammenhang von Blicken (2004)

Ein Kino, das radikaler ist. Ein Kino, das populärer ist. Ein Kino, das intelligenter ist. Ein Kino, das sinnlicher ist. Ein Kino, das ernsthafter ist. Ein Kino, das leichter ist. Ein Kino, das gegenwärtiger ist. Abenteuerkino.

Ich war gerade im BE, habe mir Peer Gynt angesehen. Ibsen/Zadek*. Uwe Bohm als ein Abenteurer der Lust, zugleich sensibel und vulgär. Ein Abend voller Leben. 

Vergleichbares gibt es in unserem Kino nicht. Weder sind unsere Rollen so groß, so voll, so sinnlich, noch sind unsere Inszenierungen so unverklemmt und energetisch. Wir sind auch keine so abgefuckten Profis wie Zadek es ist. Wenn ihm nichts einfällt, leiert er einen Trick aus der Kiste, nichts ist zu dumm, darauf kommt es nicht an. Und dann wieder leuchtende Szenen, subtil und durchgeformt. Ich muss an Hawks denken: „Wenn vier Szenen gelingen, und der Rest nicht langweilt, ist der Film gut.” Der Profi weiß, worauf es ankommt, und worauf nicht. Alles mit derselben Sorgfalt (und dem selbem Zittern) zu inszenieren verrät den Anfänger. Und das sind wir doch alle. Wir machen zu wenig. Außer vielleicht Dominik Graf fehlt es uns allen an Übung. Talent ist da. Aber das System will alles richtig machen, will vor Drehbeginn schon jedes Risiko ausschließen. Und wir machen uns zu Komplizen dieser Angst. Godard sagt in seiner wahren Geschichte des Kinos: „Was verkehrt ist beim Kino, etwas, was es sonst nirgends gibt und was ich immer kritisiere, ist, dass die Leute, die Filme machen, es nicht dauernd tun. (...) Kein Pilot, der ein Jahr lang keinen Jumbo geflogen hat, würde einfach wieder den Steuerknüppel in die Hand nehmen und Montreal-Johannesburg fliegen. Aber im Kino ist es das Übliche.” (...)

Die Angst in diesem Land ist unerschöpflich. Seltsam eigentlich. Der Laden läuft doch ganz gut die letzten 60 Jahre. In Ucickys U-Booot-Heldenkitsch MORGENROT heißt es: „Wir Deutschen, wir verstehen vielleicht nicht zu leben, aber sterben können wir ganz fabelhaft.” Seit das Sterben nicht mehr im Angebot ist, fällt das Leben nicht leichter. Aber genau das müssen wir tun: Mit und in unseren Filmen leben, im Leben Filme machen, über das Leben, vom Leben aus. Lebendig.

Ich sehne mich nach einem Ausdruck, der unmittelbar ist, ohne Falsch, ohne Scham, ohne Umweg. Nach einer Arbeit, die Fleisch und Blut ist, die durch den Körper geht. Das Filmemachen soll zu einer organischen Bewegung werden, von der Idee zur Ausführung und zurück. Der neue Film muss aus der Asche des letzten entstehen können, noch bevor sie erkaltet. Nur so kann man wirklich lernen.

Das, was man in Hollywood „development hell” nennt, ist in Deutschland ein Köcheln auf kleinster Stufe, eine Warteschleife mit Programmempfehlungen. Das Fleisch löst sich so langsam vom Knochen, dass man es kaum noch merkt. Im Kino dann, oder vor der Kiste, fällt auf, dass die Unmittelbarkeit fehlt, die Anmaßung, die Frische. Es fehlt also das einzige, was billig zu haben ist, was wir den großen Maschinen voraus haben könnten. Ein Jammer.

Das Entscheidende ist der direkte Zusammenhang von Neugier und Herstellung. Jeder Masterplan ist entweder ein falsches Versprechen oder die bewusste Vergewaltigung der Dreharbeiten zu einer Ausführung von Arbeitsanweisungen. Beides ist wertlos.

Was mir vorschwebt ist ein Film, der nur Film ist. Unbeschreiblich. In kein anderes Medium übersetzbar. Nicht Sprache, nicht „Bild”, sondern ein lebendiger Zusammenhang von Blicken. 


2004 für den Filmdienst geschrieben, 2018 leicht gekürzt. * Über Zadeks Arbeit an dem Stück gibt es auch einen Film.

02 November, 2018

(Wieder-) Gesehen [10]


SZERELEM (Károly Makk, Ungarn 1971)


Ein Film, der vom Hoffnung-machen und also vom Erzählen handelt: Luca (Mari Töröcsik) schreibt in falschen Luftpostbriefen statt von der (politisch motivierten) Haft ihres Mannes sarkastisch-liebevolle Lügengeschichten, denen die Schwiegermutter, der die Demenz nichts von ihrem Stolz geraubt hat, gierig lauscht. Die Montage betont Details, und setzt sie immer wieder neu zusammen, als käme es (Anti-Marx!) nicht auf die Veränderung, sondern nur auf die Interpretation der Welt an. Das soll nicht heissen, dass Makk die stalinistische Willkür ausblendet, er zeigt, wie Angst und Opportunismus blühen im Ungarn der frühen 50er, und Lucas Schmerz ist zentral für die Geschichte, aber der Ton bleibt leicht, wie eine süße Vergegenwärtigung der eigenen Jugend, und das Schöne, auch die burleske Erfindung, wirkt letztlich realer als die anonyme Gewalt des Staates.




