08 November, 2018

Lebendiger Zusammenhang von Blicken (2004)

Ein Kino, das radikaler ist. Ein Kino, das populärer ist. Ein Kino, das intelligenter ist. Ein Kino, das sinnlicher ist. Ein Kino, das ernsthafter ist. Ein Kino, das leichter ist. Ein Kino, das gegenwärtiger ist. Abenteuerkino.

Ich war gerade im BE, habe mir Peer Gynt angesehen. Ibsen/Zadek*. Uwe Bohm als ein Abenteurer der Lust, zugleich sensibel und vulgär. Ein Abend voller Leben. 

Vergleichbares gibt es in unserem Kino nicht. Weder sind unsere Rollen so groß, so voll, so sinnlich, noch sind unsere Inszenierungen so unverklemmt und energetisch. Wir sind auch keine so abgefuckten Profis wie Zadek es ist. Wenn ihm nichts einfällt, leiert er einen Trick aus der Kiste, nichts ist zu dumm, darauf kommt es nicht an. Und dann wieder leuchtende Szenen, subtil und durchgeformt. Ich muss an Hawks denken: „Wenn vier Szenen gelingen, und der Rest nicht langweilt, ist der Film gut.” Der Profi weiß, worauf es ankommt, und worauf nicht. Alles mit derselben Sorgfalt (und dem selbem Zittern) zu inszenieren verrät den Anfänger. Und das sind wir doch alle. Wir machen zu wenig. Außer vielleicht Dominik Graf fehlt es uns allen an Übung. Talent ist da. Aber das System will alles richtig machen, will vor Drehbeginn schon jedes Risiko ausschließen. Und wir machen uns zu Komplizen dieser Angst. Godard sagt in seiner wahren Geschichte des Kinos: „Was verkehrt ist beim Kino, etwas, was es sonst nirgends gibt und was ich immer kritisiere, ist, dass die Leute, die Filme machen, es nicht dauernd tun. (...) Kein Pilot, der ein Jahr lang keinen Jumbo geflogen hat, würde einfach wieder den Steuerknüppel in die Hand nehmen und Montreal-Johannesburg fliegen. Aber im Kino ist es das Übliche.” (...)

Die Angst in diesem Land ist unerschöpflich. Seltsam eigentlich. Der Laden läuft doch ganz gut die letzten 60 Jahre. In Ucickys U-Booot-Heldenkitsch MORGENROT heißt es: „Wir Deutschen, wir verstehen vielleicht nicht zu leben, aber sterben können wir ganz fabelhaft.” Seit das Sterben nicht mehr im Angebot ist, fällt das Leben nicht leichter. Aber genau das müssen wir tun: Mit und in unseren Filmen leben, im Leben Filme machen, über das Leben, vom Leben aus. Lebendig.

Ich sehne mich nach einem Ausdruck, der unmittelbar ist, ohne Falsch, ohne Scham, ohne Umweg. Nach einer Arbeit, die Fleisch und Blut ist, die durch den Körper geht. Das Filmemachen soll zu einer organischen Bewegung werden, von der Idee zur Ausführung und zurück. Der neue Film muss aus der Asche des letzten entstehen können, noch bevor sie erkaltet. Nur so kann man wirklich lernen.

Das, was man in Hollywood „development hell” nennt, ist in Deutschland ein Köcheln auf kleinster Stufe, eine Warteschleife mit Programmempfehlungen. Das Fleisch löst sich so langsam vom Knochen, dass man es kaum noch merkt. Im Kino dann, oder vor der Kiste, fällt auf, dass die Unmittelbarkeit fehlt, die Anmaßung, die Frische. Es fehlt also das einzige, was billig zu haben ist, was wir den großen Maschinen voraus haben könnten. Ein Jammer.

Das Entscheidende ist der direkte Zusammenhang von Neugier und Herstellung. Jeder Masterplan ist entweder ein falsches Versprechen oder die bewusste Vergewaltigung der Dreharbeiten zu einer Ausführung von Arbeitsanweisungen. Beides ist wertlos.

Was mir vorschwebt ist ein Film, der nur Film ist. Unbeschreiblich. In kein anderes Medium übersetzbar. Nicht Sprache, nicht „Bild”, sondern ein lebendiger Zusammenhang von Blicken. 


2004 für den Filmdienst geschrieben, 2018 leicht gekürzt. * Über Zadeks Arbeit an dem Stück gibt es auch einen Film.

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