13 November, 2010

(Wieder-) Gesehen [2]


BUONGIORNO, NOTTE (Marco Bellocchio, I 2003)

Eine „wahre” Geschichte, die sich von den Tatsachen nicht einschüchtern lässt, ein Film jedoch, dessen poetische Erfindungen nicht gegen die Dimension des Politischen arbeiten, sondern für sie. Erschütternd, der Moment, in dem Chiara (Maya Sansa), deren Perspektive den Film führt, die Symmetrie des Terrors von links und rechts begreift. Genial: der Einsatz der Musik, von Verdi bis Pink Floyd.


IL DIVO (Paolo Sorrentino, I 2008)

Sorrentino ist ein virtuoser Arrangeur rhythmischer Effekte, er reiht Ausrufezeichen an Ausrufezeichen, will radikal, enthüllend, überwältigend sein. Aber sein Andreotti ist eine leblose Karikatur, seine Beschreibung italienischer Politik nebulös. Von der politischen und gedanklichen Schärfe Bellocchios ist er weit entfernt. Jede Einstellung schreit „Bravura”, beweist aber nur sich selbst. Das Ergebnis ist ein großer Bahnhof filmischer Mittel, die ziellos bleiben. Ärgerlich.


CARLOS (Olivier Assayas, F 2010)

Noch ein „Politfilm”, gerade im Kino. Assayas' elegante Regie wird zurecht gelobt, aber unbefriedigend bleibt für mich die additive Dramaturgie, die nie wirklich über das Beweisbare hinauswill und jenseits des journalistischen keine politische Idee entwickelt - und nicht zuletzt Carlos selbst, durchaus überzeugend gespielt von Édgar Ramírez, aber als Charakter ein leeres Zentrum, in der Summe seiner Taten unbestimmt.


THE FURIES (Anthony Mann, USA 1950)

Halb blühender Unsinn, halb geniale Charakterstudie, die sich an und mit Barbara Stanwyck entzündet, die hier leuchtet wie selten. Ich weiss nicht, ob ich Robin Wood zustimmen kann, der (im Booklet der Criterion-DVD) schreibt, der Film gewinne mit seinen Fehlern zusätzlich an Faszination; in jedem Fall können die Untiefen den Höhepunkten dieser unbequemen Mischung aus Western und Melodram nichts anhaben.


CARRIE (Brian De Palma, USA 1976)

Für mich De Palmas überzeugenster Film, der im Horror nur Komödie sehen kann (und umgekehrt), in den gesuchten Überhöhungen (extreme Zeitlupe, Sternfilter usw.) kein Mass kennt, im Exzess seiner Mittel aber so bewusst und so lächerlich ist, dass ein „einfacher” Konsum fast unmöglich scheint. Amerikanische Dialektik, mit einer großartigen Sissy Spacek.


KLARAS MUTTER (Tankred Dorst, D 1978)

Es wäre interessant, De Palmas Film im Double Feature mit Dorsts in jeder Hinsicht komplementären Debüt zu sehen, der eine verwandte Geschichte erzählt (die starke Mutter, die sich gegen die Gesellschaft stellt, die Tochter, die unter der Differenz - in die sie hineingeboren wurde - leidet; die Eifersucht zwischen den Frauen, die Sehnsucht der Kleinstadt nach einem Umsturz, und wie er sich gegen sie selbst wendet, das Schweineblut und das wirkliche ...), aber - mit „europäischer Sensibilität” - etwas ganz anderes erreicht.

*


Passt in diesen Reigen mehr oder weniger politischen Kinos:


UNITED RED ARMY (Wakamatsu Koij, J 2007)

Siegen lernen

Stellen wir uns folgende Situation vor: Die Spitzen eines Unternehmens sind in einer Berghütte zusammengekommen, um in der Abgeschiedenheit eine radikale Strategie zu beschliessen, die den Markt aufmischen und vor einer feindlichen Übernahme schützen soll. Die Klausur wird flankiert von einer Art paramilitärischem Training, um die Teilnehmer auch körperlich auf den erwarteten „totalen Krieg” vorzubereiten. Solcherart konditioniert wird aus der Fehlersuche – eine Reihe von Zielvorgaben sind im letzten Quartal unterschritten worden – eine mörderische Angelegenheit. Vermeintliche „Versager” werden psychologisch demontiert und schliesslich körperlich attackiert. Nach und nach kommen so 14 junge Führungskräfte zu Tode.

Der Film JITSUROKU: RENGO SEKIGUN ASAMA SANSO E NO MICHI (United Red Army) handelt natürlich nicht vom Wirtschaftskrieg, sondern von einer radikalen linken Gruppierung in Japan, die sich im Februar 1972 einer mörderischen „Selbstkritik” unterzogen hat, bevor sie von der Polizei entdeckt und in einer zehn Tage dauernden Belagerung überwältigt wurde. Aber die Parallelen zur Rhetorik von Effizienz und Aggression, die uns heute täglich serviert wird, sind unübersehbar.

Zur Erinnerung: „Die Angestellten des Technocentre von Renault bei Paris stehen unter Schock. Sie erfuhren am Dienstag, dass sich einer ihrer Kollegen, ein 38-jähriger Ingenieur, am Freitag in seiner Wohnung erhängt hat. Er arbeitete an dem neuen Modell Laguna, das im nächsten Jahr auf den Markt kommen soll. Dies ist bereits der dritte Angestellte des Technocentres, der sich innerhalb der letzten vier Monate umgebracht hat.” (Aus einem Artikel von Fabian Kröger)

In einer Szene wird eine junge Frau, die auffällig geworden war, weil sie sich an den paramilitärischen Übungen nur halbherzig beteiligt hat, über ihre Motive befragt. „Warum hast du dich heute geschminkt?” „Warum hast du die Kleidung gewechselt?” „Warum bist du hier?” heisst es wieder und wieder – und das Verrückte ist, dass durch die inquisitorische Insistenz nach einer Weile wirklich jede Handlung und jede Antwort verdächtig erscheint.
Die stalinistische (oder maoistische?) Praxis der „Selbstkritik” ist der dunkle Strom, der das vermeintlich so rationale Gebäude der kommunistischen Revolution, von der so viel die Rede ist, unterspült und zum Einsturz bringt. Während die jungen Aktivisten in Phillippe Garrels LES AMANTS RÉGULIERS (F 2005) zum Beispiel selbstdarstellerisch von der Liebe sprechen / das Sprechen lieben, wird die Kommunikation hier zu einer Art ritueller Autoaggression, die alles Individuelle ausmerzen soll.

(Geschrieben für das DIE ZEIT Berlinale Blog 2008).

2 Kommentare:

  1. ich würde ihnen ja empfehlen, diesen artikel -als link- genau so als exposé bei einer filmförderung einzureichen. das hätte eier.
    ich würde den dazugehörigen film jedenfalls sehr gerne sehen.
    [natürlich weiß ich, dass keine institution ihnen dafür einen penny geben würde] aber die utopie ist die einzige wahrheit die wir haben.

    J.G.

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  2. Ich verstehe nicht, wie das gemeint ist. Auf welchen „Artikel” bezieht sich das?

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