18 November, 2016

Magnetsinn

René Magritte: La Reproduction interdite (1937)

Mein Vater hat einmal einen Erlebnisbericht zu einem Buch beigesteuert, in dem es um das Wirken von Schutzengeln ging. Ganz unironisch. Seine Geschichte handelt davon, wie er als Kind, beim Schlittenfahren auf Münchens Schuttbergen, einer plötzlichen Eingebung folgend sich von seinem Stammberg entfernte, um eine Abfahrt auf einem anderen, eigentlich ungeliebten Hügel zu versuchen. Diese „Entscheidung” hat ihm möglicherweise das Leben gerettet, denn der vertraute Hügel brach nur Momente später in sich zusammen und begrub einige Schlittenfahrer unter sich.

Ich glaube nicht an Schutzengel, aber mein Verhältnis zu Wegen, die ich häufig gehe, etwa von der Kita meines Sohnes zu meinem Büro, ist von solchen „Eingebungen” nicht frei. Immer wieder passiert es, dass ich eine bestimmte Route meide, die Straßenseite wechsle, Umwege in Kauf nehme, aus einem nicht näher bestimmbaren Magnetsinn heraus. Ich warte durchaus nicht darauf, dass ein Unglück meine Ahnungen bestätigt, eher fühle ich mich wie ein Schwimmer im Strom der Zeit, der versucht, sich in den sauerstoffreichen Wirbeln zu halten. 

Vielleicht ist mir die Figur des Kutusow in Tolstois geschichtspolitisch so fein schattiertem Roman Krieg und Frieden deshalb so nahe gegangen: sein Genie scheint nichts weiter zu sein als die Fähigkeit, der Vorsehung nicht im Wege zu stehen. Während die brillanten Pläne des Feindes bei Tolstoi an der Trägheit der Wirklichkeit zerschellen, führt Kutusow die in jeder Hinsicht unterlegenen russischen Truppen zum Sieg, indem er sich eben dieser Trägheit ergibt. In der Regiearbeit ist es mitunter ähnlich, glaube ich. Die brillanten Einfälle sind oft zu unbescheiden der Wirklichkeit gegenüber; die größten Geschenke werden einem zu Teil, wenn man aufhört, sie zu fordern.

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