ALLES IST GUT (Eva Trobisch, D 2018)


Weil allenthalben „Regie-Hoffnungen” ausgerufen werden im deutschen Film: auf Eva Trobisch muss nicht gewartet werden, sie ist schon da. Und wie. Selten habe ich ein so souverän erzähltes Debüt gesehen. Janne (großartig: Aenne Schwarz) ist eine Frau, die so tut, als ob nichts wär' – auch wenn was ist. Mit dieser blinden Dedramatisierung überfordert sie sich und andere, und die Hebelwirkung des Gefühls nimmt mit der Dauer der Verdrängung immer weiter zu. Ein bisschen verhält sich auch der Film wie Janne, den Aus- oder Zusammenbruch jedenfalls verweigert er, und ist so gewissermassen Diagnose und Symptom, was vielleicht auch erklärt, warum er kein ganz überzeugendes Ende findet. So oder so, ein toller Film.




AUDITION (Takeshi Miike, Japan 1999)

Ein Filmproduzent benutzt ein Casting als Vorwand, eine neue Frau kennenzulernen. Die Kandidatinnen zeigen sich bereitwillig, erzählen Intimes, singen und tanzen, in der Hoffnung auf die Rolle. Schnell verengt sich sein Interesse auf eine junge Schöne, deren Andeutungen über das schwere Leid, das sie als Kind erfahren hat, Retterfantasien in ihm auslösen – aber vielleicht geht auch nur darum, das ungute Gefühl bezüglich der unmoralischen Täuschung und des enormen Altersunterschieds loszuwerden. Der Film macht uns zu Komplizen des obszönen Machtgefälles, aufgekratzt von süsslich-leichter Musik lassen wir uns die Privilegien lange gefallen, bevor sich die Gewalt dann Bahn bricht. Zugleich wird die Erzählung, die sich 90 Minuten in konventionellen Bahnen bewegt hat, unzuverlässig. Wird die Frau wirklich zur Agentin des Schmerzes, zur Rächerin mit der Knochensäge, zur Stahlfadennäherin, die Nadeln durch Knochen und ins Auge sticht? Oder sind das Projektionen des schlechten Gewissens? Der Racheakt, der die „Ehrlichkeit” des Schmerzes beschwört, wird jedenfalls filmisch sehr explizit. Viele haben das Kino während dieser Szenen verlassen, aber ich habe den Blutzoll als überfällig, die Härte als notwendig empfunden. 




Das Storyboard und die Umsetzung einer der elaborierten Splitscreen-Sequenzen.

THE BOSTON STRANGLER (Richard Fleischer, USA 1968) 

Ein überraschend differenzierter Schocker, der einen authentischen Kriminalfall in virtuosen Split-Screen-Sequenzen aufblättert. Im Netzauge des Films und in Tony Curtis' elektrisierender Darstellung der gespaltenen Persönlichkeit des Killers scheint eine gefährlich unbewusste Gesellschaft auf, gefangen in Wiederholungen und unfähig, sich selbst zu konfrontieren. Henry Fondas Sonderermittler ist dabei so aufregend minimalistisch, sein Spiel so frisch, als hätte es die zehntausend Kommissarfiguren vor und nach ihm nie gegeben. Meisterwerk.




ANGST (Gerald Kargl, Österreich 1983)

Ein schizophrener Film. Mehr oder weniger in Realzeit und ganz umweglos sehen wir den wahren Fall eines Triebtäters, der am Tag seiner Entlassung aus dem Gefängnis eine Reihe zufällig ausgewählter Menschen quält und tötet. Das seltsam blecherne Voiceover – weniger innerer Monolog als Selbstdarstellung – verbindet sich kaum je mit dem Geschauten und erinnert an den Audiokommentar einer DVD, nur dass hier nicht der Regisseur, sondern der Mörder spricht. Zugleich geschehen auf der visuellen Ebene des Films Wunder. Die Kamera des genialen Tüftlers Zbigniew Rybczyński (TANGO) folgt einer transzendentalen Logik, über Spiegel oder an Seilen geführt kommt sie wieder und wieder zu nie gesehenen Bildern und man fragt sich, was zu gewinnen ist, die sadistischen Verrichtungen der Hauptfigur so sehen zu können. Im Abstand zwischen Bild-und Handlungslogik jedenfalls liegt für mich die größte Faszination des Films.





ONE-EYED JACKS (Marlon Brando, USA 1961)


Brandos einzige Regiearbeit ist ein früher Spätwestern. Der Drang nach Westen hat im Pazifik seinen letzte Grenze gefunden; weil die Männer vor dem Gesetz nicht mehr in die Wildnis fliehen können, müssen die Verwilderten zum Gesetz werden. „Dad” Longworth (Karl Malden) hat das verstanden, er ist jetzt Sheriff und fügt sich in seine neue Rolle auch deshalb so gut, weil Doppelmoral seit jeher ein Synonym für Bürgertum ist. Brando spielt Rio, Dads alten Kumpan, der nach fünf Jahren Haft nur noch für die Rache lebt. Sein Erscheinen ist Wind auf die Glut des schlechten Gewissens. Gerade weil Dad weiss, dass er den Freund in größter Not im Stich gelassen hat, besteht er umso vehementer auf dem Gegenteil. Es ist dieser Widerspruch, der sich als Gewalt entlädt, mit Peitschenschlägen auf Rios Rücken, dem Gewehrkolben auf seiner Schusshand. Aber Brando reicht diese Männergeschichte nicht. Dads Stieftochter, schmerzhaft ehrlich gespielt von Pina Pellicier, weitet den Western zum Melodram, denn von ihr lernt Rio, dass es noch einen dritten Weg geben könnte: die Liebe. Mir gefällt an dem Film vieles, vor allem aber die barocke Form, das Überreife, zerdehnte. 


Siehe auch: Das Schnitzel.